Koray Yılmaz-Günay
Interviews

«Der Ausschluss der Menschen von politischer Teilhabe ist eine Schande»

Roberto Jurkschat (2021):  Berliner Migrationsrat über Wahlrecht: «Der Ausschluss der Menschen von politischer Teilhabe ist eine Schande». In: RBB24.de.

790.000 nicht-deutsche Berliner:innen haben bei der Bundestagswahl, der Berlin-Wahl und beim Volksentscheid keine Stimme. Koray Yılmaz-Günay vom Berliner Migrationsrat spricht im rbbl24-Interview darüber, was das für die Stadt bedeutet. Mehr als jede:r dritte Volljährige in Berlin ist von der Wahl der Parlamente auf Länder- und Bundesebene ausgeschlossen. Koray Yılmaz-Günay, Geschäftsleiter des Berliner Migrationsrates, fordert eine neue Debatte über Teilhabe in der Demokratie – und darüber, was es heißt, deutsch zu sein.

rbb|24: Herr Yılmaz-Günay, es gibt viele Menschen, die in Berlin aufgewachsen sind und aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht wählen dürfen. Was bedeutet das für diese Stadt?

Auf jeden Fall ist das ein trauriger Dauerzustand, weil es seit Ende der 1980er Jahre immer wieder Versuche gegeben hat, auf Landes- oder Bundesebene ein Wahlrecht für diese Menschen einzuführen. Die Wahlberechtigung für Menschen, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben, ist eine wichtige Forderung.

Man sollte aber nicht nur auf die parlamentarischen Wahlen schauen. Nehmen Sie den Volksentscheid zur Zukunft des Tempelhofer Feldes. Da durften Hunderttausende, die in Neukölln, Tempelhof oder Kreuzberg wohnen, nicht mitentscheiden, was mit dem Gelände des ehemaligen Flughafens passieren soll. Nehmen Sie das Bürgerbegehren «Deutsche Wohnen enteignen». Da waren Zehntausende Unterschriften nicht gültig, weil die Unterschreibenden nicht im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft sind. Diese Menschen sind aber Mieterinnen und Mieter, die sehr wohl ein berechtigtes Interesse an dem Thema haben.

Diese fehlende Teilhabe betrifft also ganz konkretere Fragestellungen, bei denen die Meinung direkt betroffener Menschen nicht gefragt ist. Dieser Ausschluss der Menschen von politischer Teilhabe ist für mich eine Schande.

Würden Sie sagen, alle Menschen mit Wohnsitz in Berlin sollten automatisch wahlberechtigt sein?

Bei Leuten, die aus dem Ausland zugezogen sind, würde ich sagen, dass nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer, wenn der Lebensmittelpunkt in Berlin ist, die Leute natürlich wahlberechtigt sein sollen – und zwar nicht nur bei Wahlen, sondern auch bei den Instrumenten der direkten Demokratie.

Rechtlich ist das aber noch immer an die Staatsbürgerschaft gekoppelt. Vor dem Jahr 2000 hat die Nationalität der Eltern darüber entschieden, welche Staatsangehörigkeit ein Kind bekommt. Da hat die biologische Herkunft über die gesellschaftliche Teilhabe entschieden. Im Jahr 2000 wurde das Optionsmodell eingeführt, seitdem dürfen immerhin viele Menschen, die in Deutschland geboren wurden, bis zum 18. Lebensjahr mehrere Staatsangehörigkeiten haben. Danach müssen sie entscheiden, welche sie behalten wollen.

Ich würde aber grundsätzlich sagen, dass Leute, die in Deutschland geboren wurden, automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft haben sollten.

Nehmen Sie eine große Frustration wahr bei Berlinerinnen oder Berlinern, die nicht zur Wahl dürfen?

Jedenfalls ist das Bedürfnis zur Mitbestimmung sehr groß. Schauen sie sich an, wie viele Vereine und Organisationen bei uns im Migrationsrat vernetzt sind. Die Menschen wollen für sich und ihre Communitys etwas erreichen. Und traditionellen Kanäle von Parteien, über Gewerkschaften und Berufsverbände, werden häufig als geschlossen empfunden. Oft fehlt da das Interesse, die ganze Stadtbevölkerung abzubilden.

Bei gesellschaftlicher Teilhabe geht es aber um viel mehr als um das Wahlrecht. Das ist nur ein Mosaiksteinchen, mit denen Leuten mitgeteilt wird, ihr gehört nicht dazu. Das wird Menschen in vielen Kontexten vermittelt, bei der Wohnungssuche, bei Polizeikontrollen oder auf dem Arbeitsmarkt. Nach meiner Erfahrung führt das zu einem Rückzug der Menschen aus politischen Debatten. Nach dem Motto: Ich habe eh nichts zu sagen, also halte ich mich einfach raus.

Vielleicht aber haben diese Leute ganz legitime Bedürfnisse und es wäre viel besser, sie würden sich einmischen. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass es einerseits einen Trend gibt zu mehr Bürgerentscheiden und direkter Demokratie auf allen Ebenen. Gleichzeitig wird dabei oft übersehen, dass ganz große Teile der Stadtgesellschaft ständig davon ausgeschlossen werden.

Was müsste sich denn aus Ihrer Sicht für eine bessere gesellschaftliche Teilhabe ausgeschlossener Gruppen in der Stadtbevölkerung ändern?

Es braucht einfach ein diskriminierungskritisches Selbstverständnis in dieser Gesellschaft – und das ist mit dem Wahlrecht noch längst nicht getan. Wenn ich in meinem Alltag, in meinem Wohnumfeld oder bei der Berufsausbildung die ganze Zeit gesteckt kriege, dass es mit der Gleichheit gar nicht so weit her ist, dann macht das natürlich etwas mit mir.

Eine einfache Änderung des Wahlrechts würde da vermutlich nicht ausreichen, denn Gleichheit auf dem Papier bringt nicht viel. Das zeigt auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die im Grundgesetz verankert ist. Mitte der 1990er wurde der Passus erweitert, weil man festgestellt hat, dass die formale Gleichberechtigung in vielen Bereichen keine reale Gleichberechtigung ist. Neu hinzugekommen ist deshalb ein wichtiger Aspekt, nämlich dass der Staat auch für die Durchsetzung dieser Gleichberechtigung Verantwortung trägt. Das ist in Bezug auf Migration und Rassismuserfahrungen genauso. Man kann nicht sagen, ihr seid jetzt formal gleichgestellt, und dann ist gut.

Woran scheitert eine Änderung des Wahlrechts denn aus Ihrer Sicht schon seit so langer Zeit?

Den letzten Versuch eine Reform auf Landesebene durchzusetzen, gab es in der letzten Legislatur, als SPD und CDU regiert haben. Da haben die Grünen und die Linken im Abgeordnetenhaus versucht, das Landeswahlrecht zu ändern und sind gescheitert, weil das in Bundeszuständigkeit fällt. Das Bundesverfassungsgericht hat damals gesagt, dass deutsch und wahlberechtigt ist, wer eben deutscher Herkunft ist.

Es wurde aber auch ausdrücklich gesagt, dass das Konzept der Staatsbürgerschaft auf einem gesellschaftlichen Verständnis beruht, das sich auch ändern kann. Diese Entscheidung ist jetzt 30 Jahre her. Eigentlich bräuchte es eine Initiative auf Bundesebene, die sagt, wir wollen den Begriff des Deutschseins von «Volk» zu «Bevölkerung» ändern und ihn davon abhängig machen, ob jemand seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland hat.

Was glauben Sie, wie sich die Zusammensetzung im Abgeordnetenhaus ändern würde, wenn auch Bürgerinnen und Bürger ohne deutsche Staatsangehörigkeit wählen dürften?

Ich würde hoffen, dass der Zulauf zu rassistischen Parteien prozentual weniger wird, wenn man tatsächlich die Stadtgesellschaft wählen lässt und nicht nur einen Ausschnitt der Stadtgesellschaft. Die Stimmen der AfD würden sich also möglicherweise verringern, weil Leute, die von Ausschluss betroffen sind, hoffentlich nicht ihr Kreuz bei der AfD machen würden.

Vielleicht würde es aber auch noch eine andere Erkenntnis geben. Nämlich dass in den Bezirksverwaltungen, der Senatsverwaltung, der BVG, den Anstalten und Stiftungen des Landes Berlin, den Wohnungsbauunternehmen eine Entwicklung nachgeholt werden muss. Bei all diesen Arbeitgebern herrscht eine völlig ungleiche Repräsentation der Stadtgesellschaft. Wünschenswert wäre eine Einsicht, dass man daran etwas ändern müsste.

Es gibt ja überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass Leute mit Migrationshintergrund nicht in den öffentlichen Dienst wollen. Und dass sie relativ gut bezahlte, unbefristete Stellen ablehnen würden. Sondern es gibt offenbar Mechanismen, dass Menschen dort herausgehalten werden.

Welches sind für nicht-deutsche Berliner aus Ihrer Sicht die wichtigsten politischen Anliegen?

Das eine wäre genau dieser Punkt, also eine Repräsentation im öffentlichen Dienst, die dem Bevölkerungsanteil ungefähr entspricht. Im Grunde müsste die Repräsentation bei allen Arbeitgebern verbessert werden, bei denen das Land Berlin Eigentümer oder zumindest Mehrheitseigentümer ist. Die Belegschaft könnte dort zumindest so verändert werden, dass die Stadtgesellschaft sich da widerspiegelt. Es wäre ja kein Problem zu sagen, man möchte, dass die Bevölkerung von Berlin in den Berliner Institutionen vorkommt.

Außerdem müsste das Bildungssystem inklusiv sein und die Lebensrealität aller Berlinerinnen und Berliner abbilden. Das Schulgesetz ist vor zwei Legislaturperioden reformiert worden und darin steht immer noch, dass die Grundlagen unserer Zivilisation die griechische Antike und das Christentum sind. Man könnte ein Schulgesetz machen, in dem steht, dass ganz viele verschiedene Religionen und Weltanschauungen in dieser Stadt repräsentiert sind, die alle einen Einfluss haben auf die Berliner Kultur.

Herr Yılmaz-Günay, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Roberto Jurkschat.

Sendung: Inforadio, 14.07.2021, 7 Uhr

back to top