Koray Yılmaz-Günay

Antisemitismus in Berlin. Erscheinungsformen und Debatten im Jahr 2007

Gabriel Fréville, Susanna Harms, Koray Yılmaz-Günay (2008): Antisemitismus in Berlin. Erscheinungsformen und Debatten im Jahr 2007. In: → Antifaschistisches Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin e.V., → Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin (Hg.): → Berliner Zustände 2007. Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, Seiten 23–36.

Seit der Welle antisemitischer Vorfälle in Europa zu Beginn des neuen Jahrtausends ist der Antisemitismus stärker in den Blickwinkel von Medien, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gerückt. Und dies nicht ohne Grund: Nach einer repräsentativen Studie waren 2007 15,6% der Deutschen der Meinung, Juden hätten in Deutschland zu viel Einfluss; 17,3% halten die Juden für mitschuldig an ihren Verfolgungen – und nur 43,5 bzw. 50,4% lehnen diese Aussagen völlig ab (vgl. Heitmeyer 2007). Die letzten für Berlin erhobenen Daten stammen aus dem Jahr 2004, als 13% der Berliner/innen den Einfluss der Juden für zu groß befanden (vgl. Niedermayer/Stöss 2005). Darüber hinaus gibt es – neben den polizeilichen Zahlen zu antisemitischen Straf- und Gewalttaten in Berlin – nur wenige quantitative Erkenntnisse über regionale und lokale Ausprägungen des Antisemitismus.

Ein gesamtgesellschaftliches Phänomen

Das wesentliche Motiv des Antisemitismus ist das Bedürfnis nach Erklärung, Lokalisierung und Personifizierung von Missständen im eigenen Lebensumfeld, aber auch im globalen Zusammenhang. Angesichts einer heute immer komplexer erscheinenden, sich schnell verändernden Welt voller vielschichtiger Probleme, in der neue Konfliktlinien beispielsweise zwischen «dem Westen» und «dem Islam» oder dem «alten Europa» und den USA gezogen werden, bekommt der Wunsch nach einem Sündenbock eine neue Aktualität. Das Finden von vermeintlich Schuldigen entlastet in den unterschiedlichsten ideologischen Lagern und Bevölkerungsgruppen von der eigenen Verantwortung für die Gestaltung der Welt.

Als «demokratischen Antisemitismus» bezeichnet der Soziologe Klaus Holz antisemitische Äußerungen, die als «scheinbar legitime Meinungen […] in der demokratischen Öffentlichkeit geäußert» werden (vgl. Holz 2005). Antisemitische Ressentiments in der Tradition des christlichen Antijudaismus und des modernen Antisemitismus gehören immer noch zur Mitte der Gesellschaft und beschränken sich nicht allein auf ihre vermeintlichen Ränder oder Extreme. So werden vor allem im Rechtsextremismus Vorstellungen von «Volk», Kultur, Zugehörigkeit etc., die im gesellschaftlichen Mainstream verankert sind, aufgegriffen und zugespitzt.

amira – antisemitismus im kontext von migration und rassismus

Im Rahmen des Projekts amira entwickelt der Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. Angebote zum Umgang mit Antisemitismus unter jugendlichen Migrant/innen für die offene Jugendarbeit in Kreuzberg und vergleichbaren Stadtteilen. Ziel des von Bund und Land geförderten Modellprojektes ist es, gemeinsam mit Mitarbeiter/innen von Jugendeinrichtungen und von Migrant/innen-Organisationen zu erarbeiten, wie dieses Thema diskutiert und bearbeitet werden kann, ohne dabei stigmatisierende Zuschreibungen zu reproduzieren oder antisemitische Erscheinungsformen aus der Mehrheitsgesellschaft aus dem Blick zu verlieren.

Zentrales ideologisches Bindeglied ist dabei ein an das nationalsozialistische Konzept der «Volksgemeinschaft» anknüpfender Antisemitismus. Der gesellschaftlich weit verbreitete Wunsch nach Entlastung und Abwehr von geschichtlicher «Schuld» verdichtet sich zu einem Geschichtsrevisionismus, der bis hin zu einer Leugnung der Shoah reicht und die NS-Ideologie wieder salonfähig machen soll. Der nationalsozialistisch-rassistischen Propaganda folgend, machen Rechtsextreme die Judenheit für eine moralische und soziale Zersetzung von «Völkern» verantwortlich. Vor allem im Zusammenhang mit der Kritik an ökonomischen, sozialen und kulturellen Globalisierungstendenzen werden immer häufiger antiamerikanische mit völkisch-nationalistischen und antisemitischen Rhetoriken vermischt. Die Vorwürfe der «Inländerfeindlichkeit» und «Erpressung» der Deutschen gesellen sich zum Ideologie-Element des
«ZOG» («Zionist Occupied Government» steht als Chiffre vor allem für die US-amerikanische Regierung – wie eine Marionette sei diese gesteuert von konspirativ agierenden jüdischen Kreisen).

Im Namen der politischen Emanzipation, des Anti-Imperialismus, des Anti-Rassismus sowie der Globalisierungs- und Kapitalismuskritik werden auch in der politischen Linken verkürzende Analysen verfasst, die strukturell eine Affinität oder gar Übereinstimmungen mit antisemitischen Welterklärungen aufweisen. Neben antiamerikanischen werden z.T.
antiisraelische Positionen bezogen, die weit über eine legitime Kritik an den USA und Israel hinausgehen. Personalisierende Kapitalismus- und Imperialismustheorien, die vermeintliche »Schuldige« und »Opfer« identifizieren, führen zur Solidarität mit den realen oder vermeintlichen Verlierer/innen der weltpolitischen Veränderungen sowie «Volksbefreiungsbewegungen» und gehen des Öfteren einher mit einer distanzlosen Akzeptanz antidemokratischer Strömungen im Ausland wie auch aus Migrant/innen-Communitys in Deutschland.

Neben traditionell oder religiös begründeter Judenfeindschaft gibt es antisemitische Einstellungspotenziale und Verhaltensweisen in unterschiedlichen Migrant/innen-Communitys und in Religionsgemeinschaften mit politischem Identitätsangebot. Hier fehlen zuverlässige wissenschaftliche Erkenntnisse über Ausmaß, Ausprägungen und Motive. Neben legalistischen und staatsfeindlichen Ausprägungen islamistischer Propaganda sind es vor allem nationalistische und rechtsextreme Strömungen in den Communitys, die sich in ihren Kämpfen gegen die Moderne antisemitischer Stereotype bedienen. Neben Verschwörungstheorien, die sich z.T. auf die Herkunftsländer beziehen, fallen auch hier primär und sekundär antisemitische Bilder vom «gierigen Juden», von Kinder- und Ritualmorden, die Leugnung der Shoah oder der Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel ins Auge.

Der Nahost-Konflikt stellt (nicht nur, aber auch in diesen gesellschaftlichen Gruppen) einen wichtigen Kontext für antisemitische Äußerungen und gleichzeitig eine bedeutende Projektionsfläche dar. Dieser wird nicht nur zur Entlastung von der deutschen Geschichte genutzt, sondern – als Teil einer vermeintlichen Auseinandersetzung zwischen «dem Westen» und «den Muslimen» – beispielsweise auch zur Solidarisierung türkischstämmiger Jugendlicher mit «den Palästinensern». Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen können in diesem Zusammenhang zu einer «Opferkonkurrenz» führen, in der das eigene Leiden mit der Shoah parallelisiert wird («Wir sind die Juden von heute»).

Die Anpassungs- und Integrationsfähigkeit des Antisemitismus macht eine eindeutige und klar abgegrenzte Zuordnung bestimmter Erscheinungsweisen zu einzelnen Trägergruppen unmöglich. Vom irrationalen Ressentiment oder Reflex bis hin zu gefestigten Weltbildern reicht sein Spektrum, in dem je nach Kontext semantisch unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden: Mal wird die antisemitische Perspektive religiös begründet, mal rassistisch, mal emanzipatorisch, mal kapitalismuskritisch – oder sie benötigt gar keine Begründung, weil das Einverständnis des Gegenübers vorausgesetzt wird.

ANTISEMITISMUS: Begriff und Erscheinungsformen

Antisemitismus umfasst alle Einstellungen, Aussagen und Handlungen, die sich gegen tatsächlich oder vermeintlich jüdische Menschen und Institutionen richten. Diese Feindschaft drückt sich in vielfältigen Formen und Ausprägungen aus. Gemeinsam ist ihnen, dass Juden und Jüdinnen als einheitliches «Anderes» konstruiert werden, dessen Eigenschaften, Einstellungen und Handlungsweisen sich vom Rest der Gesellschaft unterscheiden und das als eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt wahrgenommen wird.

Während der religiös motivierte Antijudaismus vor allem als Legitimationsideologie für das in Abgrenzung zum Judentum entstandene Christentum diente, entwickelte sich aus ihm im ausgehenden 19. Jahrhundert der moderne Antisemitismus. Dieser verstand das Judentum vornehmlich nicht mehr als Religion, sondern als «Rasse», was bedeutete, dass der Verfolgungsdruck nicht mehr durch eine Taufe abgemindert werden konnte. Als «wissenschaftliche» Lehre konstruierte der moderne Antisemitismus ein Kollektiv, dem beliebig Eigenschaften – sogar gegensätzliche wie «kapitalistisch» und «kommunistisch» – zu- und abgesprochen werden können. Das antisemitische Bild von Jüdinnen / Juden stellte bereits zum Zeitpunkt seines Entstehens weder ein Abbild jüdischen Lebens noch eine Reaktion auf tatsächliche Handlungen von Juden und Jüdinnen dar. Theodor W. Adorno nannte den Antisemitismus deswegen «das Gerücht über die Juden».

Der moderne Antisemitismus umfasst weit mehr als Vorurteile und Stereotype: In Zeiten tiefgreifender sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer Entwicklungen, Umbrüche und Krisen (Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung etc.) stellte er im 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ein Identität stiftendes Angebot zur Erklärung der Welt dar, das von breiten Teilen der Bevölkerung bereitwillig angenommen wurde und schließlich im nationalsozialistischen Massenmord gipfelte. Die Verschwörungstheorie von der jüdischen Übermacht, die im Verborgenen agiert, im Hintergrund die Strippen sowohl in der nationalen wie in der internationalen Politik zieht, die Wirtschaft und die Medien beherrscht und der die nicht-jüdische Welt ohnmächtig ausgeliefert ist, hat die Shoah überdauert und dient bis heute in aktualisierten Varianten als Welterklärungsansatz für verschiedene ideologische Lager.

Nach 1945 entwickelte sich vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen der sekundäre Antisemitismus. Die «Verleugnungs- und Verschweigungskultur» (Bildungsteam Berlin-Brandenburg/Tacheles Reden! 2007) im Nachkriegsdeutschland, das eine Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit weitgehend vermied, brachte neue «Argumente» gegen das Judentum hervor, die der Abwehr der Erinnerung und der versuchten Rehabilitation der deutschen Nationalidentität dienen: «Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz» werden Jüdinnen und Juden angegriffen, weil sie schon durch ihre Existenz an die NS-Verbrechen erinnern und so verhindern, dass ein «Schlussstrich» unter die Vergangenheit gezogen werden kann.

Insbesondere seit dem Beginn der zweiten Intifada erlangt gesamtgesellschaftlich zudem ein antisemitisch konnotierter Antizionismus an Bedeutung, der zuvor eher auf die politische Linke beschränkt war: In ihm fungiert der Staat Israel als «kollektiver Jude», der es möglich macht, Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden zu artikulieren, ohne explizit von ihnen zu sprechen. Die Komplexität des Konflikts ignorierend, wird Israel einseitig die Täterschaft, «den Palästinensern» einseitig die Opferrolle im Nahost-Konflikt zugeschrieben. Im Umkehrschluss werden aus den früheren Opfern deutscher Politik die Täter/innen von heute, was häufig genug einer Verharmlosung des Nationalsozialismus und der Entlastung von der Geschichte gleichkommt. Zu den Grenzen legitimer Kritik an israelischer Regierungspolitik vgl. die «Drei-D-Methode» (Dämonisierung, Delegitimierung sowie Anlegen von Doppelstandards) in Sharansky/Dermer 2004.

Wie groß ist das Problem in Zahlen?

Entgegen breiter sozialwissenschaftlicher Debatten und Analysen zum Antisemitismus in Deutschland ist das aufbereitete Wissen zu den lokalen und regionalen Erscheinungsformen sowie möglichen Reaktions- und Bearbeitungsweisen nicht sehr groß. Auch in Berlin sind es vor allem jüdische Organisationen und staatliche Sicherheitsorgane, bei denen das relevante Wissen zusammenläuft, da sich Opfer antisemitischer Übergriffe vorrangig an diese Institutionen wenden.

Der Verein für Demokratische Kultur in Berlin führt seit dem Jahr 2007 eine Chronik, in der antisemitisch motivierte Vorkommnisse in der Stadt dokumentiert werden. Als Quellen dienen Meldungen des Polizeitickers und der Berliner Tagespresse sowie verschiedene andere öffentlich zugängliche Chroniken; dazu gehören die Chroniken von → ReachOut, der → Amadeu Antonio Stiftung, des → American Jewish Committee, des → apabiz sowie der → Netzwerkstelle Licht-Blicke und das «Pankower Register».)

Die in der VDK-Chronik für 2007 dokumentierten 47 Fälle bilden nur einen kleinen Teil der polizeilich erfassten Straftaten ab, da nur ein Teil der Vorfälle in die Öffentlichkeit gelangt. Über die VDK-Chronik für das gesamte Jahr 2007
hinausgehend, weist das LKA für diesen Zeitraum insgesamt 212 antisemitisch motivierte Straftaten aus. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (272 Straftaten) stellt diese Zahl einen Rückgang um 22% dar; bei den antisemitischen Gewalttaten ist jedoch ein Anstieg um mehr als 100% (2007: 9; 2006: 4) zu verzeichnen (vgl. Der Polizeipräsident in Berlin 2008:9). Die VDK-Chronik ist in vier Kategorien eingeteilt, die jedoch nicht immer klar von einander abgegrenzt werden können: So geht etwa Gewalt gegen Sachen in der Regel auch mit Propagandadelikten einher. Trotzdem erscheint eine Auswertung nach Kategorien und nach Bezirken sinnvoll, um zum Beispiel Spielräume für ein zivilgesellschaftliches Engagement zu eröffnen, das es bisher nur in Ansätzen gibt.

An- und Übergriffe auf Personen, Bedrohungen, Beleidigungen und Beschimpfungen
Antisemitisch motivierte verbale und körperliche Gewalt gegen Personen konzentriert sich auf die Innenstadt. Neben je einem Fall in den Bezirken Steglitz-Zehlendorf, Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg sind es insbesondere die Stadtteile Schöneberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg sowie Mitte, in denen Teile des öffentlichen Raums und halböffentliche Räume zu den Orten gehören, an denen Jüdinnen/Juden – oder Menschen, die für jüdisch gehalten werden – (potentiell) häufiger Bedrohungen ausgesetzt sind. Andererseits ist zu vermuten, dass es gerade die Innenstadt ist, in der Menschen darauf vertrauen, sich eher als jüdisch erkennbar geben zu können, wohingegen andere Teile Berlins subjektiv als gefährlicher wahrgenommen werden und daher dort jüdische Symbole gar nicht erst offen getragen werden.

An- und Übergriffe auf jüdische Einrichtungen
Jüdische Einrichtungen konzentrieren sich auf die Bezirke Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf. Die Einrichtungen der Berliner Gemeinde, aber auch nationale und internationale Organisationen tragen zu einer Normalität jüdischen Lebens bei, die es in diesem Ausmaß seit der Shoah in Deutschland nicht gegeben hat. Nichtsdestotrotz ist diese Normalität nur unter großen Anstrengungen aufrecht zu erhalten. Neben der buchstäblich alltäglichen Dimension von Drohbriefen, -mails und -anrufen an die Jüdische Gemeinde sowie den in Berlin ansässigen Zentralrat der Juden hat vor allem der Anschlag auf die Charlottenburger Kindertagesstätte «Gan Israel» – einem der schwersten in den letzten Jahren – verdeutlicht, wie fragil diese Normalität ist. Viele jüdische Einrichtungen müssen von Polizei und Sicherheitsdiensten bewacht werden, und auch Veranstaltungen und Gottesdienste sind meist nur unter Polizeischutz und Sicherheitskontrollen durchführbar.

Schändung von jüdischen Friedhöfen und Gedenkorten für die Shoah
Selbst nach ihrem Tod wird Jüdinnen und Juden keine Ruhe gegönnt. Die Schändung von Friedhöfen, das Herausbrechen von Stolpersteinen, die an die Wohnorte verfolgter Jüdinnen und Juden erinnern, und die Beschädigung von Mahnmalen ist Teil auch der Berliner Realität. Allein das Mahnmal an der Moabiter Levetzowstraße wurde im Jahr 2007 vier Mal geschändet. In einem Amalgam aus Erinnerungsabwehr, Geschichtsrevisionismus und Hass auf Jüdinnen und Juden heute sind es vor allem die nicht polizeilich geschützten Orte und Objekte, die stellvertretend für andere zerstört werden.

Schmierereien und Propagandadelikte
Insbesondere in dieser Kategorie liefert die VDK-Chronik nur einen Ausschnitt aus den Zahlen des Landeskriminalamtes, da es in der Regel nur auffällige Sprühereien, Transparente auf Demonstrationen oder andere spektakulärere Einzelfälle in die Medien schaffen. Die dokumentierten Fälle zeigen, dass es 2007 außer in Treptow-Köpenick und Steglitz-Zehlendorf überall polizeilich relevante Schmierereien gegeben hat; an erster Stelle steht dabei der Großbezirk Pankow.

Es ist aber davon auszugehen, dass auch die Zahlen der Polizei nur einen begrenzten Ausschnitt der Realität zeigen. Es existieren heute immer mehr Orte, Medien und Aktionsformen, die als Vehikel für antisemitische Äußerungen dienen können. Die Palette hat sich nicht zuletzt durch die neuen Medien ganz wesentlich erweitert: antisemitisch konnotierte Israel-Kritik oder Antiamerikanismus auf Parkbänken und Schultaschen, Kritik am «Heuschrecken»-Kapitalismus, HipHop-Songs mit antisemitischen Texten, Schmierereien wie «Radio/TV-Judenfunk» an Hauswänden, Veröffentlichungen der NPD, Fernsehserien in unterschiedlichsten Sprachen, Clips auf Videotauschbörsen, Fans im Fußballstadion, Karikaturen in der Tageszeitung – allein in Berlin werden folglich antisemitische Äußerungen und Schmierereien unzählige Male am Tag gehört und gesehen.

Öffentliche Debatten über Antisemitismus in Berlin

Jenseits einzelner öffentlichkeitswirksamer Vorkommnisse, die wenige Male im Jahr mediale Aufmerksamkeit erlangen, spielen Erscheinungen von Antisemitismus vor allem in der öffentlichen Debatte um menschenfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen in Berlin eine – wenn auch geringe – Rolle. Anders als etwa im Bereich Rassismus gibt es wenig nachbarschaftliches bzw. bezirkliches Engagement gegen Antisemitismus. Zum Teil an einzelne Vorfälle anknüpfend, wurden im Jahr 2007 in Berlin verschiedene Debatten über aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus und ihre Relevanz geführt bzw. fortgesetzt. Im Folgenden sollen einige zentrale Diskussionen nachgezeichnet werden.

Der «Kippa-Test»: Wie gefährlich leben Jüdinnen und Juden in Berlin?
Nach dem Anschlag auf die jüdische Kita in Charlottenburg im Februar 2007 begann in den Medien ein weiteres Mal eine Debatte über die Frage, wie gefährlich das Leben in Berlin für Jüdinnen und Juden ist. Befördert wurde diese Debatte durch den Aufruf des damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe, einmal als Nichtjude mit einer Kippa durch Berlin zu laufen um zu verstehen, was als jüdisch erkennbare Menschen im Alltag auf Berlins Straßen erleben.

Zwei Berliner Tageszeitungen machten daraufhin den «Kippa-Test» – und kamen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen: Während der Tagesspiegel-Autor keinerlei negative Reaktionen registriert (Vornbäumen 2007), kommt der taz-Journalist zu dem Fazit, er hätte sich in den Straßen Nord-Neuköllns mit ihrem hohen Anteil Arabischstämmiger «stellenweise unsicher gefühlt», in Lichtenberger Vierteln mit starker Präsenz von Rechtsextremen dagegen «nur unwohl» (Rother 2007). Die Aussagekraft solcher Experimente ist jedoch begrenzt. Insbesondere der taz-Artikel zeigt, dass solche selektiven Wahrnehmungen von Vorannahmen beeinflusst werden, die wiederum durch mediale Diskurse geprägt sind (vgl. hierzu Kiefer/Seidel 2007), und ein eintägiger Selbstversuch spiegelt selbstverständlich die alltäglichen Erfahrungen und Perspektiven der von Antisemitismus real Betroffenen nur sehr eingeschränkt wider. Auch wenn es wünschenswert wäre, dass die Tag für Tag durch antisemitische Vorkommnisse bedrohte «Normalität» jüdischen Lebens in Berlin auch abseits medienwirksamer Anschläge von der Öffentlichkeit wahrgenommen und problematisiert würde, können derartige Berichte nichtsdestotrotz dazu beitragen, die gesellschaftliche Sensibilität für die Lebensrealitäten von Jüdinnen und Juden in der Stadt zu erhöhen.

Herausforderung für die Pädagogik

Berliner Lehrer/innen und Sozialarbeiter/innen berichten schon seit einiger Zeit, dass «du Jude» unter Jugendlichen ein beliebtes Schimpfwort ist. Verschwörungstheorien wie «Die Juden stecken hinter den Anschlägen vom 11. September» kursieren auf Schulhöfen und in Jugendeinrichtungen. Manche Jugendliche weigern sich, das Jüdische Museum Berlin zu betreten, beispielsweise mit der Begründung, mit dem Eintrittsgeld würden die Israelis ihren Krieg gegen die Palästinenser/innen finanzieren. Meist stehen hinter solchen Aussagen zwar keine festen antisemitischen Weltbilder, aber dennoch fällt es Pädagoginnen und Pädagogen oft schwer zu differenzieren, welche Motivationen dahinter stehen und wie sie am besten darauf reagieren sollen. Es ist anzunehmen, dass sich die Situation in Berlin nicht grundlegend von der anderer deutscher Großstädte unterscheidet. Viele Medienbeiträge beziehen sich jedoch auf Vorfälle und Situationsbeschreibungen aus der Hauptstadt, und auch pädagogische Interventionen wurden in den letzten Jahren vor allem von Berliner Akteuren entwickelt und diskutiert. (Eine Ausnahme stellen hier insbesondere die Jugendbegegnungsstätte → Anne Frank und das → Fritz Bauer Institut aus Frankfurt am Main dar, die sich bereits seit Längerem mit pädagogischen Maßnahmen gegen Antisemitismus beschäftigen.)

Antisemitismus – ein Problem von muslimischen Jugendlichen?
Der mediale Fokus – und zum Teil auch der von Wissenschaft und Politik – lag 2007 wie in den Vorjahren auf antisemitischen Erscheinungsformen, die – zumeist jugendlichen – Migrant/innen mit arabischem bzw. «muslimischem» Hintergrund zugeordnet werden. Diese Betrachtung reiht sich ein in die wissenschaftlich-publizistische Debatte um einen «neuen Antisemitismus», über den seit einigen Jahren diskutiert wird (vgl. z.B. Rabinovici/Speck/Sznaider 2004; Holz 2005; Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank 2006; für eine kurze Zusammenfassung der Debatte vgl. Bergmann 2005).

Weder in Berlin noch im Rest Deutschlands ist Antisemitismus jedoch allein ein Jugendproblem oder eines von Migrant/innen oder Muslim/innen. Weiterhin gehen die meisten polizeilich registrierten Straf- und Gewalttaten gegen (vermeintliche) Jüdinnen und Juden in Deutschland und Berlin von Rechtsextremen aus – auch wenn die aktuellen Debatten die Tendenz aufweisen, Antisemitismus aus den Reihen der Mehrheitsgesellschaft aus dem Blickfeld zu verschieben und die so genannte «Mitte der Gesellschaft» vom Verdacht des Antisemitismus zu entlasten.

Präsent ist Antisemitismus auch auf dem Fußballplatz – nicht nur in Altglienicke, wo vom Schiedsrichter nicht geahndete antisemitische und rassistische Beschimpfungen von Spielern des TuS Makkabi durch Zuschauer/innen bis in das Jahr 2007 hinein die Sportgerichtsbarkeit beschäftigen, sondern auch auf anderen Ost- und Westberliner Plätzen ist der jüdische Verein regelmäßig mit antisemitischen Äußerungen auch von Gegenspielern konfrontiert (vgl. → das Interview mit dem Makkabi-Vorsitzenden Tuvia Schlesinger in der Jüdischen Allgemeinen vom 2008–02–28).

Die DDR – antifaschistisch und trotzdem antisemitisch?
Eine weitere Debatte aus der – in diesem Falle ostdeutschen bzw. Ostberliner – «Mitte der Gesellschaft» entbrannte anhand einer Wanderausstellung der Amadeu Antonio Stiftung mit dem Titel «‹Das hat’s bei uns nicht gegeben!› Antisemitismus in der DDR» (für weitere Informationen zur Ausstellung vgl. → www.amadeu-antonio-stiftung.de). In Begleitveranstaltungen sowie in den Medien stritten (vorwiegend) ehemalige DDR-Bürger/innen sowie Historiker/innen teils heftig darüber, wie die DDR mit der NS-Vergangenheit und insbesondere der Shoah umgegangen sei, ob und in welcher Form es in ihr – auch staatlicherseits – Antisemitismus gegeben habe und ob im DDR-Antizionismus antisemitische Züge ausgemacht werden könnten. Die in Berlin ansässige überregionale Wochenzeitung «Freitag» widmete der Ausstellung sogar eine mehrteilige Debattenreihe. Ein Überblick über eine größere Anzahl an Presseartikeln findet sich auf der Website der → Rosa-Luxemburg-Stiftung [aktualisiert am 2021–06–21]. Kritiker/innen warfen der Stiftung vor, sie habe die DDR ungeachtet ihrer antifaschistischen Aktivitäten einseitig und pauschalisierend als antisemitisch dargestellt, obwohl solche undifferenzierten Aussagen von den Ausstellungsmacher/innen gar nicht getroffen wurden. Der Ostberliner Historiker Kurt Pätzold ging gar so weit, die Arbeit der Stiftung mit Methoden des NS-Propaganda-Ministers Goebbels zu vergleichen (Pätzold 2007). Diese und ähnliche Reaktionen verweisen darauf, dass die von vielen anderen Diskutant/innen sehr begrüßte Ausstellung eine notwendige Auseinandersetzung mit einem «Tabuthema vieler Anhänger des Realsozialismus» (Eschrich 2007) befördert hat. Das im Titel der Ausstellung enthaltene Zitat reproduzierend, wehren die Kritiker/innen häufig all jene Fakten ab, die problematische Tendenzen innerhalb der DDR verdeutlichen.

Lokales und Berlinweites Engagement gegen Antisemitismus

Neben den hohen Fallzahlen ist eine Vervielfältigung der Ausdrucksformen, -medien und -orte antisemitisch motivierter Vorkommnisse in Berlin zu erkennen. Doch welche praktischen Ansätze gibt es, die skizzierten Debatten in konkrete, sozialraumbezogene Gegenmaßnahmen zu übertragen?

Bisher mangelt es nicht nur an einer umfangreicheren, zielgruppenspezifischen Praxisforschung zu aktuellen Erscheinungsformen von Antisemitismus – besonders auffällig ist z.B., dass bisher praktisch keine Geschlechter reflektierende Forschung zu antisemitischen Erscheinungsformen existiert –, sondern ebenso an einem vielfältigen, nachhaltig wirksamen zivilgesellschaftlichem Engagement gegen seine heutigen lokalen Ausprägungen. Analysen wie die 2007 publizierte Studie von Albert Scherr und Barbara Schäuble, die in Gruppeninterviews unter Jugendlichen vorhandene Bilder von Juden und Jüdinnen untersucht haben und aus ihren Untersuchungsergebnissen Folgerungen für die Bildungsarbeit ableiten, wären aus Sicht der Praktiker/innen vor Ort auch auf regionaler und lokaler Ebene wünschenswert und hilfreich für deren tägliche Arbeit.

Einer der wenigen Akteure in Berlin mit einem bezirklichen Fokus ist die → Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA), die sich seit mehreren Jahren schwerpunktmäßig mit lokalen Bearbeitungsmöglichkeiten befasst. Neben «amira» wurde 2007, initiiert von der Bundeszentrale für politische Bildung, ein weiteres Modellprojekt (→ www.glaube-liebe-hiebe.de) gestartet, das mit jungen Muslim/innen in Berlin-Neukölln (und einem vergleichbaren Essener Stadtteil) stadtteilnahe Bildungsangebote zum Themenfeld «Jugendkultur, Religion und Demokratie» entwickelt und in diesem Kontext auch antisemitische Erscheinungsformen mit in den Blick nimmt.

Neben diesen lokal ansetzenden Initiativen gibt es in Berlin weitere Projekte und Einrichtungen, die im Jugend- und im Bildungsbereich gegen Antisemitismus aktiv sind, auf unterschiedliche Art und Weise Öffentlichkeitsarbeit zu diesem Feld bzw. zu einzelnen antisemitischen Vorkommnissen betreiben oder im Rahmen interkultureller, -religiöser oder -nationaler Begegnungen Antisemitismus thematisieren. Wenngleich sich in Berlin, verglichen mit anderen deutschen Städten, eine relativ große Anzahl an Akteur/innen gegen Antisemitismus engagiert, bleibt zu hoffen, dass sich diese vielversprechenden Ansätze in Zukunft noch verbreitern und etablieren werden.

Zu wünschen wäre, dass jenseits von historisch orientierten Aktivitäten wie der Verlegung von Stolpersteinen, Stadtführungen zu jüdischem Leben vor der Shoah, Gedenkveranstaltungen etc. zunehmend auch zivilgesellschaftliche Initiativen entstehen, die sich auf einer konkreten und lebensweltbezogen Ebene mit den Alltagsdimensionen von heutigem Antisemitismus auseinandersetzen und praktische Solidarität demonstrieren.

Literatur:

Bergmann, Werner (2005): → Neuer oder alter Antisemitismus? In: Das Parlament Nr. 15 vom 11.04. [eingesehen: 2008–03–07].

Bildungsteam Berlin-Brandenburg/Tacheles Reden! (2007): Woher kommt Judenhass? Was kann man dagegen tun? Ein Bildungsprogramm. Mühlheim/Ruhr: Verlag an der Ruhr.

Eschrich, Kerstin (2007): → Jüdische Friedhöfe zu Abstellplätzen. In: Jungle World vom 16.04.

Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hg.) (2006): → Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit globalisiertem Antisemitismus. Frankfurt am Main: Campus

Heitmeyer, Wilhelm (2007): → Deutsche Zustände. Folge 6. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Holz, Klaus (2005): → Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft. Hamburg: Hamburger Edition.

Kiefer, Michael/Seidel, Eberhard (2007): → Mit dem Imam gegen Judenhass. In: Taz vom (15.03.) [eingesehen 2008–04–30].

Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (2005): → Rechtsextreme Einstellungen in Berlin und Brandenburg. Handout zur Pressekonferenz [eingesehen 2008–03–10].

Pätzold, Kurz (2007): Du sollst nicht falsch Zeugnis geben. Vorab: Notizen zu einer Ausstellung über Antisemitismus in der DDR. In: → Neues Deutschland vom 07./08.04.

Der Polizeipräsident in Berlin/LKA 5 (2008): → Lagedarstellung der politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2007, Seite 9 [eingesehen 2008–04–30].

Rabinovici, Doron/Speck, Ulrich/Sznaider, Natan (2004): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rother, Richard (2007): → Mit der Kippa durch Berlin. In: Taz (02.03) [eingesehen 2008–04–30].

Scherr, Albert/Schäuble, Barbara (2007): «Ich habe nichts gegen Juden, aber…» Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. In: Amadeu Antonio Stiftung (Hg.): → «Ich habe nichts gegen Juden, aber…» Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus [eingesehen 2008–04–30].

Sharansky, Natan/Dermer, Ron (2004): The Case For Democracy. The Power of Freedom to Overcome Tyranny and Terror. New York: PublicAffairs, Seiten 224 ff.

Vornbäumen, Axel (2007): → Die Hutprobe. In: Der Tagesspiegel (09.03) [eingesehen 2008–04–30].

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