Übersetzung der letzten Kolumne von Hrant Dink in → AGOS 564 vom 19. Januar 2007, dem Tag seiner Ermordung. Die Übersetzung ist erschienen in «Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur» 2/2007 (März/April 2007), Seiten 83–85. Das Original findet sich unter anderem auf der Website der → Hrant-Dink-Stiftung.
Mein Gemütszustand: eine aufgescheuchte Taube
Auf einer Konferenz 2002 hatte ich gesagt, dass ich «kein Türke sei…, dass ich aus der Türkei stamme und Armenier bin.» Seit drei Jahren lief nun dieses Verfahren wegen «Herabwürdigung des Türkischseins».
Ich wusste nicht einmal, wie es um dieses Verfahren stand. Ich kümmerte mich überhaupt nicht darum. Befreundete Anwält_innen aus Urfa vertraten mich bei den Gerichtsverhandlungen. Auch den Gang zur Staatsanwaltschaft in Şişli nahm ich auf die leichte Schulter. Ich vertraute dem, was ich geschrieben hatte, ich war mir meiner Absichten sicher. Die Staatsanwaltschaft würde sofort erkennen, dass sich der eine Satz in meinem Text nicht isoliert vom ganzen Text verstehen ließe, der in seiner Gesamtheit sicher keine Absicht erkennen lässt, «das Türkischsein herabzuwürdigen». Diese Komödie würde ein Ende finden. Ich war mir sicher, dass nach Abschluss der Untersuchungen kein Verfahren eröffnet werden würde.
Ich war mir meiner selbst sicher
Doch welche Verblüffung! Es wurde doch ein Verfahren eröffnet. Dennoch verlor ich nicht meinen Optimismus. So wenig, dass ich bei einer Liveschaltung ins Fernsehen dem Anwalt Kerinçsiz, der mich beschuldigte, sogar sagen konnte, er solle sich «nicht so sehr ereifern. Dass ich aus diesem Verfahren straffrei herausgehen werde. Dass ich dieses Land verlassen würde, sollte ich mit einer Strafe belegt werden.» Ich war mir meiner selbst sicher. Ich hatte mit meinem Text weder die Absicht verfolgt, noch je den Vorsatz gehabt, das Türkischsein herabzuwürdigen. Wer meine Kolumnen liest, würde das sofort klar und deutlich erkennen. Genau das sagte auch der Bericht der Sachverständigenkommission, die aus drei Lehrenden der Universität von İstanbul zusammengesetzt war. Es gab für mich keinen Grund zur Beunruhigung. In diesem oder jenem Stadium des Prozesses würde man sicher vom Falschen ablassen.
Mich zur Geduld ermahnend…
Man ließ jedoch nicht ab. Die Staatsanwaltschaft wollte, dass ich trotz des Sachverständigengutachtens bestraft werde. Das Gericht verurteilte mich zu sechs Monaten Haft. Als ich von der Verurteilung erfuhr, befand ich mich plötzlich unter dem bittren Druck der Illusionen, die ich mir im Prozessverlauf gemacht hatte. Ich war perplex… Meine Kränkung und Auflehnung hätten nicht schärfer sein können. Ich hatte tage- und monatelang alles erdulden können, weil ich mir innerlich sagte: «Wartet nur auf das Urteil, wenn ich erst einmal freigesprochen bin, werdet ihr bereuen, was ihr jetzt sagt und schreibt.» Zu jeder Verhandlung wurde in Zeitungsartikeln, Kolumnen und Fernsehprogrammen zur Sprache gebracht, dass ich gesagt hätte, «türkisches Blut ist giftig.» Ein ums andere Mal wurde ich als «Türk_innenfeind» berüchtigter gemacht. In Gerichtsgängen griffen mich Faschist_innen mit rassistischen Beschimpfungen an. Auf Transparenten hagelte es Beleidigungen. Hunderte Drohungen per Telefon, e-Mail und Post trafen schon seit Monaten ein – ihre Zahl erhöhte sich von einem ums andere Mal. Ich ertrug das alles damit, dass ich mich zur Geduld ermahnte und auf den Freispruch wartete. So oder so würde mit dem Urteilsspruch die Wahrheit ans Licht kommen und diese Menschen würden sich schämen für das, was sie getan hatten.
Meine einzige Waffe: die Aufrichtigkeit
Das Urteil wurde gesprochen – und all meine Hoffnungen wurden zunichte. Ich befand mich in der beklommensten Situation, in der ein Mensch nur sein kann. Das Gericht hatte im Namen des «türkischen Volkes» entschieden und juristisch bestätigt, dass ich das «Türkischsein herabgewürdigt» habe. Ich hätte alles ertragen, nur das zu ertragen war mir unmöglich. Meinem Verständnis nach war die Herabwürdigung von Menschen, mit denen man zusammenlebt, aufgrund irgendwelcher ethnischen oder religiösen Verschiedenheit Rassismus – daran gab es nichts Verzeihliches. In diesem Gemütszustand habe ich den Presse- und Medienvertreter_innen, die wissen wollten, ob ich «wie angekündigt das Land verlassen werde», folgende Erklärung abgegeben: «Ich werde mich mit meinen Anwält_innen beraten. Ich werde beim Revisionsgericht Berufung einlegen – und wenn nötig, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Sollte ich nicht von einer der Instanzen unbelastet wiederkehren, werde ich mein Land verlassen. Denn jemand, der wegen so etwas rechtskräftig verurteilt wurde, hat meiner Meinung nach kein Recht mehr, mit den Menschen zusammenleben, die er so herabgewürdigt hat.» Wie immer war ich emotional. Meine einzige Waffe war meine Aufrichtigkeit.
Schwarzer Humor
Aber sehen Sie, was passierte: Die tiefe Macht, die mich in den Augen der Menschen in der Türkei isolieren und zur offenen Zielscheibe machen will, nahm auch diese Erklärung zum Vorwand. Es wurde ein weiteres Verfahren eröffnet, Grund: versuchte Beeinflussung der Justiz. Alle Presse- und Medienorgane hatten diese Erklärung gebracht, aber der Stachel im Fleisch war die Berichterstattung in AGOS. Die AGOS-Verantwortlichen und ich sollten also verurteilt werden wegen Beeinflussung der Justiz. Das ist vermutlich das, was sich «schwarzer Humor» nennt. Ich bin der Angeklagte, wer könnte mehr Anrecht darauf haben als ein Angeklagter, die Justiz zu beeinflussen? Es ist die Komik an der Sache, dass der Angeklagte angeklagt wird, weil er die Justiz beeinflussen will…
«Im Namen des türkischen Staates»
Ich muss gestehen, ich habe mein Vertrauen in das «Rechtswesen» und die «Justiz» in der Türkei mehr als verloren. Wie sollte ich es auch nicht verlieren? Diese Staatsanwält_innen und Richter_innen haben doch irgendwo studiert und an einer juristischen Fakultät abgeschlossen, oder? Sollten sie nicht verstehen können, was sie lesen? Aber sehen Sie, die Justiz in diesem Land ist, wie selbst viele Staatsmänner und Politiker_innen es zur Sprache bringen, nicht unabhängig. Die Justiz schützt nicht die Rechte der Bürger_innen, sondern den Staat. Die Justiz steht nicht an ihrer Seite, sondern unter seinem Regiment. Ich bin mir vollkommen sicher, auch wenn es bei meiner Verurteilung hieß: «Im Namen des türkischen Volkes», ist es doch offensichtlich, dass dieses Urteil nicht «im Namen des türkischen Volkes», sondern «im Namen des türkischen Staates» gefällt wurde. Also würden meine Anwält_innen in Berufung gehen, aber wer sollte denn garantieren, dass die tiefen Mächte, die sich entschieden hatten, mich zurechtweisen, nicht auch dort aktiv waren? Darüber hinaus kamen ja auch beim Berufungsgericht nicht immer fehlerfreie Urteile zustande. Hatte nicht gerade das Berufungsgericht die ungerechten Urteile unterschrieben, die den Stiftungen der [griechischen, armenischen, jüdischen] Minderheiten den Grundbesitz nahmen?
Trotz der Bemühungen der Generalstaatsanwaltschaft
Also haben wir einen entsprechenden Antrag gestellt, was aber ist passiert? Wie in dem Kommissionsbericht hat auch die Generalstaatsanwaltschaft keinen Straftatbestand begründen können und meinen Freispruch gefordert. Nichtsdestotrotz befand mich das Berufungsgericht für schuldig. So sicher ich mir war, was ich geschrieben hatte, so sicher hatte es auch die Generalstaatsanwaltschaft am Berufungsgericht gelesen und verstanden. Deswegen widersprach sie dem Urteil und das Verfahren kam zum Obersten Berufungsgericht. Aber, was soll ich sagen, wieder stand diese große Macht hinter den Kulissen, die beschlossen hatte, mich in meine Schranken zu weisen. Das ließ sie mich in jedem Stadium des Prozesses spüren, mit Methoden, die ich nicht kennen konnte. Schließlich verkündete auch das Oberste Berufungsgericht mit Stimmenmehrheit, dass ich das Türkischsein herabgewürdigt habe.
Wie eine Taube
Es steht außer Zweifel, dass diejenigen, die mich isolieren und schwächen wollten, die sich angestrengt hatten, mich ohne Verteidigung dastehen zu lassen, ihr Ziel erreicht haben. Bereits jetzt haben sie mit den schmutzigen und unwahren Behauptungen, die sie in der Gesellschaft gestreut haben, eine nennenswerte und nicht gerade kleine Gruppe geschaffen, die Hrant Dink als einen sieht, der das «Türkischsein herabwürdigt». Mein Computerjournal und Speicherplatz ist gefüllt mit Zeilen voll Wut und Drohungen, die von diesen Leuten stammen. (Ich möchte anmerken, dass besonders einer dieser Briefe, aus Bursa abgeschickt, eine konkrete Bedrohung ankündigt. Wegen des beängstigenden Inhalts habe ich ihn der Staatsanwaltschaft in Şişli übergeben, aber bis heute keine Reaktion erhalten.) Wie real oder irreal sind diese Drohungen? Natürlich kann ich das nicht abschätzen. Die eigentliche Gefahr und das wirklich Unerträgliche für mich sind die psychischen Qualen, die ich mir selbst zufüge. «Was denken diese Leute nun von mir?» – diese Frage frisst sich durch mein Gehirn. Leider werde ich häufiger als früher erkannt und spüre öfter, dass die Leute mir Blicke zuwerfen, die sagen: «Ist das nicht dieser Armenier?» Und aus Reflex fange ich an, mich selbst zu quälen. Auf der einen Seite ist diese Quälerei Neugierde, auf der anderen Aufgescheuchtheit. Einerseits Aufmerksamkeit, andererseits Furchtsamkeit. Ich bin wie eine Taube… Wie eine Taube schaue ich immerzu nach links und rechts, nach vorn und hinten. Mein Kopf ist so beweglich wie ihrer… Und so schnell, dass er sich sofort drehen und wenden lässt.
Da haben Sie Ihren Preis
Was sagte Außenminister Abdullah Gül? Was sagte Justizminister Cemil Çiçek? «Mensch, am 301’er [Paragraph des Strafgesetzbuches, der die «Herabwürdigung des Türkischsein» verbietet] gibt es doch wirklich nichts zu übertreiben. Gibt es einen, der deswegen verurteilt oder ins Gefängnis gesteckt worden wäre?» Gerade so, als wäre der einzige Preis, den Menschen deswegen bezahlen müssen, eine Gefängnisstrafe… Da haben Sie Ihren Preis… Da haben Sie Ihren Preis… Wissen Sie, verehrte Herren Minister, was für einen Preis es hat, jemanden in die Ängstlichkeit von Tauben zu versetzen…? Wissen Sie es…? Haben Sie denn noch nie Tauben beobachtet?
Was sie eine Sache «auf Leben und Tod» nennen
Es ist keine einfache Zeit, die ich erlebe… Und die wir als Familie erleben. Es gab sogar Momente, in denen ich ernsthaft erwogen habe, das Land zu verlassen und in die Ferne zu gehen. Vor allem dann, wenn die Drohungen diejenigen erreichten, die mir nahestehen… Das ist der Punkt der Ausweglosigkeit. Eine Sache «auf Leben und Tod», das muss es sein, was sie damit meinen. Ich könnte auf meinen eigenen Willen beharren, aber ich habe nicht das Recht, das Leben mir nahestehender Menschen zu gefährden. Ich könnte mein eigener Held sein; aber – lassen wir einmal die Nahen beiseite – ich kann mir nicht das Recht herausnehmen, ein Held zu sein, wenn ich damit irgendwen gefährde… In solch ausweglosen Zeiten habe ich meine Familie, meine Kinder um mich geschart, ich habe Zuflucht bei ihnen gesucht und die größte Unterstützung bei ihnen gefunden. Sie vertrauten mir. Egal, wo ich sein würde, sie würden dort sein. Hätte ich gesagt, «lasst uns fortgehen», sie wären mitgekommen. Wenn ich gesagt hätte, «lasst uns bleiben», wären sie geblieben.
Bleiben und widerstehen
Ja, aber wo wären wir denn hingegangen, wenn wir fortgegangen wären? Nach Armenien? Wie lange hätte einer wie ich, der Ungerechtigkeiten nicht erträgt, die Ungerechtigkeiten dort ertragen? Würde ich dort nicht sogar größeren Ärger bekommen? Und in eins der europäischen Länder gehen, das könnte ich nicht. Ich bin so einer, wenn ich mal drei Tage in den Westen fahre, sage ich mir am vierten: «Wenn es nur schon vorbei wäre und ich könnte zurück.» Ich würde mein Land vermissen, was würde ich dort tun? Die Bequemlichkeit würde mich stechen wie ein Dorn! Vor allem passt es nicht zu mir, die «brodelnden Höllen» zu verlassen, um in eins der «fertigen Paradiese» zu gehen. Wir gehören zu den Menschen, die die Hölle, in der sie leben, zum Paradies machen wollen. Es ist, zum einen, unser wirklicher Wunsch, in der Türkei zu bleiben, und zum anderen aber auch unsere Verpflichtung, die aus unserem Respekt erwächst für die Tausenden bekannten und unbekannten Menschen, die in der Türkei für Demokratie kämpfen und uns unterstützen. Wir mussten bleiben und widerstehen. Aber wenn wir eines Tages gehen müssen… Werden wir losgehen wie 1915… Wie unsere Ahnen… Ohne zu wissen, wohin der Weg führt… Auf den Wegen, die sie gelaufen sind… In Schmerz und Not… Mit einer solchen Rüge würden wir unsere Heimat verlassen. Und wir würden gehen, wohin unsere Füße uns tragen, nicht aber das Herz… Wohin es auch sei.
Ängstlich und frei
Ich hoffe, ein solches Verlassen werden wir nicht und niemals erleben müssen. Wir haben ohnehin mehr als genug Hoffnungen und mehr als genug Gründe fürs Nichtleben. Jetzt wende ich mich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ich weiß nicht, wie viele Jahre dieses Verfahren dauern wird. Was ich weiß und was mich ein wenig beruhigt, ist die Aussicht, wenigstens bis zum Prozessausgang in der Türkei zu leben. Wenn das Gericht in meinem Sinn entscheidet, werde ich sicher noch glücklicher sein, denn das wird bedeuten, dass ich mein Land nie verlassen müssen werden. Wahrscheinlich wird 2007 ein noch schwierigeres Jahr für mich. Die Prozesse werden weitergehen, neue werden hinzukommen. Wer weiß, mit welchen Ungerechtigkeiten ich noch konfrontiert sein werde? Aber während das alles passiert, werde ich dieses Wissen als einzige Sicherheit mit mir tragen: Es kann sein, dass ich in diesem Gemütszustand schreckhaft bin wie eine Taube, aber ich weiß, in diesem Land würde niemand einer Taube eine Feder krümmen. Tauben leben sogar mitten in der Innenstadt, inmitten von Menschenmassen. Ja, etwas ängstlich und scheu, aber auch noch einmal so frei.