Koray Yılmaz-Günay

Donnerstags-Epistel

Max Frisch hat vor ca. fünfundfünfzig Jahren die Einleitung zu einem Buch über italienische Arbeitskräfte in der Schweiz geschrieben. Darin äußerte er – nicht ganz zu Unrecht, aber auch nicht besonders extravagant –:

Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.

Es ist zweifellos ein großes Verdienst von Max Frisch, diese Alltagsbeobachtung sicherheitshalber mal aufgeschrieben zu haben, während große Teile der restlichen Meinungsbildungsinstitutionen in seinem Land offenbar damit beschäftigt waren, sich vor «Überfremdung» zu «fürchten».

Jetzt, wo nun wirklich alle, die nicht seit dem dritten Lebensjahr allein im Keller leben, den Satz von Frisch vierhundertmal (und öfter) (so oder abgewandelt), gehört, gelesen und selbst zitiert haben, stellt sich mir die Frage, ob wir nicht alle mal einmal einen Schritt weitergehen könnten?

Ja, es kamen Menschen – die Spekulationen, dass es sich bei den italienischen Arbeitskräften unter Umständen um humanoide Maschinen, Aliens, Flechten oder ausgestorben geglaubte Tierarten aus der Zeit vor der Eiszeit handele, erwiesen sich als gegenstandslos. Ganz ähnliche Beobachtungen wurden überdies bei allen anderen Populationen dieser «Arbeitskräfte» gemacht, egal, ob sie davor, zeitgleich der danach irgendwohin kamen zum Zwecke der Arbeitsaufnahme.

Fünfundfünfzig Jahre (immerhin zwei, vielleicht drei Generationen) mögen genügen. Wir können jetzt aufhören mitzudenken, es habe bestanden die Möglichkeit, dass es sich bei den «Arbeitskräften» um Nicht-Menschen hätte handeln können.

Max Frisch ist super, keine Frage. Vor fünfundfünfzig Jahren war die Aussage, man habe Arbeitskräfte gerufen, und es seien Menschen gekommen, sicher sehr gehalt- und wertvoll. Wenn aber fünfundfünfzig Jahre später Leute sagen – ganz solidarisch und so –, ein deutscher [!] Schriftsteller habe mal gesagt: «Wir riefen Arbeiter, aber [!] es kamen Menschen», dann ist das nicht so gehalt- oder wertvoll. Sondern unnütz und hässlich.

#sosad

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