Koray Yılmaz-Günay (2003): Minderheit in der Minderheit – Erfahrungen von nicht-heterosexuellen Menschen aus der Türkei in Berlin und Deutschland. In: → Antidiskriminierungsnetzwerk des → Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (Hg.): → Visionen für ein diskriminierungsfreies Berlin. Die Eröffnungsveranstaltung des Antidiskriminierungsnetzwerks Berlin des TBB am 16. Juli 2003, Seiten 35–37.
Gays & Lesbians aus der Türkei sind eine junge Gruppe von lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen und transgender Frauen und Männern, die ihre Wurzeln wenigstens zum Teil in der Türkei haben. Wir verstehen uns als eine Gruppe mit gemeinsamem kulturellen Hintergrund, sind aber weder ethnisch, noch politisch oder konfessionell gebunden.
Der Verein bietet ein vielfältiges Beratungsangebot, das den Bedürfnissen der einzelnen Person Rechnung trägt. Aufgrund der zum Teil schwierigen Situation (Familie, juristische Probleme, Alter, Gewalterfahrung, Gesundheit etc.) können wir nur schwer unmittelbare Lösungen anbieten. Wir verstehen aber, dass weder strukturelle Prävention im Gesundheitsbereich noch Bildungs- und Medienarbeit in den lesbisch-schwulen Communitys bzw. den Communitys der Migrantinnen und Migranten allein ausreichen, um die Probleme der Menschen, die zu uns kommen, zu beseitigen. Deswegen bieten wir
- psychologische Beratung;
- Rechtsberatung;
- Sozialberatung und
- soziale Aktivitäten
für Hilfesuchende an. Wir legen Wert darauf, dass die Beratungsgespräche kostenlos sind, genauso wie unser restliches Bildungs- und Informationsangebot, um allen die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu bieten.
Im Jahr 2000 kam eine Handvoll türkeistämmiger Schwuler zusammen, um in Anlehnung an bestehende Gruppen im Bundesgebiet auch in Berlin eine Türkgay-Gruppe zu gründen. Erfahrungen, die in anderen Gruppen und Vereinen gemacht wurden, waren sicher einer der Gründe dafür, etwas Separates zu gründen: In vielen Bereichen und in vielen Organisationen gab und gibt es Homosexuelle aus der Türkei, aber so vielfältig die Gruppen sind, so gemeinsam ist in ihnen die Erfahrung, dort nur einen Teil der eigenen Identität leben zu können. Vor allem, wer der deutschen Sprache mächtig genug ist, gilt wohlwollend als «eine/r von uns», als Lesbe oder Schwuler wie alle anderen auch; der Migrationshintergrund bleibt in der Regel ausgeblendet, wenn er nicht gar offen als Hemmnis angesehen wird. Ein wichtiger Grund für eine «ethnische» Gruppe war deswegen sicher auch die türkische Sprache und Kultur, zu der viele (individuell) ein problematisches Verhältnis hatten. Denn immer noch sehen sich Lesben und Schwule in und nach ihrem Coming Out als einzige/r, die/der so ein «Problem» hat, es ist schwer, Orientierung und Identitätsentwürfe anderer zu finden. In der Öffentlichkeit existiert «so etwas» nicht, Homosexualität gilt, wo sie nicht als Krankheit oder Sünde angesehen wird, als etwas «Westliches», das es in «unserer» Kultur nicht gibt. Dabei haben es Männer etwas einfacher als Lesben, denn mit Zeki Müren und Bülent Ersoy sind zwei Größen in der türkischen Musik homo- bzw. transsexuell, viele, die kein Wort finden für ihre Situation, sagen ihren Eltern: «Ich bin wie Zeki Müren…» Für Lesben bietet sich eine solche Möglichkeit nicht. (Künstler/innen, die offen homosexuell leben, sollen aber kein Beleg dafür sein, dass für «normale» Homosexuelle das Coming Out einfacher würde; auf der Bühne werden sie be-, auf der Straße geklatscht.
Die Umbenennung in «Türk.Gay» war der Einsicht geschuldet, dass es in der Türkei nicht nur «türkische» Menschen gibt. Die Abkürzung (für «türkeistämmig») sollte dem auch in der Diaspora Rechnung tragen.
Schließlich öffnete sich die Gruppe auch Frauen, sodass der gegenwärtige Name gewählt wurde.
Seit ihrem Bestehen bieten die Gays & Lesbians aus der Türkei, seit März 2003 der erste eingetragene Verein von türkeistämmigen Lesben und Schwulen in Deutschland, ein reichhaltiges Programm, bestehend aus Bildungs-, Informations- und Unterhaltungsveranstaltungen, aber darüber hinaus auch das erwähnte Beratungsangebot. Da wir die einzige spezifische Gruppe in Berlin sind und darüber hinaus die größte im Bundesgebiet, müssen wir vielen, sich teilweise behindernden Ansprüchen gerecht werden. Wir
- tragen den Bedürfnissen von Frauen und Männern Rechnung;
- stehen Menschen im Coming Out (und zwar Jugendlichen wie älteren Menschen) zur Seite;
- bieten Transsexuellen und Transgendern spezifische Angebote;
- werden den sozialen, kulturellen und politischen Ansprüchen der Mitglieder gerecht;
- wirken als Mittler zwischen mehrheitsdeutschen und türkeistämmigen Lesben und Schwulen;
- unterstützen Eltern und Angehörige mit Rat und Tat;
- stehen als Ansprechpartner/innen für andere lesbische, schwule oder gemischte Gruppen, für Gruppen türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten, aber auch für Behörden und Ämter zur Verfügung;
- bieten Bildungs- und machen Medienarbeit;
- decken Themen wie Asyl, Flüchtlinge, binationale Partnerschaften und eingetragene Lebenspartnerschaften ab, aber auch HIV, Aids und andere sexuell übertragbare Krankheiten;
- betreuen homosexuelle türkeistämmige Strafgefangene, aber auch viele andere Menschen und Themengebiete.
Das sind eine Menge Themen und Aufgabengebiete, die wir abdecken müssen, wenn man sich die besondere Situation vor Augen hält, in der wir leben. Grundsätzlich werden wir wegen unserer ethnischen Herkunft und wegen unserer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität diskriminiert. Für viele von uns treten aber auch weitere Merkmale hinzu, in etwa Geschlecht, Alter, Behinderung, nicht-türkische ethnische Zugehörigkeit oder eine andere Konfession oder Religion als die Mehrheit der Türkeistämmigen. Das heißt, dass wir uns immer als Minderheit in einer Minderheit befinden. – Und die Erfahrung lehrt allzu schnell, dass weder die ethnischen, noch die lesbisch-schwulen Communitys liberaler oder aufgeklärter sind, nur weil sie selbst in die Rolle von Minderheiten gesteckt werden. So muss unsere Aufmerksamkeit vielen verschiedenen Faktoren dienen, die unsere Leben strukturieren, ob wir es wollen oder nicht.
Ohne einen gewissen Idealismus ist dies alles natürlich nicht zu bewältigen. Auch wenn die individuellen Gründe für eine Mitgliedschaft bei Gays & Lesbians aus der Türkei je unterschiedlich sein mögen, gibt es wohl auch eine gemeinsame Vision. Uns eint vermutlich der Wunsch, alle Menschen mögen – lokal gedacht – in Berlin mit den gleichen Ausgangsbedingungen und gleichen Chancen leben können.
Zunächst einmal muss man anerkennen, dass weder Migrantinnen und Migranten noch mehrheitsdeutsche Lesben und Schwule «bessere» Menschen sein müssen, nur weil sie selbst oft genug stigmatisiert werden. Es muss vermieden werden, sich selbst oder andere als Opfer wahrzunehmen, Diskussionen müssen auf Augenhöhe stattfinden und nicht von einer falschen Scheu gegenüber den Partnerinnen und Partnern geführt werden. Es muss eine proportionale Verteilung von Ressourcen und Ämtern geben, der «Kuchen» muss gerecht verteilt werden.
Es muss anerkannt werden, dass eine Türkeistämmige lesbisch, ein Schwuler auch türkeistämmig sein kann. Nur so werden wir lästige Debatten los, die uns zu Anhängseln mit interessanten Coming-Out-Geschichten oder zu «verwestlichten» Verräter/innen machen.
Nur so werden wir das Exotentum los, das auch dann eine Last ist, wenn es positiv gewendet wird. Schließlich sind mehrheitsdeutsche Männer, die einen «behaarten Türken, Araber oder Schwarzen» suchen, nichts anderes als diejenigen, die ganz genau wissen, dass «alle Türken, Araber und Schwarzen schmutzig» sind.
Das Gröbste, das sich sagen lässt, die Vision, die sich formulieren ließe, würde bis ins Feinste also alles verändern: dass alle Menschen, die hier leben, gleich sein dürfen, ohne sich über einen Kamm scheren lassen zu müssen. Alles andere wäre einfach.