Ich kann verstehen, dass Menschen einen Sehnsuchtsort «Heimat» nennen. Wenn sie von einem Ort vertrieben wurden und im Exil leben, wenn Diaspora das einzige ist, was sie kennen, wenn der Ort, am dem sie ihr Leben verbracht haben, unwiederbringlich zerstört ist, wenn die Unbehaustheit das ist, was bleibt – oder wenn der angestammte Ort zwar keine Fremde ist, man aber behandelt wird wie ein_e Feind_in, weil der Mehrheit das Aussehen, der Name, die Sprache, das Gebet oder das Gewürz im Abendessen nicht bekommt. Wenn der Geburtsort ganz offenbar von anderen für andere betrieben wird.
Ich kann erahnen, dass das Erleben von Entfremdung – persönlich oder kollektiv – in «Heimat» resultiert – weil Heimstatt fehlt (oder weil «Heimat» für etwas steht, das fehlt). Wenn ich eine Sehnsucht habe, die in der Kindheit hätte erfüllt werden müssen, und sie begleitet mich ein Leben lang – dann verstehe ich das Verlangen nach «Heimat» ein bisschen, und zwar als Bedürfnis, als Durst, als Hunger.
«Ich habe manchmal Heimweh. Ich weiß nur nicht, wonach», schrieb Mascha Kaléko 1945, im «Emigranten-Monolog», denn so notwendig die Erinnerung ist, so unmöglich ist manchmal der Rückweg. Es mag vielleicht niemals einen Weg zurück geben – es kommt vielleicht immer nur ein künftiger Ort in Frage, einer, der noch gar nicht existiert.
All das kann ich verstehen oder zumindest seine Existenz akzeptieren. Ich teile nicht das Bedürfnis, das mich zuerst und am meisten an den Muff der deutschen «Heimatvertriebenen», ihre Folklore und ihre widerliche Musik denken lässt, aber ich kann es gelten lassen. Vielleicht, weil so etwas wie eine klassenlose Gesellschaft für mich etwas Ähnliches ist, wie anderen eine utopische «Heimat».
Was ich aber nicht gelten lassen kann, ist «Heimat» im Mund von solchen, die weder im Exil oder in der Ferne noch als Zweite-Klasse-Menschen leben. Im Mund von denjenigen, die sich nach dem «ursprünglichen» Leben sehnen, obwohl sie eigentlich nur die immer selben Fußgängerzonen verachten, wo das größte Problem ist, dass der Sieben-Euro-Kaffee in der Ketten-Filiale immer gleich schmeckt und die Schlüppa von H&M immer identisch aussehen. «Individualität», «Kiezkultur» und «-charme» und Biomärkte, auf denen glückliche Eltern fröhlich-gesunder Kinder verschrumpeltes Gemüse kaufen: Diese Heimat stinkt. Es braucht kein Seehofer-Ministerium, um zu verstehen, dass es auch falsche Wege aus der Anonymisierung, Schablonisierung und Entfremdung gibt. Ein Spaziergang durch die «authentischen» Viertel reicht.
Wenn Kindheitserinnerungen und Sehnsüchte und unbefriedigte Wünsche nicht Kindheitserinnerungen und Sehnsüchte und unbefriedigte Wünsche bleiben dürfen, sondern die Fantasie gelebte Realität werden muss, wird «Heimat» unerträglich – und je kleinteiliger sie verstanden wird, weil die Nation für die meisten nicht mehr bzw. noch nicht wieder in Frage kommt, desto mehr.