Koray Yılmaz-Günay
Tugendterror

Braucht es Unterstriche und/oder Sternchen, um ein guter Mensch zu sein?

Als die Zeitschrift Gigi eingestellt wurde, schrieb ihr Chefredakteur zu den Gründen u.a.:

Es fehlte nicht wirklich an Geld, Gigi hat stets schwarze Zahlen geschrieben. Vielmehr wäre eine neue, mindestens eine personell erweiterte Redaktion gebraucht worden. Doch in Zeiten, da immer mehr junge Menschen als Berufswunsch «irgendwas mit Medien» angeben (irgendwas mit Rechtschreibung und Grammatik wäre zunächst erfreulicher), hat ein journalistisches Medium es schwer, das gedruckt wird, das nicht flüchtig ist wie eine schnell erstellte Website im Internet oder ein eitles Blog zur gepflegten Selbstbespiegelung.

Ich finde das «Irgendwas mit Rechtschreibung und Grammatik» selbstverständlich sehr witzig, weil es sich über die Verhunzung lustig macht, ein bisschen elitär-konservativ ist – und damit die eigene Zugehörigkeit zu was Bessrem betont. (Und – klar – auch, weil es eine schlimme Realität beschreibt.)

Der Reflex, die Großschreibung von Substantiven oder das obsessive Setzen von Kommata zu verteidigen, und die Pickel, die manchen am Po wachsen, wenn sie an den Gender-Gap («Kleinstkreditnehmer_innen») oder das Gender-Sternchen denken, wie etwa beim Wort «Sprachfetischist*innen», erinnern mich immer an Eike Stedefeldts Bemerkung. Und daran, dass ich bei aller Liebe zu ihr die Verteidigung der Großschreibung und das Sich-Sträuben gegen geschlechtergerechte Schreibweisen – und ich meine nicht: «Frauen auch berücksichtigen», sondern alle (vorhandenen und möglichen) Geschlechter – unnötig, hässlich und falsch, alles in allem also schlecht finde.

Die bizarren Beispiele, die vermeintlich zeigen sollen, wie wichtig die Großschreibung von Nomen und manches Komma sind:

  • Hängen, nicht begnadigen! – Hängen nicht, begnadigen!
  • Wäre er doch nur Dichter… – Wäre er doch nur dichter…
  • Der gefangene Floh… – Der Gefangene floh.

tun alle so, als würde Sprache in isolierten (und isolierbaren) Sätzen vonstatten gehen. Dies müsste bedeuten, dass quasi alle anderen Sprachen, die ohne großgeschriebene Substantive auskommen, die sie Sprechenden unnötig in Lebensgefahr bringen:

Komm, wir essen Opa!
Komm, wir essen, Opa!

Satzzeichen retten Leben!

Das ist ganz offenbar unlustig und -sinnig. Genauso wie das Pochen auf Studien, die mit Sprachkompetenten durchgeführt werden und dann «belegen», dass die Großschreibung das Lesen und Verstehen strukturiere und damit erleichtere. In Wahrheit erschwert die Großschreibung für sehr viele andere das Erlernen der Schriftsprache, und zwar für Kinder, die in die Sprache hineingeboren werden und deren Erfahrung in der Schule das Scheitern ist und bleibt, wie für diejenigen, die sie später erlernen wollen oder müssen. Es ist (mir) nicht bekannt, dass Menschen, die vor allem Englisch, Französisch oder Polnisch sprechen, die Realität später oder nur eingeschränkt wahrnehmen. Dass sie orientierungslos vor Druckwerk, Fernsehen, Internet oder Radio sitzen und sich fragen, woran die Orientierungslosigkeit denn nun liege, ohne es je zu verstehen.

Funktionierende (gelingende) Kommunikation kann nicht als «Selbstgespräch» gedacht werden; sie ist ursächlich und immer ein gesellschaftliches Phänomen. Sie findet also mit anderen, vor allem aber mit Kontext statt. Und zwar Kontext, der in der jeweiligen Situation entsteht, aber auch Kontext, der seit Jahrhunderten sedimentiert ist. Kontext, den sich niemand aussucht, sondern der bereits vor den Sprechenden da war. Und nach ihnen da sein wird. Das hat damit zu tun, dass üblicherweise niemand die Wörter oder die Assoziationen, die sie hervorrufen, selbst erfindet. Ähnlich ist es mit den Geschlechtern in der Sprache – und ich meine hier nicht:

  • die absurdgenugen Artikel für «der Gast» und «der Akteur» (Gemeintes weder maskulin noch feminin)
  • «die Braut», «die Witwe», «die Hexe» (unlustiger Weise die drei Nomen mit generischem Femininum, die ich kenne) oder
  • «der Kühlschrank», «die Panne», «das Kruzifix», die selbst beim schlechtesten Willen kein «Geschlecht» benötigen, auch kein bloß grammatisches, um vollwertige Gegenstände und Sachverhalte im Deutschen zu sein.

Die erste Sprache, die ich sprechen lernte, verfügt über fast kein grammatisches Geschlecht. Statt «er, sie, es» und «der, die, das» und umständliche Wendungen wie «der*die Kettenraucher*in» oder «keine_r kennt den die Nachbar*innen» gibt es da einfach ein Pronomen für alle und alles – und gar keine bestimmten Artikel. Ich fühle mich dadurch nicht eingeschränkt, dass ich nicht weiß, ob ağaç der, die oder das Baum ist. Ich fühlte mich dadurch nicht eingeschränkt, dass ich anhand des Vornamens (auch geschlechtsneutral) oder der Amtsbezeichnung von Tansu Çiller nicht gemerkt hätte, ob es sich bei ihr um eine Ministerpräsidentin oder einen Ministerpräsidenten handelte. Muss ich das überhaupt wissen? Ich glaube nicht. Und zugleich: Ich fürchte doch.

Tansu Çiller ist, das lässt sich sicher sagen, trotz ihres biologischen Geschlechts Ministerpräsidentin geworden (vermutlich aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit, die schwerer wog, und vor allem den «Reformen», für die sie stand und aufgrund derer viele andere fielen, zum Beispiel in Armut). In einer patriarchalen Gesellschaft mag es nützlich sein, auf systematisch bestehende – also vom individuell Gemeinten unabhängige – Benachteiligung wegen k/eines Geschlechts hinzuweisen. Dafür mag es sinnvoll sein, eine Vorstellung von Geschlecht zu erhalten, solange die Ungleichheit aufgrund dieser Einteilung besteht. Schließlich ist beispielsweise die Türkei (oder Aserbaidschan) ja trotz GrammatischesGeschlechtLosigkeit kein Hort der Emanzipation (weder für Cis-Frauen noch andere Geschlechter). Das Türkische hat aber, auch ohne grammatisches Geschlecht, Wege gefunden, von der Benachteiligung der einen und der Bevorteilung der anderen zu sprechen. In Geschriebenem, bei Frauentags- und CSD- und Trans-Pride-Demonstrationen, bei denen Zehntausende auf die Straße gingen und gehen.

Ach ja, eine Sache noch: Dem Anschein nach war in der «Vergangenheit» wirklich die ganz überwiegende Mehrzahl derer, von denen etwas überliefert ist (Staatsoberhäupter, herausragende Intellektuelle, Leute, die gemalt, gedichtet oder bildgehauen, Menschen, die Religionen gestiftet oder am Leben erhalten haben…) «männlich». Mit diesem «War» ist das aber so eine Sache. Ich glaube – wie hoffentlich viele, viele, viele andere –, dass «Geschichte» nicht existiert, sondern geschrieben (also geMacht) und gelegentlich auch neu-geschrieben, also verändert wurde. Zum einen ist überhaupt nicht klar, wer aus welchen Gründen die ganzen Auslöschungen (etwa von Frauen) vollzogen hat, die seit ein paar Jahrzehnten mühsam rekonstruiert werden. Zum anderen ist noch viel weniger klar – weil es Spiegel Online noch gar nicht so lange gibt –, als «was» diese Menschen sich definiert haben. Oder ob sie sich überhaupt definiert haben. Und für den Fall, dass sie sich definiert haben, ob nicht andere «Merkmale» trotzdem ausschlaggebender waren für den Fakt, dass sie in Positionen kamen, von denen angenommen wurde, eine Überlieferung würde sich lohnen. Wenn die binäre Einteilung der Menschheit in «Frauen» und «Männer» in Europa erst mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft verfestigt wurde, wofür eine Menge spricht, und dann über den Kolonialismus (in ihrer aktuellen Form) quasi in die ganze Welt herum-«zivilisiert» wurde, warum soll sich dann, solange es ein grammatisches Geschlecht gibt, nicht über einzelne Herrschende als «französische_r König_in» oder über Kunstschaffende als «niederländische Maler*innen» oder «italienische Komponist*innen» sprechen lassen? Ich glaube nicht, dass es ihre Totenruhe wesentlich beeinträchtigen würde. Wenn in einem Archiv eines Tages ein Dokument von Karl dem Großen auftaucht, in dem es heißt: «Ich als Cis-Mann verfüge, dass fürderhin…», lässt sich im Zeitalter der Digitalisierung der Wikipedia-Eintrag bestimmt schnell wieder ändern.

Es gibt hässliche, falsche und also auch schlechte Beispiele wie «Gäst_innen» und «Mitglieder*innen», die mir in unschöner Regelmäßigkeit begegnen, klar. Aber mir begegnen noch viel häufiger andere anstößige – oft wesentlich anstößigere – Beispiele für die Verschandelung von Sprache. Nehme ich sie hin? Ja, weil ich es muss. Ich lebe in einer Gesellschaft, die von Ungleichheit geprägt ist. Von vielen verschiedenen Ungleichheiten, die zum Teil verschachtelt vorkommen. Ich werde nur einen Teil von ihnen – und nur gemeinsam mit anderen – verändern können. Bis dahin werde ich einen Teil von dem ertragen müssen, was mir nicht gefällt. Aber das tue ich ohnehin und immerzu. Bei Beipackzetteln, die ich nicht verstehe, bei Gesprächen in der U-Bahn, die ich lieber nicht verstehen würde, bei Reklame-Kampagnen, die besser nie entstanden wären, bei Reden im Bundestag, die lieber im begehbaren Kleiderschrank in der Privatheit der eigenen Wohnung gehalten worden wären etc. Die Normalisierung von Ekel wäre nicht schlecht.

Es ist nicht so, dass eine schlechte Gesellschaft mit einer von ihr unberührten, sehr guten Sprache korrespondiert. Es ist so, dass das schlechte Bestehende sich auch in der bestehenden Sprache niederschlägt. Nicht nur niederschlug, sondern: Wir haben als aktuell Sprechende/Schreibende einen Einfluss auf Veränderungen, die ohnehin immer schon stattgefunden haben und so auch heute stattfinden. Ich freue mich auf bessre Zeiten. Der Teil des Niederschlags, den ich bis dahin zu verantworten habe, wird bei allen Einwänden mit Sternchen und Unterstrichen und der Vermeidung von Geschlecht und dem nachträglichen Korrigieren von Geschriebenem und Gesagtem einhergehen. Braucht es Unterstriche und/oder Sternchen, um ein guter Mensch zu sein? Ich bin sicher, dass ja. Zumindest für den Augenblick. Am Ende ist ihnen der zeitige Tod zu wünschen, der das Binnen-I ereilt hat.

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