Koray Yılmaz-Günay
Tugendterror

Das Verlangen nach Wahrheit und Selbsterkenntnis, um jeden Preis und gegen guten Rat, zwei Beispiele:

In Nietzsches «Geburt der Tragödie» jagt König Midas lange nach «Silen», einem Dämon, der ihm sagen soll, was das Allerbeste für den Menschen sei. Nach langer Jagd ist der König tatsächlich erfolgreich – aber der Dämon schweigt, bis er genötigt wird zu sprechen:

Was zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Ersprießlichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben.

Das war nicht, was Midas sich erhofft hatte. Ähnlich ging es einem anderen Herrscher, der den (un-ironisch: blinden) Seher Teiresias zwingen will, ihm mitzuteilen, was er weiß:

TEIRESIAS:
Nur mich zu kränken meid ich wie dich selbst. Wozu
Dies’ leere Forschen? Nichts erfährst du doch von mir.
[…]

ÖDIPUS:
Was aber? Nochmals sag es, lehr es deutlicher!

TEIRESIAS:
Begriffst du nicht mein Reden, oder prüfst du mich?

ÖDIPUS:
Nicht, dass ich klar es wüsste. Wieder sag es drum.

TEIRESIAS:
Du seist der Königsmörder, den du suchen willst.
[…]

ÖDIPUS:
Hat Kreon, hast du selber solches ausgedacht?

TEIRESIAS:
Nicht Kreon droht dir Leides, nur du selbst allein.
[…]

TEIRESIAS:
Wiewohl du herrschest, bleibet doch mir gleiches Recht
Zu gleicher Antwort; dessen hab auch ich Gewalt.
[…]
Vernimm, dieweil du höhntest auch als Blinden mich:
Auch sehend schaust du deines Jammers Größe nicht,
Noch wo du wohnest noch mit wem dein Leben führst.
Denn weißt du, wer dich zeugte? Nein, unwissend bist
Du Feind den Deinen, unten und hier oben auch.
[…]
Und wie du hell siehst heute, schaust du Nacht sodann.

Auch nicht das Drehbuch, dass der Herrscher sich erhofft hatte: Am Ende sticht er sich die Augen aus, mit dem Haarschmuck seiner Mutter-Ehefrau. Er verflucht den Hirten, der ihn als Kind vor dem Tod bewahrt hatte.

Keine Moral von der Geschicht. Nur eine Beobachtung. Oder zwei.

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