Koray Yılmaz-Günay
Zeitschriften/Blogs

Die perfide Sehnsucht nach Widerspruchslosigkeit

Weil ich in den letzten zwei bis sieben Wochen immer wieder darüber nachdenke (und gelegentlich auch Selbst- und Fremdgespräche darüber führe), möchte ich dies mitteilen: Eine gewisse Form der Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit (auch bei Menschen, die ich kenne und meistens schätze) geht mir sehr, sehr auf die Nerven. Sie ist sozusagen schlimmschlimm. Scheußlich geradezu.

Jemand sagt: «Person A tut nicht so schöne, unverschämte, verwerfliche, unerträgliche Sachen. Dabei ist das in unserem Land, in unserer Gesellschaft, auf dem Boden der freizeitlich-demagogischen Grundordnung, angesichts der beiden deutschen Diktaturen, G-ottes Plan bei der Schöpfung, der Konstellationen am Sternenhimmel (usw.) vollkommen inakzeptabel.» Person A ist schnell als der Gruppe B angehörig identifiziert und es folgt ein Generalverdacht gegen besagte Gruppe.

Der bleibt natürlich nicht unerwidert. Weil Personengruppe B wegen Person A unter Generalverdacht gestellt wurde, wenden sich andere Angehörige der Personengruppe B gegen Person A. Sie wollen schließlich nicht an Respektabilität verlieren und noch mehr lästige Fragen beantworten (als sie eh schon tun). Person A spreche und handele nicht im Namen der Gruppe. Vielmehr zeichne sich die Gruppe durch ganzundgarandere, 180° (oder zumindest 178°) entgegengesetzte Gedanken, Äußerungen und Taten aus. Überhaupt sei die Personengruppe B ausgesprochen loyal, sie verhalte sich verlässlich sowie regelkonform. Quasi noch nie habe es eine bessere Gruppe von Personen gegeben.

Insbesondere wenn es Personengruppe B aufgrund nicht so ersprießlicher Bedingungen schwerer hat als andere Personengruppen, entsteht schnell ein Generalfreispruch, der dem generellen Verdacht entgegengestellt wird. Denn denjenigen, die für Personengruppe B sprechen, muss beigestanden werden. In der Folge dürfen alle Angehörigen von Personengruppe B nichts Verwerfliches mehr denken, keine sorglosen Bemerkungen mehr machen oder ungebührliches Gebaren zeigen. Dies ist in einer Gesellschaft, in der ausgesprochen vieles gut, manches aber auch wirklich schlecht organisiert ist, eine strapaziöse Konsequenz. Beispielsweise für mich, deswegen sagte ich zu Beginn, eine gewisse Form der Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit (auch bei Menschen, die mir etwas bedeuten) gehe mir sehr, sehr auf die Nerven. Sie sei sozusagen schlimmschlimm. Scheußlich geradezu.

Kein Mensch bei Verstand würde den unterschiedlichen Ausprägungen von Menschenverachtung das Wort reden. Neben der einen oder anderen sozialen Bewegung gibt es zu manchen Themen und Personengruppen sogar Gesetze, Verordnungen, Beauftragte, Runde Tische, Förderprogramme, gesellschaftliche Konsense, Konferenzen, Lehrstühle (und Leerstühle) usw. Und trotzdem ist die Realität eine andere. Das Grundgesetz (Artikel 3.2) sagt zum Beispiel:

Männer und Frauen sind gleichberechtigt.

Weil es aber ein kluges Grundgesetz ist, weiß es, dass es nicht ausreicht, etwas zu sagen – es gibt für das Grundgesetz nichts Gutes, außer man tut es. Deswegen lautet der nächste Satz:

Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

Ich verstehe vor diesen Hintergründen nicht, woher die Erwartung kommt, ausnahmslos alle liberalen, weiblichen, muslimischen, schwulen, asylsuchenden, unterdreijährigen, mit Mandaten versehenen, linken, akademischen (…) Menschen müssten gut sein und sich jederzeit und ausschließlich einwandfrei verhalten.

  • Ich lebe in einem Land, das eine «Sarrazin-Debatte» damit beendet hat, dass multiple Menschenfeindlichkeit durch Vorabdrucke in BILD und SPIEGEL honoriert wurde und alle dann darüber sprachen, ob man das alles überhaupt noch öffentlich sagen dürfe, was noch öffentlicher zu sagen gar nicht ginge.
  • In einem Land, in dem schon Polizei vor jüdischen Einrichtungen stand, da waren meine «muslimischen» Eltern noch gar nicht hier. Wo das Grab von Heinz Galinski mehrmals mit Sprengstoff zerstört werden konnte (ohne herauszufinden, wer es war), wo Brandanschläge auf muslimische und jüdische G-tteshäuser verübt wurden und werden.
  • Ich lebe in einem Land, wo das Risiko, von Männern aus dem sozialen Nahraum ermordet zu werden, für alle Frauen wesentlich höher ist als für alle Männer andersherum. Wo der Equal Pay Day im Jahr 2018 Ende März liegt. Wo Krankenhausliegezeiten verkürzt werden, damit Angehörige (also Frauen) Kranke zuhause (also kostenlos) pflegen können.
  • Wo die NPD nicht verboten und die AfD als Bereicherung von Diskurs und Politik legitimiert wird (Meinungsfreiheit), wo der Staat Neonazis fürs Morden finanziert und seine selbst prügelnden und manchmal auch mordenden Beamten nicht sanktioniert, wo jede Beschimpfung durch «nicht-deutsche» Jugendliche aber zu einer «Debatte» über «Deutschenfeindlichkeit» (und in der Konsequenz natürlich erleichterte Abschiebung) gerät.
  • Wo Erika Steinbach menschenrechtspolitische Sprechen ihrer Fraktion war.
  • Wo das christlich-antisemitische Abendland vollkommen sorglos als christlich-jüdisches beschworen werden kann.
  • Wo das «Ehrenwort» von Helmut Kohl mit ins Grab geht, die Unterschlagung von zwei Pfand-Bons durch eine Kasseriererin aber zur fristlosen Kündigung oder die ÖPNV-Nutzung ohne Ticket zurück nach Kamerun führen (wegen – na klar – «Integrationsunfähigkeit»).
  • (Diese Liste ließe sich seitenlang fortsetzen.)

All diese Sachen sind hierzulande nicht außergewöhnlich, sondern gewöhnlich. Jedes Mal, wenn etwas passiert, das nicht passieren sollte, die Leier anzustimmen, genau das habe «keinen Platz in unserem Land», es stehe außerhalb «unserer Werteordnung» oder gehöre – wenn möglich – mit Repression und Disziplinierung bestraft, ignoriert die Tatsache, dass all das und noch viel mehr sehr wohl und selbstverständlich Teil dieser Gesellschaft ist. Die Normalisierung von beschissenem Verhalten würde nach Jahren der Auslagerung von Problemen auf «Jugend», «Extremismus», «Einwanderung», «FrustrationArbeitslosigkeitPerspektivlosigkeit» oder so skurrile Theorien wie:

  • «Die Erziehung in der DDR ist schuld daran!»;
  • «Das ist nun einmal ihre Kultur … :-(» oder immer wieder gern:
  • «Das dunkelste Kapitel unserer Geschichte ist aufgearbeitet (und also Vergangenheit)»

unter Umständen besser funktionieren. Den Versuch wäre es wert.

Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der allen möglichen Menschen, die zu «uns» gehören, alles und jedes erlaubt ist, andere aber permanent dazu angehalten sind, vorsichtig, umsichtig, weitsichtig und überhaupt viel bessere Menschen zu sein. Dabei handelt es sich nämlich nicht um eine vorhandene Gesellschaft, sondern um eine eingebildete Gemeinschaft, die sich selbst mit immer neuer Bekenntnis-und-Harmonie-Soße übergießt und darin sich wälzt, je mehr sie ihre Probleme an die Geschichte, an andere «Gemeinschaften» (Kulturkreise, Religionen, Länder, Kontinente) oder die «Ränder» auslagern kann.

Ich bitte mithin darum, zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Gesellschaft – wie jede Gesellschaft – von verschiedenen, vielleicht auch verschränkten Widersprüchen geprägt ist. Diese zur Kenntnis zu nehmen, statt reflexhaft die Unmöglichkeit des sehr wohl Möglichen (und Realen) zu behaupten, würde uns alle vielleicht einen Schritt weiterbringen, statt immer wieder mehrere Schritte zurück. Es würde gestatten, dass alle Menschen, die hier leben, das Recht haben, gute, schlechte oder manchmal gute und manchmal schlechte Menschen zu sein.

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