Koray Yılmaz-Günay

Mehr als ein Vorurteil – Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis

Koray Yılmaz-Günay (2017): → Mehr als ein Vorurteil – Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis. In: → Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) – Thüringer Dokumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlichkeit (Hg.) (Redaktion: Janine Dieckmann, Daniel Geschke, Matthias Quent): → Wissen schafft Demokratie (= Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft 2), Seiten 126–137.

Der Beitrag entstand aus einer Stellungnahme für die Enquetekommission des Thüringer Landtages «Ursachen und Formen von Rassismus und Diskriminierungen in Thüringen sowie ihre Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben und die freiheitliche Demokratie». Der Autor ist Mitglied der Enquetekommission. Rassismus wird häufig bei Neo-Nazis verortet oder allenfalls mit «Vorurteilen» gleichgesetzt, die alle haben. Als Patentlösung erscheinen in der Folge meist Programme zur Toleranz-, Vielfalts- und Demokratie-Förderung in der Schule sowie in der schulbezogenen und außerschulischen politischen Bildung mit Jugendlichen. Rassismus ist aber wesentlich mehr als eins der Ideologieelemente des Neonazismus und längst nicht nur unter Jugendlichen verbreitet. Es braucht gesamtgesellschaftliche Anstrengungen, um über Jahrhunderte gewachsene Wissensbestände und Strukturen zu bekämpfen, die Verschiedenheit dazu nutzen, soziale Ungleichheit zu legitimieren.

WAS IST RASSISMUS?

Die Rede von einem «Wir», die erst einmal für jede schematische Einteilung der Bevölkerung charakteristisch ist, führt unweigerlich zur Vorstellung von anderen Gruppen – von denen, die «die anderen» sein sollen. Im Fall des Rassismus werden physische, kulturelle und religiöse Merkmale als bedeutsame Unterscheider angesehen. Ob diese Merkmale nur vermeintlich oder tatsächlich vorhanden sind, ist dabei irrelevant. So wird oft von «Afrika» gesprochen, als handele es sich dabei um ein einzelnes Land – auch wenn der Kontinent dreimal so groß ist wie Europa und auf ihm anderthalb Mal so viele Menschen leben. Oder aber muslimische Menschen werden zu einer Quasi-Ethnie zusammengefasst, obwohl in den verschiedensten Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung mehr als 1,6 Milliarden Menschen leben, was etwa einem Fünftel der Weltbevölkerung entspricht, oder obwohl beispielsweise in Indien (gemeinhin nicht als «muslimisches Land» wahrgenommen) mehr muslimische Menschen leben als etwa in der Türkei.

Die Einteilung der Bevölkerung eines Landes, eines Kontinents oder der Welt in voneinander verschiedene Gruppen erfolgt nicht bloß um der lieben Ordnung willen. Den ethnisierten Großgruppen werden Besonderheiten zugeschrieben, die als Neigungen, Charaktereigenschaften oder Talente unveränderbar sein sollen. Theorien um «Kulturkreise», wie sie seit dem Ende der Blockkonfrontation etwa im Werk Samuel Huntingtons (Huntington 1996) neuerlich herausgearbeitet werden, vereindeutigen unzulässiger Weise nicht nur über Jahrhunderte stark unterschiedlich gewachsene Lebensweisen, sondern beispielsweise auch so heterogene und heterodoxe Länder wie etwa Iran, Saudi Arabien und Mali als «islamisch». Kämpfe, wie sie früher zwischen Herrscher_innen und Beherrschten nach den bürgerlichen Revolutionen in Europa zwischen «Völkern» und «Nationen» und im 20. Jahrhundert zwischen Ideologien ausgefochten worden seien, würden nach dem Wegfall des West/Ost-Konflikts – und damit auch der Einteilung in «Erste»/«Zweite» und «Dritte Welt» – nun zwischen «Kulturen» (auf Englisch: civilizations) ausgetragen. Unstimmigkeiten, die bereits auf den ersten Blick aufscheinen, werden dabei komfortabel ausgeblendet, etwa wenn es heute darum geht, die Einwanderung aus mehrheitlich muslimischen Ländern oder Gegenden zur kulturell bedingten besonders großen Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen oder Homosexuellen zu erklären (vgl. z.B. Haritaworn/Petzen 2014).

Die den «anderen» zugeschriebenen Eigenschaften sind meist negativ. Selbst dort, wo sie oberflächlich als positiv erscheinen (etwa in als Kompliment gemeinten Aussagen wie «… können gut tanzen», «… können gut kochen», «… sind nicht so verkopft», «… sind besonders erfolgreich in dieser oder jener Sportart»), setzen sie die so identifizierten Gruppen herab, indem gesellschaftlich höher bewertete Eigenschaften der Eigengruppe zugeschrieben werden (in der Regel männlich konnotiert) und gesellschaftlich niedriger bewertete Eigenschaften der Fremdgruppe (in der Regel weiblich konnotiert). Solche «charakteristisch» definierten Dispositionen sollen für die gesamte Gruppe gelten, das Verhalten einzelner Menschen wird so zum Ausdruck eines vermeintlichen Nationalcharakters bzw. einer «kulturell», «ethnisch» oder «religiös» verfassten Gemeinschaft, die (in der Regel) abgewertet werden kann.

Die Bildung von Großgruppen und die Abwertung der ihnen zugeschriebenen Merkmale verweist zusammen auf die Ebene des «Vorurteils». In der akademischen Forschung, aber auch in der politischen Bildung (DGB-Bildungswerk Thüringen 2003) hat sich eine Definition von Rassismus herausgebildet, die eine weitere Bedingung benennt, die im gesellschaftlichen Gespräch über Rassismus seltener vorkommt, ohne die Rassismus aber nicht verstehbar wird: die gesellschaftliche Durchsetzungsmacht.

Als gesellschaftliches Verhältnis, das den Einschluss der einen und den Ausschluss der anderen organisiert, ist Rassismus angewiesen auf soziale, ökonomische und politische Macht, die die (Ab-) Wertungen anderer Gruppen durchsetzt und reale oder vermeintliche Verschiedenheit zu gelebter Ungleichheit macht – etwa beim Zugang zu politischen Partizipationsrechten, zu Wohnraum (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2016), Bildung (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016), Gesundheitsversorgung, Ausbildung und Arbeit (ILO 2017), aber auch im Freizeitbereich (etwa beim Zugang zum Fitnessstudio oder in die Diskothek). Diese Auswahl von vitalen Lebensbereichen verdeutlich: Rassismus ist sowohl im zwischenmenschlichen Bereich als auch auf der Ebene von Markt, staatlichen und anderen Institutionen, aber auch im Rechtswesen funktional. Rassismus reguliert, wer dazu gehören darf und wer nicht. In einer Gesellschaft, in der es vermeintlich keinen Rassismus mehr gibt und in der es sogar als sozial unerwünschtes Verhalten gilt, sich rassistisch zu äußern, setzen sich rassistische und ethnisierte Ein- und Ausschlüsse unumwunden fort. Susan Arndt schreibt:

Bei Rassismus handelt es sich […] um eine europäische Denktradition und Ideologie, die «Rassen» erfand, um die weiße «Rasse» mitsamt des Christentums als vermeintlich naturgegebene Norm zu positionieren, eigene Ansprüche auf Herrschaft, Macht und Privilegien zu legitimieren und sie zu sichern. Diese historisch gewachsene und im Laufe der Jahrhunderte ausdifferenzierte Ideologie produzierte und produziert rassistisches Wissen, hat sich ebenso facettenreich wie wirkmächtig in Glaubensgrundsätzen, (Sprech-) Handlungen und identitäre Muster eingeschrieben und sich – unabhängig davon, ob Weiße dies anerkennen oder nicht – die Welt passfähig geformt. Rassismus gehört zweifelsohne zu den am meisten gravierenden und folgenschwersten historischen Hypotheken, mit denen sich die Welt auch im 21. Jahrhundert auseinander zu setzen hat, denn die symbolische Ordnung von «Rasse» hat sich strukturell und diskursiv in Machthierarchien und Wissensarchive eingeschrieben. (Arndt 2011:43)

  

«BETROFFENHEIT»

Spezifisch für Rassismus ist das Zusammenkommen und Zusammenwirken von Vorurteil und Macht sowie die Funktion, die er für die Zuteilung von materiellen und immateriellen Ressourcen innehat. Die Konstruiertheit von «Rassen», «Ethnien», «Kulturen» etc. wird über die Organisation von Einschluss und Ausschluss zum ganz realen Teil des Lebens aller Menschen in der Gesellschaft. Das Beispiel von «Racial Profiling» verdeutlicht: Es sind bestimmte Menschen, die im Zug von der Bundespolizei kontrolliert werden, weil sie unter einen Generalverdacht gestellt werden und deswegen als «illegal» und/oder als «gefährlich» wahrgenommen werden. Dafür ist die Wahrscheinlichkeit, kontrolliert zu werden, für andere ungleich niedriger (Deutsches Institut für Menschenrechte 2013). Auch der Zusammenhang von Migration und Armut ist ein Beispiel: Während bei generell ansteigender Armutsquote 15,7 Prozent der Menschen in Deutschland als arm gelten, sind dies bei Menschen mit Migrationshintergrund 27,7 Prozent und bei Ausländer_innen 33,7 Prozent (Der Paritätische Gesamtverband 2017:19).

Ähnlich wie bei anderen gesellschaftlichen Einschluss- und Ausschlussmechanismen entscheidet die zwar konstruierte, aber doch ganz und gar reale Ungleichheit über den Zugang zu konkreten Ressourcen – auch wenn es vollkommen wohlmeinende Lehrkräfte, Angestellte im JobCenter oder im Krankenhaus sind. Ella Shohat und Robert Stam sprechen, auch in Fortsetzungen der Arbeiten von Étienne Balibar (Balibar/Wallerstein 1990) und Stuart Hall (Hall 1989), die von einem «Rassismus ohne Rassen» sprechen, in einem anderen Zusammenhang von einem «Rassismus ohne Rassist_innen» (Stam/Shohat 2014:332). Dieser Rassismus benötigt weder den Vergleich mit anderen Ländern («In den USA ist es schlimmer als bei uns») noch die Externalisierung des Phänomens auf vermeintliche Randgruppen wie Alt- oder Neonazis:

Auf jeden Fall ist das eigentliche Thema weder die relative Stärke des Rassismus noch der genaue Anteil an Rassist_innen, sondern das strukturierte (und seinerseits strukturierende) System kumulativer Bevorteilung der Weißen (…), ein System, das aus Gewohnheit einer Gruppe Privilegien zuteilt und Verelendung einer anderen. Innerhalb dieser sozialen Reproduktion von Ungleichheit spielen Klasse, Kaste, «ethnische» Zugehörigkeit, Hautfarbe, kulturelles Kapital und der relative Koeffizient von «europäischem Verhalten» alle eine Rolle. (Ebd.)

«Betroffen» von Rassismus sind nicht nur die Opfer rassistischer Beleidigung und/oder körperlicher Gewalt, so wenig wie die «Täter_innen» sich auf die in Einstellungsuntersuchungen immer wieder identifizierten ca. 20 Prozent der Bevölkerung reduzieren lassen. Rassismus umfasst auf einer individuellen Ebene die Überzeugung, dass Menschen aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher Differenzen ungleich zu behandeln seien. Rassismus umfasst aber auch, jenseits solcher individueller Dispositionen, die in Institutionen und zu Strukturen geronnenen Verhältnisse, die Jüd_innen, Schwarze, Sinti_zza und Rrom_nja, Muslim_innen, Asiat_innen, die indigenen Bevölkerungen europäischer Kolonien als

  • abweichend von der weißen, (post-)christlichen Norm definieren und deswegen
  • als minder wert behandeln und damit ihre Lebensäußerungen einschränken.

Insofern ist Rassismus kein Verhältnis, das die Benachteiligung einer «Minderheit» durch eine «Mehrheit» beschreibt. Beispiele wie das historische, aber immer noch nachwirkende Apartheidsregime in Südafrika oder die postkoloniale Realität der brasilianischen Gesellschaft zeigen: Auch Gesellschaften mit großer Schwarzer bzw. nicht-weißer Mehrheit können von weißen Minderheiten beherrscht werden, wenn diese mit gesellschaftlicher Durchsetzungsmacht ausgestattet sind.

  

UNAUSGESPROCHENE ÜBEREINKÜNFTE

Die Auseinandersetzung mit Rassismus hat in Deutschland keine lange Tradition. Erst seit den beginnenden 1980er Jahren befasst sich eine nur langsam wachsende Zahl von Akademiker_innen und Aktivist_innen tatsächlich mit dem Phänomen. Bis heute dominieren Begriffe eine Debatte, die dem seit jeher multiethnischen, multilingualen, multireligiösen, multikulturellen Charakter des Landes nicht gerecht wird (z.B. Begriffe wie «Ausländer-» bzw. «Fremdenfeindlichkeit», «Xenophobie» oder Umwege-Kommunikationen wie die über «Migration»/«Integration» und «Toleranz»).

Es ist davon auszugehen: Im Nachgang militärischer Auseinandersetzungen, aber auch durch den Handel, haben Schwarze Menschen bereits zur Zeit des Römischen Reiches wenigstens in einem Teil des heutigen Deutschlands gelebt. Es ist davon auszugehen, dass hierzulande seit etwa zweitausend Jahren jüdische Gemeinden existieren, dass Sint_ezza mindestens seit dem 15. Jahrhundert hier leben. Es wurde zu verschiedenen Zeiten Polnisch gesprochen und Französisch und Jiddisch und Dänisch und Sorbisch und Litauisch und viele weitere Sprachen.

Warum Menschen, die seit hunderten und tausenden Jahren hier leben, nach wie vor als «Fremde» gesehen werden, denen andere «feindlich» begegnen, erschließt sich ohne eine Analyse von Rassismus nicht. Dies mag vielleicht auch dabei helfen zu verstehen, warum Weiß-Deutsche dazu neigen, Schwarze, die in Polizeigewahrsam sterben, brennende Gemeinschaftsunterkünfte für Geflüchtete oder im Gerichtssaal erstochene Musliminnen als Einzelfälle zu betrachten, während andere – zum Beispiel Schwarze, Geflüchtete, Muslim_innen – dazu neigen, den systematischen Zusammenhang zwischen solchen und ähnlichen Taten zu sehen.

Der Reflex, auf rassistische Ausschreitungen mit pädagogischen Maßnahmepaketen zu reagieren, die vor allem auf die Jugend zielen, ist zum einen verständlich. Kinder und Jugendliche sind eine der am besten vom Staat zu erreichenden Gruppen (Schule, schulische, schulbezogene, außerschulische Bildungsarbeit). Allerdings erzeugen Jugendliche nicht die Bilder in Medien, sie machen nicht die Curricula in Schulen und auch nicht die Gesetze. Sie sind nicht für die Ausbildungsinhalte oder die Personalpolitik bei Justiz, Polizei, Ausländerbehörden etc. verantwortlich. Der Fokus auf Kinder und Jugendliche führt (auch) dazu, dass Rassismus auf einer individuellen Ebene und vor allem über Bildung bekämpft werden soll. Die Auseinandersetzung mit strukturellen und institutionellen Ausprägungen des Rassismus gerät dadurch regelmäßig in den Hintergrund oder bleibt, auch bei wohlmeinenden Versuchen wie dem Landesaktionsplan gegen Rassismus in Berlin oder der «Antirassismus-Klausel» in der Brandenburgischen Landesverfassung, vor allem eins: ein Lippenbekenntnis.

Ich möchte drei Stränge zur Erklärung anbieten, warum es so schwer ist, in der Bundesrepublik über Rassismus als gesellschaftliches Phänomen zu sprechen:

a) Die Herausbildung einer «deutschen» nationalen Identität

Jahrzehnte lang gab es im 19. Jahrhundert die Idee einer Nation, die nicht durch eine gemeinsame Verfassung, einheitliche Gesetze oder der Übereinstimmung mit den Idealen einer bürgerlichen Revolution zusammengehalten wurde, sondern, um es verkürzt zu sagen, über eine Kultur- und Abstammungsgemeinschaft.

Das 1871 gegründete Deutsche Reich als erster deutscher Nationalstaat schrieb in seinem Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht (am Vorabend des Ersten Weltkrieges) diese Idee fort, wie auch später die Weimarer Republik. Durch die Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg, durch die systematische Ermordung von Jüd_innen sowie Sint_ezza und Rrom_nja in deutschen Vernichtungslagern und die Gebietsverluste nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bevölkerung ein weiteres Mal homogener im Sinn der völkischen Vorstellung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Millionen Vertriebene in die Besatzungszonen und in die neu entstehenden deutschen Staaten, deren Vorfahren vor hunderten Jahren ausgewandert waren und die mithin nie eine deutsche Staatsbürgerschaft besessen hatten. Als «Volksdeutsche» bzw. Flüchtlinge bzw. (Spät-) Aussiedler_innen genossen sie aber, wie später auch DDR-Bürger_innen in Westdeutschland, das Privileg, als Deutsche akzeptiert zu werden, weil sie, wiederum verkürzt gesagt, als blutsverwandt angesehen wurden. Abermals waren es nicht Phänomene wie Verfassungen, Gesetze, Staatsangehörigkeiten oder das Bekenntnis zu einer Gesellschaftsordnung, die über Zugehörigkeit entschieden, sondern ein Gemeinschaftsgefühl, das juristisch, diskursiv und politisch legitimiert wurde.

Diese Definition von «Deutschsein» hielt sich als einzige bis zur Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes zu Beginn dieses Jahrtausends. Derweil kamen und gingen Generationen von Vertragsarbeiter_innen in die DDR (Roesler 2012) und Millionen von Gastarbeiter_innen kamen und blieben im Westen, ohne dass selbst ihre Kinder und Kindeskinder als «deutsch» gelten durften. Dies führte zu einer bis heute anhaltenden Desintegration großer Bevölkerungsgruppen, deren Anwesenheit politisch nicht anerkannt wurde, und denen keine politischen Rechte zugestanden wurden. Der immer wieder zu hörende Ruf nach «Integration» und die in loser Folge stets neu aufgelegte Aufforderung, sich an eine «Leit»-Kultur zu halten, verweisen auf den unzeitgemäßen Inhalt des Begriffs «deutsch», der im dominanten Diskurs nach wie vor nicht als Zugehörigkeit zu einer Republik, sondern als Mitgliedschaft in einem ethnisch verfassten Kollektiv verstanden wird.

b) Kolonialismus ohne Ende

Der zweite Strang betrifft den deutschen Kolonialismus inklusive seiner Nebenerscheinungen, der bis heute nicht aufgearbeitet ist, obwohl das Deutsche Reich für eine kurze Zeit eine der einflussreichsten Kolonialmächte der Welt war. Neben Straßennamen, die nach wie vor Kolonialverbrecher ehren, kommt dieses Kapitel der deutschen Geschichte in der Regel weder im Schulunterricht noch im öffentlichen Bewusstsein vor. Einige der Aufstände, u.a. in China (1899–1901), in Ostafrika (1905–1907) und in Südwestafrika (1904–1908), verdeutlichen, wie gewaltvoll die deutsche Herrschaft war. Hunderttausende Menschen verloren dabei ihr Leben, so etwa auch im ersten systematischen Genozid des 20. Jahrhunderts, der in Namibia an den Herero und Nama verübt wurde. Weder die über 30–jährige Ausbeutung noch die für rassistische Forschungen geraubten Gebeine oder die sogenannten Völkerschauen wurden je seriös aufgearbeitet.

So verwundert es nicht, dass koloniales Denken nicht nur fortgesetzt, sondern in zahlreichen aktuellen Debatten zukunftstauglich gemacht wird (v.a. in den Debatten um «Flucht» und «innere Sicherheit»). Das fehlende staatliche Bekenntnis zur systematischen Aufarbeitung der Kolonialverbrechen führt zu fortgesetzter Ausbeutung von Menschen und Ressourcen, etwa im Rahmen neokolonialer Handelsverträge zwischen EU und afrikanischen Staaten, aber auch zu andauernder physischer und seelischer Gewalt gegen Menschen, die vor der Zerstörung ihrer Länder u.a. nach Deutschland geflohen sind. Aktuelle koloniale Kontinuitäten tauchen dabei in den Debatten kaum auf, weil der historische Kolonialismus als Fakt kaum präsent ist. So lässt sich bequem das massenhafte Sterben im Mittelmeer der «Schlepperei» in die Schuhe schieben, gegen die mit noch mehr Zwang vorgegangen werden soll. So lässt sich die systematische Erzeugung von Armut, Hunger und von Umweltkatastrophen den Regierungen im globalen Süden in die Schuhe schieben und der «Abbau von Fluchtursachen» erschöpft sich darin, autoritäre Regime zu beraten, wie sie möglichst «demokratische» Verfassungen schreiben können. Dass die rassistischen Asymmetrien zwischen Bevölkerungsgruppen im Inland sich ungebrochen in den zwischenstaatlichen Beziehungen fortsetzen, kommt nicht aufs Tablett. Es bleibt abzuwarten, ob und wann die zögerlichen Versuche der Thematisierung in Museen (vgl. etwa die Ausstellung zur Kolonialgeschichte im Deutschen Historischen Museum [DHM] in Berlin oder die Diskussionen zur Konzeption des schräg gegenüber vom DHM wieder aufgebauten Berliner Stadtschlosses, das das «Humboldt-Forum» beherbergen wird) zu einer breiteren gesellschaftlichen Debatte über den deutschen Kolonialismus und seine Nachwirkungen führen werden.

c) Paradoxer Antifaschismus

Der dritte Strang bezieht sich auf die halbherzige Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen vor allem gegen Jüd_innen und Sint_ezza und Rrom_nja, also die Schoah und den Porajmos. Während die DDR sich vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus als explizit antifaschistischer Staat gründete und zumindest pro forma die Solidarität mit den «sozialistischen Bruderstaaten» hochhielt[1], entsprachen die Verhältnisse im Land selbst nicht der Staatsideologie. Für die Zeit ihrer Existenz sind republikweit hunderte rassistische Ereignisse belegt, die manifesten Antisemitismus wie auch regelrechte Menschenjagden umfassen, von denen vor allem Menschen aus Kuba, Vietnam sowie aus arabischen und afrikanischen Staaten betroffen waren, darunter auch mindestens zehn Tote (Waibel 2014). Dass der Staat zwar repressiv auf solche Vorkommnisse reagierte, aber ein öffentliches Gespräch dazu gleichzeitig verhinderte, konnte einer gesellschaftlich breiten Reflexion und Entwicklung nur hinderlich sein.

Ähnliches gilt, trotz einer wesentlich halbherzigeren Entnazifizierung, auch für die Bundesrepublik West. Durch die verweigerte Thematisierung von «Rassismus» sollte (auch) verhindert werden, dass wieder über «Rassen» gesprochen wird. Wo trotz der pro forma anti-antisemitischen Staatsideologie immer noch Rassismus vorkam – als «Ideologie» –, musste es sich um ein wahnhaftes Randphänomen handeln, dem keine gesellschaftsstrukturierende Funktion mehr zukommt. Dass Rassismus in erster Linie aber reales Handeln ist und immer Konsequenzen hat – nicht zuletzt etwa die nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzte rassistische Politik gegen Sint_ezza und Rrom_nja – konnte so sehr lange nicht thematisiert werden:

Das mag, gerade aufgrund der so erfolgreichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hierzulande, zunächst verwundern. Jedoch nur solange man den rassistischen Antisemitismus der Nazis mit Rassismus schlechthin gleichsetzt.[2] Historisch jedoch bestand das Singuläre des nationalsozialistischen Antisemitismus nicht zuletzt darin, sämtliche denkbaren rassistischen Annahmen in die Praxis einer Vernichtungsmaschinerie überführt zu haben, die am Ende fast ohne theoretische oder ideologische Begründung funktionierte.[3] Allein der Nationalsozialismus, so ließe sich sagen, transformierte den Rassismus, verstanden als ideologisch begründete Anfeindung, in Anfeindung und Vernichtungshandeln.[4] Wenn man in Deutschland also davon ausgeht, Rassismus sei vor allem eine theoretische Weltsicht, und zugleich angenommen wird, mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit auch die eigene Rassismus-Geschichte vollständig aufgearbeitet zu haben (und auf eben diesen Hintergrundkonsens stößt man immer wieder im Alltag, in Schulbüchern oder auch im Feuilleton), dann steckt in dieser Wahrnehmung ein Problem. Sie blendet alle anderen Formen des Rassismus in der deutschen Geschichte, vor und nach dem Nationalsozialismus, aus dem historischen Selbstbild aus; Formen, die «uns» als europäisch-abendländische Nation ebenso betreffen wie alle anderen: vom Antijudaismus über den Kolonialrassismus bis zu heute populären Formen der «Überfremdungs»-Angst. (Geulen 2015)

  

EINE ANDERE LEITKULTUR

Wir leben derzeit in einem gesellschaftlichen Klima, das zum einen geprägt ist von einer immer noch überwältigend breit aufgestellten «Willkommenskultur» und zugleich von brennenden Gemeinschaftsunterkünften für Menschen, die Schutz in der Bundesrepublik suchen. Diese Gleichzeitigkeit trägt absurderweise dazu bei, dass rassistische Verhältnisse, wie sie durch die Strukturen und Institutionen stabilisiert werden, nicht thematisiert werden. Der Blick liegt vermeintlich auf der «Integration» der «Neuen», aber nicht auf der anhaltenden Desintegration und Verweigerung der deutschen Gesellschaft, Niederlassung mit gesellschaftlicher und politischer Teilhabe zu verbinden. Debatten um demografischen Wandel, Fachkräftemangel und die entvölkerten ländlichen Gebiete stehen immer noch ein «Wir sind kein Einwanderungsland» und verschrobene Debatten über Sicherheit entgegen. Migration wird, auch nach Jahrhunderten, die das Gegenteil zeigen, als vorübergehendes Phänomen und Risiko für die hiesige Ordnung verstanden. Dieses Verständnis leistet keinen Beitrag zur Antidiskriminierungspolitik, gelegentlich führt es sogar zur Stabilisierung rassistischer Verhältnisse.

Das Grundgesetz soll den Menschen in Deutschland ein diskriminierungsfreies Leben gewährleisten. Die staatliche Praxis sieht aber anders aus – abgesehen von zögerlichen Schritten, etwa bei unabhängigen Beschwerdestellen und Ombudspersonen im Schulsystem einzelner Bundesländer oder Veränderungen im Friedhofs- und Bestattungsrecht. Der Fokus auf Migration – und in diesem Rahmen: einen kaum definierten «Integrations»-Begriff – führt dazu, dass Rassismus in zentralen Lebensbereichen dethematisiert wird.

Eine Kommission wie die vom Thüringer Landtag eingesetzte Enquetekommission «Ursachen und Formen von Rassismus und Diskriminierungen in Thüringen sowie ihre Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben und die freiheitliche Demokratie» sollte deswegen nicht das Hauptaugenmerk auf einzelne Migrations-Phänomene legen, sondern darauf schauen, wie die wirkmächtigsten Institutionen Ungleichbehandlung immer wieder neu erzeugen. Wir brauchen eine rassismuskritische Leitkultur.

  

LITERATUR

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2016): Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt. Strategien um Nachweis rassistischer Benachteiligungen. Eine Expertise im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes: → www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Experti-se_Wohnungsmarkt_20150615.pdf [08.11.2017].

Arndt, Susan (2011): Rassismus. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja [Hrsg.]: Wie Rassismus aus Wörtern spricht: (K) Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Unrast-Verlag: Münster.

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration: → www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2016/pdf-bildungsbericht-2016/bildungsbericht-2016 [08.11.2017].

Balibar, Étienne/Wallerstein, Immanuel (1990): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Argument-Verlag: Hamburg.

DGB-Bildungswerk Thüringen (2003): Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit: → www.Baustein.DGB-BWT.de [08.11.2017].

Der Paritätische Gesamtverband (2017): Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017: → www.Der-Paritaetische.de/Schwerpunkte/Armutsbericht/Download-Armutsbericht [08.11.2017].

Deutsches Institut für Menschenrechte (2013): «Racial Profiling» – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1 a Bundespolizeigesetz. Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei: → www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Studie_Racial_Profiling_ Menschenrechtwid-rige_Personenkontrollen_nach_Bundespolizeigesetz.pdf [08.11.2017].

Geulen, Christian (2015): Warum ist es so schwer, von Rassismus zu sprechen? → www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/213691/warum-ist-es-so-schwer-von-rassismus-zu-sprechen [08.11.2017].

Hall, Stuart (1989): Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Das Argument, 31, Heft 178, Seiten 913–921.

Haritaworn, Jin/Petzen, Jennifer (2014 [2011]): Integration as a Sexual Problem. An Excavation of the German «Muslim Homophobia» Panic. In: Yılmaz-Günay, Koray [Hrsg.]: Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre «Muslime vs. Schwule». Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001. Edition Assemblage: Münster.

Huntington, Samuel P. (1996): Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Europa-Verlag: München/Wien.

ILO (2017): Hintergrund: Entwicklung der globalen Arbeitsmigration und das Engagement der ILO [Internationale Arbeitsorganisation]. Online: www.ilo.org/berlin/arbeitsfelder/migration/WCMS_545974/lang–de/index.htm [08.11.2017].

Roesler, Jörg (2012): Auf dem Weg zum Einwanderungsland. Nur billige Arbeitskräfte und kaum geduldete Fremde? Zur Situation der Vertragsarbeiter in der DDR während der 1970er und 1980er. (= Standpunkte 16/2012). → www.rosalux.de/publikation/id/6262 [08.11.2017].

Stam, Robert/Shohat, Ella (2014): Race in Translation. Unrast-Verlag: Münster.

Stephan, Sven/Schmidt, Holger (2015): Die DDR-Kaffee-Offensive. Bückware ade. In: Der Osten. Entdecke, wo du lebst. Mitteldeutscher Rundfunk: → www.youtube.com/watch [08.11.2017].

Waibel, Harry (2014): Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR. Frankfurt am Main.

  

[1] Zu den in der Realität zum Teil weiterhin kolonial geprägten Beziehungen zwischen «Bruderstaaten» vgl. etwa das Beispiel Kaffeeanbau in Vietnam (Stephan/Schmidt 2015).
[2] Fußnote im Zitat: Vgl. hierzu Christian Geulen, Antisemitismus – Rassismus – Xenophobie: Zur Unterscheidung moderner Anfeindungsformen. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 5 (2009), Seiten 257–280.
[3] Fußnote im Zitat: Ein wichtiges Zeugnis dafür nach wie vor: Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz, ausgewählt und eingeleitet von Martin Broszat [1958], München 2006
[4] Fußnote im Zitat: Dies ist eine frühe Einsicht Hannah Arendts. Vgl. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1950], München 2004.

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