Die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 sieht eine enge Definition des Begriffs «Flüchtling» vor. Sie ist ein Ausdruck von fortgesetztem Kolonialismus und braucht dringend eine zeitgemäße Reform.
Seit der russischen Invasion in die Ukraine findet neben zahllosen Willkommensbekundungen und Verurteilungen des Krieges parallel, aber im Schatten dieser Kraftanstrengung eine Debatte um den strukturellen Rassismus in der Flucht- und Migrationspolitik statt: → Die Rechte von weißen Flüchtenden würden über diejenigen von Menschen aus afrikanischen Ländern und als muslimisch gelesenen Flüchtenden eingeordnet. Reportagen und Talkrunden haben dafür etliche Beispiele zu Tage gefördert. Besonders die Aktivierung der EU-Richtlinie 2001/55/EG («Massenzustrom-Richtlinie»), die Staatsangehörigen der Ukraine pauschal Privilegien im Aufenthaltsrecht, beim Zugang zum Arbeitsmarkt und zu sozialer Absicherung gewährt, hat viele kritische Reaktionen ausgelöst, weil selbst Menschen aus der Ukraine, die nicht im Besitz der ukrainischen Staatsangehörigkeit sind, von diesen Privilegien ausgeschlossen sind, obwohl sie vor demselben Krieg flüchten.
Die Richtlinie stammt aus dem Jahr 2001, wurde aber nun zum ersten Mal in Kraft gesetzt, obwohl es in den letzten 21 Jahren zahllose andere Anlässe gegeben hätte, einen gruppenspezifischen humanitären Schutz zu ermöglichen – nicht nur im Kontext der Fluchtbewegungen um das Jahr 2015. Stattdessen geschah das Gegenteil: Italien und Griechenland hatten 2015 die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vorübergehend ganz außer Kraft gesetzt, Deutschland setzt seitdem auf unscharfe Begriffe wie «gute» oder «schlechte Bleibeperspektive», auf «sichere Herkunftsstaaten» und andere Kategorien, die verhindern sollen, dass «2015 sich wiederholt». Diese Abwehr von Schutzsuchenden wirkt sich selbst auf weiße Menschen aus der Ukraine aus: Bis heute erfolgt die Unterbringung der allermeisten Menschen privat – und dort, wo sich der Staat zuständig fühlt, sind es oft Provisorien, die ja nicht auf Dauer ausgelegt sein sollen.
Viele Menschen aus nicht-europäischen Ländern warten in der Bundesrepublik und in anderen EU-Mitgliedsländern unterdessen auf Schutz und eine Perspektive. Die Bedingungen, unter denen Millionen Menschen in der Türkei und anderen Mittelmeeranrainern jahrelang auf ihre Umverteilung durch den UNHCR warten, finden sich fast gar nicht in hiesigen Debatten wieder.
Die Sortierung nach Wertigkeit folgt einer Kontinuität, die ihre Hauptursache im Kolonialismus hat. Es soll nur ausgewählten Gruppen und Individuen Zugang zur EU gestattet werden. Die Rechtsordnung im Bereich Flucht, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, ist Ergebnis und fast bruchlose Fortsetzung von Bedingungen, wie sie lange vorher herrschten. Das noch vom Krieg geprägte Nord- und Westeuropa sollte schnell wieder eine «zivilisatorische Macht» werden und im Wettkampf der Systeme, der den Kalten Krieg prägte, weiterhin auf Seite des «Westens» stehen. Das Recht auf Asyl, wie es im Grundgesetz, aber auch in internationalen Abkommen kodifiziert wurde, existiert nicht einfach so. Es wurde vor einem konkreten Hintergrund und mit bestimmbaren Zielen und Interessen hergestellt und durchgesetzt.
Die kolonialismus- und rassismuskritische Forschung der letzten 30 Jahre beleuchtet die Entstehungsgeschichte des westeuropäisch-internationalen Flüchtlingsrechts aus kritischer Perspektive. Vor allem rechtswissenschaftliche Arbeiten schlussfolgern, dass die Rechtsentwicklung in (West- und Nord-) Europa immer eigene wirtschafts- und geopolitische Interessen im Fokus hatte – anstatt, wie es im hiesigen Diskurs gern wiederholt wird, ein universelles humanitäres Schutzsystem für alle auf Grundlage der Menschenrechte. Eine aktuelle Studie der britischen Soziologin Lucy Mayblin etwa belegt, dass insbesondere das Vereinigte Königreich als aktive Kolonialmacht bei den Verhandlungen in Genf forderte, die Schutzansprüche von Flüchtenden aus den Kolonien europäischer Staaten nicht zu berücksichtigen. Aber auch andere Kolonialmächte und Staaten des Globalen Nordens forderten bei den Verhandlungen unter dem Dach der neugegründeten Vereinten Nationen eine enge Definition.
Tatsächlich setzte sich vor 71 Jahren eine zeitlich und geografisch eingegrenzte Definition durch, die sich auf «Ereignisse, die vor dem 1. Januar 1951 in Europa eingetreten sind» (Art. 1 GFK) bezieht. Es war also von vornherein die Absicht, europäische Weltkriegsgeflüchtete, zum anderen Menschen, die die UdSSR und ihren Einflussbereich verlassen wollten, zu schützen. Das «bessere System» sollte ein Zufluchtsort für Ausgewählte sein. Dem Zeitgeist folgend, haben es auch geschlechtsspezifische Fluchtgründe nicht in die GFK geschafft: Die Genfer Norm sind nach wie vor flüchtende Männer.
Die zu diesem Zeitpunkt bereits formal unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien, die auch bei den Verhandlungen in Genf anwesend waren, kritisierten die Definition – wie der Delegierte aus Pakistan. Nur deshalb kam es 1967 zum «Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge», in dem die geografischen und zeitlichen Einschränkungen aufgehoben wurden. Ist die GFK aber deswegen weniger westeuropäisch-weiß geprägt?
Patricia Tuitt, Rechtswissenschaftlerin an der Londoner Birkbeck University, stellt fest, dass der GFK selbst mit diesem Zusatz noch ein «exilic bias» innewohnt: Der Begriff Konventionsflüchtling wird bis heute eng gefasst, so müssen sich Schutzsuchende etwa außerhalb des Herkunftslandes (im «Exil») befinden. Damit wird eine illegale Einreise in ein anderes Land zur Bedingung für wirksamen Schutz gemacht.
Deswegen, schreibt Tuitt, werden Menschen, die vor Bürgerkriegen fliehen, selten als Konventionsflüchtlinge angesehen. Weil sie nicht im Exil sind, lautet die Annahme, dass sie auch nicht vor staatlicher Verfolgung fliehen, obwohl sie «De-facto-Flüchtlinge» sind. Solche rechtlichen Unsicherheiten führten dazu, dass einige Länder des Globalen Südens eigene Konventionen formulierten und umsetzten.
Das prominenteste Beispiel dafür ist die → Organisation für Afrikanische Einheit («Convention Relating to the Specific Aspects of Refugee Problems in Africa», 1969). Darin ist «Flüchtling» wesentlich weiter definiert, Aufnahme und Resettlement werden viel weniger restriktiv geregelt. Die Konvention gewährt gruppenspezifischen Schutz beispielsweise in Fällen von Naturkatastrophen, Hungersnöten und Bürgerkriegen. Es wird nicht zur Bedingung gemacht, sich im Ausland zu befinden.
Die Konvention der OAE trat am 20. Juni 1974 in Kraft, das Datum, auf das der Weltflüchtlingstag zurückgeht. Die südamerikanische Cartagena-Erklärung von 1984 folgt dem Beispiel der OAE-Konvention. Viele mehrheitlich muslimische Staaten haben die GFK gar nicht erst unterzeichnet. Sie berufen sich stattdessen auf Traditionen der islamischen Rechtsprechung. Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ) etwa formulierte 1990 in Artikel 12 der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, dass alle Menschen ein Recht auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit haben. Dieses Recht umfasst explizit auch das Recht auf Asyl. Den Orientierungspunkt dafür liefert das «Hidschra»-Gesetz, das auf die Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina zurückgeht.
Die postkoloniale Rechtsforschung und Rechtspraxis belegen, dass es eine inter- und transnationale Auseinandersetzung um die rechtliche Definition von «Flüchtling» gibt, aber auch um Fragen der Aufnahme, des Schutzes und der Operationalisierung von Asylverfahren. Es gibt also wesentlich mehr als ein Rechtskonzept von «Flüchtling» und «Asyl».
Weltweit durchgesetzt hat sich trotzdem ein Regime, das auf der west-europäisch geprägten GFK beruht. Die Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Dana Schmalz konstatiert, dass in und mit der GFK eine ausschließende Auswahl getroffen werde. Es zähle nicht das Schutzersuchen eines jeden Menschen, sondern der Globale Norden, vor allem die Europäischer Union, entscheide entlang (neo-) kolonialer geopolitischer Interessen, wer schutzbedürftig ist – und vor allem: wer nicht. Asylpolitik und -praxis sind jenseits humanitärer Hilfe immer noch verbunden mit einem Kalkül, das wirtschaftliche, geopolitische und demographische Erwägungen in den Vordergrund stellt. Wer Schutz bekommt, soll die vorherrschenden Narrative (christlich-jüdisch, weiß, «demokratisch», «zivilisiert») bestätigen und im Rahmen aktueller wirtschaftlicher Interessen nutzbar sein. Das hat sich seit der UN-Sonderkonferenz in Genf, wo die GFK am 28. Juli 1951 verabschiedet wurde, nicht geändert.
Eine Weltordnung, die sich der Geschichte des europäischen Imperialismus und Kolonialismus stellt, bräuchte nicht nur in Bezug auf Produktions-, Handels- und Lieferketten eine gründliche Entkolonialisierung, sondern auch im Migrationsregime. Solange für einen Großteil der Weltbevölkerung das Asylrecht der einzige (wenn auch viel zu oft: unsichere) Weg ist, das eigene Land zu verlassen, werden die kolonialen Kontinuitäten der GFK globale Schieflagen eher bestätigen als aufheben.
Weil all dies aber ohne Druck aus der Zivilgesellschaft nicht passieren wird, kämpfen migrantische, rassismuskritische und dekoloniale Initiativen hierzulande und weltweit für ein Migrationsrecht, das historisches Unrecht kompensiert, aber auch für Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, die auf einem komplett anderen Fundament stehen. Unsere Arbeit im Migrationsrat Berlin, einem Dachverband migrantischer Organisationen in Berlin, ist Teil dieses Kampfes. Tagtäglich erleben wir, wie selektiv und ungerecht das Asylsystem ist. Um mit diesen Widersprüchen umzugehen und trotzdem Bleibeperspektiven zu ermöglichen, haben wir und andere seit Jahrzehnten Widerstandsstrategien entwickelt.
Es spricht nichts dagegen, Menschen aus der Ukraine das Minimum eines menschenwürdigen Lebens zur Verfügung zu stellen – im Gegenteil. Es sprechen aber Jahrhunderte der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen, Versklavung, Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, der Einsetzung von gegen die Bevölkerung gerichteten Regimen und vieles mehr dafür, den Preis des eigenen Wohlstands zur Kenntnis zu nehmen, wie auch diejenigen, die den Preis bisher zahlen. Das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, gerade wenn es nur außerhalb des eigenen Landes ermöglicht werden kann, braucht ein Migrationsrecht, das alle gleich gut behandelt. Ein Bewegungs- und Bleiberecht für alle.
Dieser Text ist → am 26. Juli 2022 in MiGAZIN erschienen.