Leyla Ibrahimova (2021): Interview mit dem Co-Geschäftsführer Koray Yılmaz-Günay des Migrationsrats Berlin e.V. In: Landesfreiwilligenagentur Berlin, Projekt Lebendige Nachbarschaften (Hg.): → Gemeinsam. Vielfalt. Stärken. Handbuch 3 des Projekts Lebendige Nachbarschaften, Seiten 14–16.
Der Migrationsrat Berlin e.V. ist ein Zusammenschluss von über achtzig Migrant:innenselbstorganisationen. Welcher Mission hat sich der Dachverband verschrieben? Welche Themenbereiche umfassen Ihre landesweiten Aktivitäten und Angebote?
Der Migrationsrat hat nur Vereine als Mitglieder – Vereine von Migrant:innen, People of Color und Schwarzen Menschen und ihren Nachfahren. Nach mehreren Anläufen haben sich mehrere Dutzend dieser Organisationen im Jahr 2004 vor allem aus zwei Gründen zusammengeschlossen: Erstens, um herkunftslandübergreifende Politik gemeinsam zu machen, und zweitens, um intersektional zu arbeiten. Es hatte sich nämlich spätestens in den 1990er Jahren herausgestellt, dass eine gemeinsame Artikulation von politischen Forderungen in Bezug auf Berlin und Deutschland fehlte – und dass Migration und Rassismuserfahrung allein nicht ausreichend waren, weil die Menschen in unseren Vereinen ja immer auch ein Geschlecht haben, einige eine Behinderung oder eine chronische Krankheit, manche eine Religion, andere keine Religion, eine sexuelle Orientierung, ein Lebensalter und viele andere Merkmale…
So setzten sich viele Dutzend Menschen zusammen und berieten, wie ein gemeinsames Dach aussehen müsste, um möglichst viele Organisationen zusammenzuführen. Die Diskussionen waren langwieriger und mühsamer, als viele von uns gedacht hätten, aber am Ende haben sich die vielen, vielen Abende in stickigen Räumen gelohnt, weil wir – nach nun über 15 Jahren Tätigkeit als Verband – die Mitgliedszahlen fast verdoppelt haben. Gemeinsam arbeiten wir zu aufenthaltsrechtlichen Fragen, gegen Diskriminierung, für gleichberechtigte Teilhabe an Bildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit – und zu vielen weiteren Themen.
Berlin hat in den letzten Jahren wegweisende Gesetzesinitiativen zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit auf den Weg gebracht: PartMigG und das LADG. Damit ist Berlin im Bundesvergleich ein Vorreiter. Welche Wünsche haben Sie an die praktische Umsetzung der neuen Gesetzesinitiativen?
Viele unserer Mitgliedsorganisationen haben, wie wir, bereits am bestehenden Partizipationsgesetz mitgewirkt, indem Diskussionsveranstaltungen organisiert wurden, die Fraktionen im Abgeordnetenhaus und Senator:innen angesprochen wurden, indem das Gesetz im Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen begleitet wurde. Wir haben auch die Evaluationsphase mitgemacht und die Diskussionen zur Novellierung begleitet. Unsere Punkte haben wir in einer ausführlichen Stellungnahme zusammengefasst. Vor allem zwei Punkte erscheinen uns wichtig: Zum einen ist es langsam, aber sicher irreführend, immer nur von «Migration», von «Kulturen» oder «Vor-» und «Hintergründen» zu sprechen. Die Menschen, um die es geht – wir – sind ein Teil der Berliner Bevölkerung, aber wir werden immer noch wie Gäste und wie Fremde behandelt, auch in Berlin scheint Migration noch als Ausnahme zu gelten – oder als vorübergehendes Phänomen. Schwarze Deutsche, deutsche Sinti:zze und Rom:nja, aber auch die Kinder und Kindeskinder der Gastarbeits- und Vertragsarbeitsgenerationen sind aber schon lange nur noch oder vor allem Deutsche. Das Problem ist, dass sie diskriminiert werden, dass sie im öffentlichen Dienst nicht repräsentiert werden. Diejenigen, die tatsächlich neu nach Berlin oder in andere Teile der Bundesrepublik kommen, werden oft wie Bittsteller:innen behandelt, wie Menschen, die unserem Land – wie es dann immer heißt – Dankbarkeit schulden.
Wenn wir uns das Fernsehprogramm des RBB angucken, die Radiosender, die öffentlichen Bibliotheken, die Curricula in Schulen, die oberen Etagen der Unternehmen: Schwarze, People of Color und selbst weiße, christliche Migrant:innen sind nicht annähernd so repräsentiert, wie es die Gerechtigkeit gebieten würde. Es ist unsere Überzeugung, dass wir endlich aufhören müssen, über so einen leeren Begriff wie «Integration» zu sprechen. Wir müssen die Abwesenheit unserer Menschen und unserer Realitäten besprechen. Wo findet sich der deutsche Kolonialismus in der Schule? Wo ist die Erinnerung und das Gedenken an den Genozid an den europäischen Rom:nja und Sinti:zze? Warum steht vor fast jeder jüdischen Einrichtung Polizei? Wo werden die Leistungen der Nachkriegseinwander:innen gewürdigt? Wo werden die Leistungen der verschiedensten ost- und westberliner Einwanderungsgenerationen gewürdigt? Warum kommen «unsere» Familien bei den Jugendämtern immer erst in der Intervention vor, wenn die Kinder schon in die Brunnen gefallen sind – aber fast gar nicht in den präventiven Angeboten? Wo bekommen Asylsuchende den Wohnraum oder die Therapiemöglichkeiten, die es ihnen gestatten, mit Trauma, Flucht und Diskriminierung umzugehen?
Wir erhoffen uns von der Novelle des Partizipationsgesetzes, dass es nicht mehr – wie in den letzten zehn, elf Jahren – auf Selbstverpflichtungen setzt, sondern nun die gleichberechtigte Teilhabe und eine Mindestrepräsentation vorschreibt, beispielsweise im öffentlichen Dienst und in den Landesunternehmen. Ohne eine Quote wird es nicht gehen, denn Freiwilligkeit hat uns bisher kaum weitergebracht. Im Gegenteil, es wurde ein ganzes Jahrzehnt verschenkt. In diesem Bereich lässt sich eine Menge aus der Geschlechtergleichstellung lernen, da gab es ganz ähnliche Debatten und Einwände.
Ganz wichtig ist, dass eine Mindestquote nur dann Sinn ergibt, wenn in der Folge auch das Personalvertretungsgesetz angepasst wird. Ein Fördergesetz braucht Beauftragte, die an Einstellungsverfahren beteiligt sind, sonst passiert auch mit einer Quote gar nichts.
Deswegen hat der Migrationsrat – wie auch viele andere Organisationen – viele Jahre gefordert, dass es ein Landesantidiskriminierungsgesetz gibt. Das Bundesgesetz lässt ja ganz wesentliche Bereiche außen vor. Aber gerade Bildung, Polizei, Justiz und viele andere Dinge, die in Landeszuständigkeit stattfinden, stellen eine immense Schutzlücke dar. Wir freuen uns, dass im zweiten Anlauf das Landesantidiskriminierungsgesetz durchgegangen ist – und dass es ein Verbandsklagerecht beinhaltet. Wir wissen ja vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz auf Bundesebene, wie langwierig und ermüdend das individuelle gerichtliche Vorgehen gegen Diskriminierung ist – insbesondere auch dann, wenn es mächtige Institutionen und über sehr lange Zeiträume verfestigte Strukturen sind, die diskriminieren. Insofern würden wir uns freuen, wenn die Verbandsklage ausgiebig genutzt wird und dadurch endlich Maßstäbe gesetzt werden. Dafür braucht es qualifizierte Anwält:innen – aber auch Beratungsstellen und Verbände, die ausreichend ausgestattet sind. Außerdem bräuchte es aber auch Politiker:innen, die zur Kenntnis nehmen, dass sie nicht hinter einen erreichten Diskussionsstand zurückfallen sollten. Für uns ist beispielsweise das Berliner «Neutralitätsgesetz» ein diskriminierendes Sondergesetz – so wie das Asylbewerberleistungsgesetz auf Bundesebene –, weil es bestimmte Menschen anders behandelt. Also schlechter behandelt. Es ist nicht verständlich, warum beispielsweise die Senatsverwaltung für Bildung daran festhält, obwohl im Sommer 2020 das Bundesarbeitsgericht festgestellt hat, dass dieses Gesetz eine «unmittelbare Benachteiligung» im Sinn des § 3, Abs. 1 des AGG darstellt.
Viele Vertreter:innen Ihres Dachverbands haben im Vorfeld der Entstehung des Partizipations- und Integrationsgesetzes durch ihr Sach- und Fachwissen an seiner Weiterentwicklung mitgewirkt, die Erfahrungen und Expertise in den Prozess der Evaluation eingebracht. Welche Anregungen und Impulse aus den Migrations- und Diversity-Diskursen waren wichtig für den Novellierungsprozess?
Wichtig ist, Migration Migration sein zu lassen. Sie ist der Normalzustand und nicht eine Ausnahme. Sie wird immer vorkommen. Sie lässt sich zu einem Teil staatlich organisieren und die Organisation lässt sich immer weiter verbessern. Da ist ja auch in den letzten Jahren eine Menge passiert. Unsere Ausländerbehörde heißt jetzt zum Beispiel endlich «Landesamt für Einwanderung», Migrant:innen-Organisationen bieten in den Räumen der Behörde Beratung an – das ist super. Gerade im Bereich Asylsuchende, Geduldete und Illegalisierte muss sich andererseits noch sehr vieles tun. Das Festschreiben auf «Einwanderung» – und in der Folge die hohle Forderung nach «Integration» – verhindern aber, und zwar schon viel zu lang, dass wir zu einer rassismuskritischen Überprüfung von Behördenhandeln, von Abläufen und Strukturen kommen. Denn nicht alle – und immer weniger –, die in solchen Stellen für «Migrant:innen» gehalten werden, haben einen Migrationshintergrund. Wir sollten endlich an den Punkt kommen, wo wir nicht «Migration», «interkulturell» oder «interreligiös» sagen müssen, wenn wir Rassismus besprechen und Diskriminierung abbauen wollen. Dafür müssten auch Zahlen generiert werden, die wir mit den Definitionen von «Migrationshintergrund» nicht erheben können. Die Organisation Citizens for Europe hat da im Berliner und im deutschen Kontext ganz wegweisende Erfahrungen.
Worin sehen Sie die größten Herausforderungen und Chancen in diversitätsorientierten Öffnungsprozessen?
Wir bieten als Migrationsrat in verschiedenen Projekten Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen an, auch um organisationalen Wandel zu begleiten. Oft begegnet uns die Individualisierung als Problem. Zum einen ist schnell identifiziert, wer als Person «problematisch» ist – und oft ist auch schnell klar, welche Personen neu gewonnen werden müssten, damit alles besser wird. Es wird aber nie alles besser, nur weil jemand weggeht oder neu dazukommt. Die Frage ist ja nicht nur, wer wo arbeitet, sondern auch, welche Arbeit wie erledigt wird. Am Ende ist es gleichgültig, ob eine Abschiebung von einer weißchristlichdeutschen oder von einer Person of Color «begleitet» wird – oder von wem die sogenannten anlassunabhängigen Kontrollen an den sogenannten kriminalitätsbelasteten Orten durchgeführt werden. Repräsentation von nichtweißen Menschen in der Polizei ist super. Aber nichtweiße Beamt:innen machen Phänomene wie Racial Profiling oder die Razzien in Shisha-Bars nicht besser. Es bräuchte eine andere Polizeiarbeit, die die Sicherheit aller im Blick hat und nicht einzelne Bevölkerungsgruppen oder Stadtteile pauschal als «gefährlich» klassifiziert.
Was können zivilgesellschaftliche Organisationen tun bzw. welche Initiativen können wir starten, um die Diversitätsoffenheit in Berlin zu befördern?
Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern seit Jahrzehnten eine solche «Offenheit», den Abbau von Barrieren, den Abbau von Sexismus und Rassismus. Oft kompensieren sie in mühsamer Projektarbeit über Jahre und Jahrzehnte Dinge, die der Staat machen sollte, die er aber nicht tut. Menschen, die ehrenamtlich – am Abend, am Wochenende, an ihrem Urlaubstag an Gremiensitzungen teilnehmen, bei denen sie sich zum vierzigsten Mal anhören sollen, warum das, was sie wollen, sicher eine gute und richtige Sache wäre, sich aber leider nicht durchsetzen lässt – oder aber nicht in die Zuständigkeit der jeweiligen Stelle fällt. Das lässt sich nicht von heute auf morgen verändern. Wenn ich auf die letzten 30 Jahre gucke, in denen ich selbst engagiert bin, sind die Bretter immer noch sehr dick, die gebohrt werden müssen… Ich weiß da kein Patentrezept – aber ich weiß, dass es viele, viele, viele Menschen gibt, die sich im Bereich Rassismuskritik und Migration engagieren, Wissen produzieren, Erfahrungen sammeln, auswerten und mit anderen teilen. Viele von ihnen arbeiten in Projekten, über deren Finanzierung jährlich entschieden wird. Über eine Strukturförderung für Organisationen von People of Color, Migrant:innen und Schwarzen ließe sich dieses Wissen und ließen sich diese Erfahrungen wesentlich einfacher zu Tools machen, mit denen die Gesellschaft verändert werden kann. Zum Besseren.