Koray Yılmaz-Günay
Tugendterror

Die dumme Rede von «Merkels Staatsversagen»

Es grassiert dieses Wort, das mit der Realität nichts – zumindest mit meiner Realität gar nichts – zu tun hat, auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Ich halte es für verwerflich. Und zwar aus folgenden Gründen:

1. Die Bundesregierung ist, inklusive der Bundeskanzlerin, ausgesprochen «erfolgreich» darin, dieses Land zu «managen».

Das von SPD und Grünen nach der relativen Starre unter Kohl durch die Schröder-Regierungen eingeführte Programm von

  • Sozialabbau, Reallohnverlusten, Einschränkung von gewerkschaftlich erkämpften Rechten (bzw. «Arbeitsmarktreformen») und milliardenschweren Konjunktur- und Stützprogrammen für das deutsche Kapital (Industrie und Banken, Automobil- und Energiewirtschaft etc.) und Steuersenkungen;
  • deutschem Militär im Ausland (bzw. «Wir verteidigen am Hindukusch unsere Freiheit, bauen Brunnen und sorgen dafür, dass Mädchen zur Schule gehen können»);
  • Runterkonkurrieren anderer EU-Länder (bzw. «Anreize zu Reformen in Frankreich, Italien, Spanien» etc.) bis zum fast vollkommenen Entwenden von Souveränität (bzw. «Da sind doch sicher noch ein paar griechische Staatsbetriebe und Inseln, die sich verkaufen lassen»);
  • Vernichtung außereuropäischer Lebensgrundlagen durch das Aufzwingen von Freihandelsabkommen (bzw. «Freihandel» mit westafrikanischen und anderen Ländern) und ökologischen Sauereien;
  • massivsten Gesetzesverschärfungen im Asylrecht seit Anfang der 1990er Jahre (Asylrecht = Lehre aus dem NS);
  • massivem Ausbau der Zusammenarbeit von Geheimdiensten bzw. Geheimdiensten und Polizei (Trennung = Lehre aus dem NS);
  • massivem Ausbau der Überwachung durch Menschen, Technik und Verschiebungen gesellschaftlicher Diskurse (wie jüngst ganz plastisch zu sehen in der Debatte über die vermeintlich schlecht bezahlte und ausgestattete und zudem auch noch zu Unrecht des Rassismus bezichtigte NRW-Polizei) sowie Abbau von Grund- und Freiheitsrechten;
  • …;

geht munter weiter und mehret den Wohlstand und die Sicherheit derjenigen, denen dieser Staat gehört. Es mag sein, dass diese «Erfolge» anhand nationalistischer und rassistischer Sortierungen Menschen unterschiedlich zugute kommen bzw. schädigen, es mag sein, dass sie politisch, ethisch, moralisch und sonst in falsche Richtungen weisen und führen. Ich hoffe, dass die meisten Menschen, die ich kenne, so denken. Alle diese Dinge aber deshalb von der Hand zu weisen und «Merkel» pars pro toto kontrafaktisch ein Scheitern oder sogar «Versagen» vorzuwerfen, ist wirklich dumm. Sie tut das, wofür sie bezahlt wird und (wenn Gerhard Schröder, Joseph Fischer und viele, viele andere der Maßstab sind) nach ihrem Ausscheiden noch besser bezahlt werden wird, ganz hervorragend. Sie sorgt dafür, dass die Maschine (im Inland) möglichst geräuschlos weiter-läuft.

2. Der Sozialstaat alter Prägung ist keine Alternative.

Dort, wo das «Versagen Merkels» besonders laut beklagt wird, scheint als Alternative seltsamerweise gerade das Nachkriegsmodell der westdeutschen Sozialpartnerschaft auf:

  • ein Staat und eine Gesellschaft, wo die (einheimische) arbeitende Bevölkerung nicht streikt, sondern sich mit den «Arbeitgebern» (denen also, die die Arbeit gegen ein Entgelt nehmen) am Verhandlungstisch einigt und wo die (ausländischen) Streikenden von beiden Seiten der Sozialpartnerschaft auf die Mütze kriegen;
  • ein Staat und eine Gesellschaft, wo der Mann (fach-) arbeiten geht, um Ehe-Frau und Kinder zu versorgen und in der die niederen Arbeiten von ausländischen Gästen erledigt werden;
  • ein Staat und eine Gesellschaft, in denen die Natur und ihre Ressourcen, als seien sie unerschöpflich, einem finanziellen und wirtschaftlichen, aber nicht einem gesellschaftlichen Entwicklungs- und Fortschrittsoptimismus dienen;
  • ein Staat und eine Gesellschaft, deren Eliten maßgeblich aus Tätern (und ein paar Täterinnen) des Gemeinwesens davor rekrutiert wurden und in denen die Opfer des Gemeinwesens davor, zumindest solche, die es überlebten, maximal als folkloristische Bereicherung herhalten durften. Nicht ohne Not stand und steht vor fast jeder größeren jüdischen Einrichtung Polizei, nicht ohne Sinn und Zweck ging die Verfolgung, Unsichtbarmachung und systematische Entrechtung von Sinti_zze und Rom_nja, von Homosexuellen, «Asozialen» und «Behinderten» im Nachkriegs-Modell der Sozialpartnerschaft allzu oft so weiter, als sei 1933–1945 nichts gewesen;
  • ein Staat und eine Gesellschaft, wo die Verwobenheit mit der römisch-katholischen Kirche und den evangelischen Landeskirchen (ihrer Weise und ihrem Ausmaß nach) weltweit ihresgleichen sucht;

Wer ein Zurück zu diesem «Sozialstaat» wünscht und diesen Wunsch sich zum politischen Programm macht, ignoriert nicht nur die relativen und die nicht relativierbaren Errungenschaften, die progressive gesellschaftliche Bewegungen gegen dieses Staatsmodell und die entsprechende Gesellschaft erstritten haben. Wer sich ein «Zurück» wünscht, möchte weitere Jahrzehnte die Verwobenheit von Klassen- und Geschlechterverhältnissen innerhalb einer rassistisch strukturierten und bestimmte Körper bevorzugenden und andere Körper abwertenden Gesellschaft ignorieren. Das hat mit gesellschaftlichem Fortschritt nichts tun. Die Rede «gegen den Neoliberalismus» funktioniert vielleicht deswegen so gut (zumindest seitdem es keinen Ostblock mehr gibt, der «Westen» aber weiter fröhliche Urstände feiert), weil ihr die Vorstellung zugrunde liegt, es könne wieder einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz geben (wie unter Adenauer/Erhard bzw. Erhard schon einmal). Einen solchen Kapitalismus hat es nicht und nirgends gegeben, es kann ihn auch nicht geben. Der Kapitalismus hat immer auf Ausbeutung beruht. Auf der Ausbeutung von Arbeitenden, aber auch von Menschen, deren Tätigkeiten nicht nach dem Modell von Arbeit strukturiert waren oder sind – etwa in den Kolonien, ohne die diese Wirtschaftsweise nicht zustande gekommen, geschweige denn erfolgreich geworden wäre, oder die außerkapitalistisch organisierten, gesellschaftlich aber notwendigen Reproduktions-Tätigkeiten vor allem von Frauen.

3. Hate the Game. Don’t Hate the Dealer.

Es ist analytisch vollkommen nutzlos – aber auch im Sinn irgendeiner realen praktischen Verbesserung –, der Bundeskanzlerin vorzuwerfen, sie funktioniere nicht gut genug bzw. gar nicht. Denn erstens funktioniert sie im Rahmen ihrer Aufgabenbeschreibung ausgezeichnet. Und zweitens ist es ihre Aufgabenbeschreibung, die stinkt. Das Modell, nicht die Person, steht einer bessren Gesellschaft im Weg.

Es ist menschlich und politisch schlecht, Griechenland einen Kredit unter der Maßgabe zu geben, dass die Hälfte des Geldes sofort nach Deutschland zurückkommt, weil damit Schulden bei deutschen Banken zu tilgen oder Waffen bzw. U-Boote bei deutschen Konzernen zu bestellen sind. Es ist menschlich und politisch schlecht, EU-«Wirtschaftspartnerschaftsabkommen» mit 78 ehemaligen europäischen Kolonien in Afrika, der Karibik und im Pazifik durchzusetzen, die zu weniger bilateralem Handel im Globalen Süden und zu mehr Abhängigkeit vom Globalen Norden führen werden. Es ist aber vollkommen im Rahmen dessen, wofür es einen Staat und seine Bundeskanzlerin bzw. einen Staatenbund wie die EU gibt, in dem die Bundesrepublik längst der mächtigste Staat ist. Würde Merkel «versagen», gäbe es sicher Akteure von mehr Gewicht (als du und ich), die ihr das mitteilen würden. Und vermutlich sehr viel schneller und überzeugender.

Zu sagen: Ich will den Nationalstaat, aber diese gemeinen Dinge gegenüber anderen Ländern, das könnte ein bisschen weniger sein, wird nicht funktionieren. Das führt in der Konsequenz zu so absurden Aussagen wie: «Ein Staat, der nicht versagt, kann seine Grenzen kontrollieren.» Damit wollen die Äußernden mitteilen, dass sie wünschen, die Konsequenzen von «National-Sozialstaat» nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Das meint die Formulierung: Offene Grenzen kann es erst geben, wenn alle Menschen (d.h. überall) in Wohlstand leben. Die Antwort, warum Menschen in die Bundesrepublik kommen wollen sollten, wenn sie woanders in Wohlstand leben, braucht dann schon nicht mehr beantwortet werden.

4. Was das heißt:

Wenn wir Dinge wie

  • die sogenannte Bezahlung in «Behindertenwerkstätten»;
  • das staatliche Mittun bei und die Vertuschung von rassistischen Morden (Schwarze in Polizeigewahrsam, NSU, «Ist doch gut, wenn die Flüchtlinge in der Ägäis nicht mehr ertrinken» – und stattdessen wieder in anderen Teilen des Mittelmeeres);
  • die Einführung von «Herdprämien», die Verkürzung von Krankenhausliegezeiten, die Bevorzugung von häuslicher Pflege, die Nicht-Einführung von Ganztagsschulen und andere Instrumente zur Rückbindung von Frauen an den Haushalt und das Geld eines Mannes;
  • die Bevorzugung bestimmter Lebens-, Arbeits-, Erziehungs-, Wohn- etc. -weisen;
  • die «Kältetoten», «Kollateralschäden» von Kriegen etc.

als Funktionieren des Staates verstehen, bleibt zu hoffen, dass eines Tages – und zwar in möglichst naher Zukunft – sein tatsächliches Versagen eintritt.

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