Koray Yılmaz-Günay (2013): Erwartungen aus Sicht des Migrationsrates Berlin-Brandenburg e.V. In: → Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (Hg.): Inklusion durch Partizipation. Ein Beitrag von Migrant_innenorganisationen. Dokumentation einer Fachtagung am 16. und 17. Juni 2012 in Berlin, Seiten 7–8.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
es ist mir eine große Freude, Sie im Namen des Migrationsrates Berlin-Brandenburg heute hier begrüßen zu können. Die Idee zu dieser Tagung ist im Nachgang der letzten Tagung entstanden, die sich in Halle mit Elternnetzwerken beschäftigt hatte. Der Prozess der Vorbereitung und das daraus resultierende Programm sind aus unserer Perspektive selbst beispielgebend gewesen für die Themen, die wir an diesem Wochenende besprechen wollen: Inklusion und Partizipation.
Der Migrationsrat Berlin-Brandenburg ist ein Dachverband von über 70 Migrant_innenorganisationen (MO), der im Jahr 2004 selbst aus einem Partizipationsprozess hervorgegangen ist. Die Frage nach den «gemeinsamen Interessen» ist für uns von Anfang an zentral gewesen: Als das Land Berlin 2003 den Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen ins Leben gerufen hatte, war es alles andere als selbstverständlich, dass alle, die als «Migrant_innen» bezeichnet wurden, auch tatsächlich ähnliche oder vergleichbare Erwartungen, Bedürfnisse und Vorstellungen haben. In einem langen, aufwändigen – und oft auch schmerzhaften – Prozess beteiligten sich einige Dutzend MO an dem Projekt, unsere Gemeinsamkeiten und auch unsere Unterschiede als Migrant_innen herauszuarbeiten. Wir haben uns zu unserer Gründung eine Satzung gegeben, die als Produkt langer Debatten tatsächlich mehr ist, als die formale Geschäftsgrundlage unserer Arbeit. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, keine herkunftsland- und herkunftsregionen-bezogene Arbeit zu machen. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, alle Formen der Diskriminierung in den Blick zu nehmen und gemeinsam dagegen vorzugehen. Denn niemand ist nur Migrantin oder Migrant, niemand ist nur von Rassismus betroffen – obwohl das den meisten von uns sicher schon mehr als genug wäre. Phänomene wie Sexismus, Homophobie und Transphobie sind genauso «unsere» Themen wie Antisemitismus, Altersdiskriminierung oder Barrieren, die Menschen mit Beeinträchtigungen in den Weg gestellt werden. Auch wenn der Staat und Teile der Gesellschaft nach EU-Bürger_innen und Drittstaatsangehörigen unterscheiden, Flüchtlinge, Aussiedler_innen und andere Migrant_innen faktisch voneinander trennen, treten wir für einen solidarischen Kampf gegen Ungleichbehandlungen ein – unabhängig von tatsächlichen oder vermeintlichen Merkmalen, die Menschen auseinanderdividieren.
Wir finden nicht nur als Individuen, sondern auch als Organisationen sehr ungleiche Bedingungen für unser Leben und unsere Arbeit vor. Betrachten wir im Feld der Gesetze und des Regierungshandelns die Situation von Flüchtlingen, die Frage von Familienzusammenführungen oder die Regelungen zur Staatsangehörigkeit: In vielen Vierteln deutscher Großstädte ist mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung nicht wahlberechtigt – oft genug sind das auch Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und nie woanders gelebt haben. Das ist nicht nur eine demokratietheoretische Fragestellung, sondern ein reales Problem für viele. Denn davon hängen auch andere demokratische Partizipations- und Entscheidungsmöglichkeiten ab, wie etwa Volksbegehren und Volksentscheide. Dass es sich dabei nicht um abstrakte Hindernisse für einzelne handelt, sondern um konkrete Benachteiligungen für viele, sehen wir nicht nur an den Referenden zu Religion als Schulunterricht in Berlin oder zur Schulstrukturreform in Hamburg.
Nicht anders sieht es im Bereich politischer Repräsentation aus. Schauen wir uns die Gewerkschaften an. Dort kommen Migrant_innen vor allem auf der Ebene von Vertrauenspersonen in den Betrieben vor, in die oberen Etagen schaffen sie es nach wie vor genauso selten wie in der Politik, in der Verwaltung oder in Nichtregierungsorganisationen. Dasselbe gilt für Selbstorganisationen, denn die Zuwendungen der öffentlichen Hand fließen weiterhin zu einem überwältigend großen Teil in die Arbeit von Vereinen und Verbänden, die Migrant_innen und People of Color vor allem als Klientel definieren, der zu helfen ist. Eine Kommunikation unter Ebenbürtigen sieht unserer Meinung nach anders aus.
Schauen Sie sich die öffentlichen Debatten an. Ich will nicht die antisemitischen, rassistischen, sexistischen, chauvinistischen Auslassungen von Thilo Sarrazin wiederholen – ich finde es aber vor dem Hintergrund ausgesprochen wichtig zu unterstreichen, dass in den letzten Jahren wieder Dinge sagbar und denkbar geworden sind, von denen die meisten von uns gehofft hatten, wenigstens die seien überwunden worden. Schauen Sie sich an, wie über ost- und südosteuropäische EU-Bürger_innen gesprochen wurde, als ihre Freizügigkeit auch in Deutschland in Kraft trat. Vor «Wellen», «Fluten» und «Schwemmen» und anderen Naturkatastrophen wurde da gewarnt. Schauen Sie sich an, wie über Schwarze und wie über Rom_nja berichtet wird. Schauen Sie sich an, wie in den Debatten um die NSU-Morde weiterhin eine Fixierung auf das sogenannte Mord-Trio stattfindet und die Opfer und ihre Angehörigen nach einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne nicht mehr existieren.
Frau Prof. Naumann hat in ihrer Begrüßung von Partizipation und Inklusion gesprochen. Ein anderes Wort hat sie, so unterstelle ich es mal, bewusst nicht gesagt. Diesen Paradigmen-Wechsel – weg von dem beliebig füllbaren Wort der «Integration» – müssen wir auf allen Ebenen einfordern. Es spielt eine immens wichtige Rolle, mit welchen Begriffen ethnische und religiöse Verschiedenheit und die Ungleichbehandlung verschiedener Gruppen beschrieben werden. «Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens» schrieb Karl Kraus. Sie prägt maßgeblich unsere Wahrnehmung der Phänomene. Sie bestimmt die Art und Weise, wie wir diese Phänomene denken. So wenig Sinn es heute noch hat, von «Ausländer_innen» zu sprechen, so wenig Sinn hat es, gleiche Rechte und Teilhabe-Chancen hinter einem leeren Kampfbegriff zu verstecken. Wir brauchen – unabhängig von der Staatsbürgerschaft – erreichbare Partizipation. Die Rede von der «Jahrhundert-Aufgabe Integration» ist kein Ziel. Die wenigsten Menschen leben einhundert Jahre, die meisten brauchen heute und hier Teilhabe. Ich brauche Ziele, die in meiner Lebensspanne erreichbar sind und nicht irgendwann, wenn ich tot bin. Meiner Meinung nach könnte ein Ziel heißen: diskriminierungsarme, inklusivere Gesellschaft. Und mit Diskriminierung meine ich nicht nur die unterschiedlichen Formen von Rassismus, mit der Schwarze, Jüd_innen, Rom_nja, Migrant_innen und andere People of Color konfrontiert werden, sondern alle Formen der Diskriminierung – ob sie nun allein vorkommen oder in ihren Überlappungen und Überschneidungen.
Ich wünsche mir und uns allen bei dieser Tagung möglichst konkrete Ergebnisse, was Teilhabe- und Empowerment-Strategien angeht. Ich freue mich, von vielen guten Beispielen gelingender Praxis zu hören, die es People of Color an einzelnen Orten durchaus schon erlaubt haben, sichtbar und hörbar zu sein, ohne dass andere in ihrem Namen gesprochen haben.
Mein ausdrücklicher Dank, dass dies heute und morgen hier möglich sein wird, gilt dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement für die gemeinsame Tagung, den Menschen, die hier arbeiten, damit wir anderen uns austauschen und voneinander lernen können, und insbesondere Nuran Yiğit, die als mittlerweile ehemaliges Vorstandsmitglied des Migrationsrates den gesamten Prozess von unserer Seite aus geleitet hat. Ihnen als Teilnehmerinnen und Teilnehmer danke ich zu guter Letzt. Sie haben zum Teil einen sehr weiten Weg auf sich genommen – ich hoffe, Sie werden am Ende sagen: Es hat sich gelohnt!