Koray Yılmaz-Günay
Vorträge

Gefährliche Jungen? Zur Bedeutung des Migrationshintergrundes in der Arbeit mit Jungen

Die Arbeit mit jungen «Migranten», «Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft» oder mit «jungen Männern mit Migrationshintergrund» findet nicht im luftleeren Raum statt. Deswegen kann ich heute hier auch nicht so tun, als würde ich im Vakuum und nur über sie sprechen können. Unsere Gesellschaft ist geprägt von vielen Ungleichheitsverhältnissen, die nicht parzelliert vorkommen, sondern immer in bestimmten Zusammenhängen. Geschlecht und Herkunft stehen in diesem Vortrag also erst einmal im Vordergrund. Sie stehen allerdings gemeinsam im Vordergrund und deswegen mag es an der einen oder anderen Stelle so klingen, als hätte es nichts mit Jungenarbeit zu tun, was ich Ihnen sage. Ich bin jedoch überzeugt, dass es tatsächlich an jeder Stelle dieses Vortrages explizit um Jungenarbeit geht.

Es wird mir dabei in erster Linie darum gehen, Ihnen eine Perspektive zu verdeutlichen, die ich «kontextualisierende Perspektive» nennen möchte. Sie können das auch «Haltung» nennen. Es geht mithin um einen «Vordergrund» und seine Wechselverhältnisse mit Hinter- und Seitengründen.

Entstanden ist diese Perspektive vor allem im GLADT-Projekt «Homosexualität in der Einwanderungsgesellschaft – Handreichungen für emanzipatorische Jungenarbeit» (2008/09). Von der Praxis im Projekt, in dem es darum ging, gemeinsam mit pädagogischen Fachkräften Methoden zu Geschlechterkonstruktionen und Homophobie zu entwickeln, werden wir nachher im Workshop sprechen können, den ich mit meiner Kollegin Caro Köhler anbiete. Hier berichte ich von den Überlegungen, die uns geleitet haben – und von den Ergebnissen, die im Projektverlauf entstanden sind. Auch wenn es – zumindest hier im Vortrag – nicht um konkrete Handlungsanweisungen geht, bin ich optimistisch, dass die meisten von Ihnen damit in der eigenen Praxis etwas anfangen können.

Auf der Internetseite des Ferrari-Club Deutschland heißt es:

Sie möchten sich mit gleichgesinnten Ferraristi treffen, gemeinsame Ausfahrten unternehmen und sich über Ihr Fahrzeug austauschen, dann treten Sie dem FCD doch bei. Voraussetzungen: Sie sind Eigner eines Ferrari.

Demgegenüber ist das Arbeitsfeld, von dem wir bei diesem Fachtag sprechen, kein exklusiver Club. Das KJHG zum Beispiel sagt nicht: «jeder junge Mensch, der bestimmten optischen Vorstellungen entspricht» und auch nicht: «jeder junge Mensch, dessen Verhaltensweisen bestimmten Normen entsprechen» oder «der dies und das besitzt». Und trotzdem entstehen in den unterschiedlichsten pädagogischen Settings immer wieder Widersprüche, Probleme und Schwierigkeiten, die wir geneigt sind, in Verhältnis auf Migration, «Kultur» und bisweilen auch Religiosität zu diskutieren:

  • Wie gewichte ich, was ich sehe und nicht verstehe?
  • Muss ich etwas tun?
  • Was kann ich tun?

Eine zunehmend multiethnische und multireligiöse Realität in Schulen, Jugendfreizeitstätten, bei der mobilen Sozialarbeit oder in Ausbildungsvorbereitungskursen, in denen mit Jugendlichen und vor allem mit Jungen gearbeitet wird, trifft auf eine im Wesentlichen monoethnische Jungenarbeit (Konzepte, Methoden, Teamzusammensetzungen etc.). Es scheint bisweilen sogar, dass einigen Herausforderungen nur noch mit repressiven Methoden beizukommen ist – gerade wenn sie sich die Debatten um die sogenannten Intensivstraftäter oder den Entzug von Kindergeld unter bestimmten Bedingungen anschauen. Das ließe sich getrost auch mit «Kapitulation von Pädagogik» umschreiben.

1. Wir leben in einer Gesellschaft, die sehr unübersichtlich und schnelllebig geworden ist.

Weder die Arten, wie wir arbeiten, noch die Arten, wie wir leben oder miteinander kommunizieren, sind vergleichbar mit der Zeit, als die meisten hier im Raum ausgebildet wurden. Youtube und Facebook haben das Leben mindestens so sehr verändert wie die massenhafte Arbeitslosigkeit seit den 90er Jahren und die Debatten über Krieg und «Kampf der Kulturen» im neuen Jahrtausend. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander. Und mindestens so weit klaffen vermeintlich die sogenannten «Kulturen» auseinander, von denen niemand weiß, was sie sind und wen sie umfassen. Der soziale Zusammenhalt bröckelt, selbst wo er im Vorbeigehen nur gestreift wird. Die Frage, welche Werte uns zusammenbringen oder zusammenhalten, wird ganz zu Recht gestellt. Und in den aller seltensten Fällen seriös beantwortet.

Das verändert unsere Vorstellungen von Gesellschaftlichkeit, also vom Zusammenleben in einem komplexen Gebilde, mit Menschen, die so sind wie wir, aber auch mit Menschen, die anders sind als wir. Es verändert nicht zuletzt unsere Vorstellungen von uns selbst. Das, was wir für unser Privatleben halten, ist im Wesentlichen das, was uns die Gesellschaft ermöglicht. Ein Beispiel nur unter vielen: Unsere Partnerschaftsmodelle müssen sich einer immer flexibleren Ausgestaltung von Arbeit anpassen. Denn froh ist, wer überhaupt einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz hat. Bzw. wer nur einen Job hat und nicht drei verschiedene. Dahinter müssen eigene Bedürfnisse häufig zurückstehen, aber auch die Bedürfnisse unserer Partner_innen. Unsere Wert- und Normvorstellungen sind ohne ihre soziale und ökonomische Rahmung nicht denkbar. Mit allen Konsequenzen auch für Geschlechtlichkeit und Geschlechtsausdruck, die sich damit aus- und umbilden.

Berlin hatte es da in den letzten beiden Jahrzehnten besonders schwer. Beide Teile wurden gründlich ent-industrialisiert. Ostberlin aufgrund anderer Voraussetzungen als Westberlin, aber für beide lässt sich feststellen, dass ein großer Teil der Arbeitskräfte in der Produktion ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr gebraucht wurde. Dass es da Spezifika bei den Geschlechtern gibt, muss ich in diesem Kreis nicht ausführen. Wie naturgegeben wiederholte sich das Phänomen, dass manche Leute als Erste entlassen werden und als Letzte wieder in den Arbeitsmarkt kommen. So sind viele Frauen zurückgeworfen worden auf die Familie, auf das unmittelbare Wohnumfeld und auf vermeintlich überkommene Vorstellungen von «Frau»-Sein, das jetzt wieder aufgehen soll in Mutterschaft, Haushalt und den sozialen Beziehungen in der Nachbarschaft. Diejenigen, die heute beklagen, dass so viele Frauen Kopftücher tragen und ihren Kiez nicht verlassen und dies auf Herkunft und Religiosität zurückführen, übersehen allzu oft, dass diese Frauen in den Siebzigern oft genug Minirock und auffälliges Make-up trugen. In der Zwischenzeit hat sich bei den wenigsten die «Kultur» oder die «Religion» geändert. Etwas Anderes muss passiert sein.

Das trifft auch für Menschen zu, die noch nicht arbeiten und vielleicht noch nicht einmal einen Ausbildungsberuf gewählt haben. Eine Befragung, die wir vor zwei Jahren zu Beginn unseres Projekts durchgeführt haben, hat dies überdeutlich gezeigt. Von Hellersdorf bis Steglitz und von Reinickendorf bis Neukölln haben uns Lehrer_innen, Jugendarbeiter_innen, Streetworker_innen und andere pädagogische Fachkräfte berichtet, dass die Selbstdefinitionen und die Partnerschaftsvorstellungen in den letzten zehn Jahren wesentlich konservativer geworden sind. Das betrifft so zentrale Fragen wie vorehelichen Sex, Treuevorstellungen, Kinderwunsch, das Anstreben einer Ehe wie auch Berufs- und Karrierewünsche der Einzelnen. Es wird niemanden überraschen, dass die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Liebe und Sexualität sich laut Befragung parallel dazu entwickelt hat.

Die zweite Gruppe, die von dem Phänomen der Ent-Industrialisierung weit über Durchschnitt betroffen war, sind Migrant_innen aus der ersten Generation. Und gerade dort, wo Geschlecht und Migration zusammenkommen, bei Migrantinnen, blieb tatsächlich außer Haushalt, Familie und Nachbarschaft oft wenig anderes übrig, wo Sinnstiftung überhaupt noch möglich war.

Ein Wort übrigens zu diesem Begriff «Migrant_innen»: In der Einengung, in der das Wort heute benutzt wird – also vor allem im Bezug auf Menschen aus der Türkei und aus arabischen Ländern, die von staatlichen Transfers leben – handelt es sich vor allem um Menschen, die sich ökonomisch nicht mehr verwerten können – oder zum Beispiel aufgrund eines Flüchtlingsstatus‘ sich nicht verwerten lassen dürfen. Die Vielzahl der Eltern, über deren Kinder wir heute hier sprechen, ist, überspitzt gesagt, außerhalb ihres Sozialraums und der eigenen vier Wände nichts wert.

Dass es sich dabei real nicht um «die» Migrant_innen handelt, sondern um einen Ausschnitt, muss ich hier nicht lang ausführen. Wir haben in den letzten fünf-sechs Jahren lernen müssen, dass türkische Eltern, die ihre Kinder aufs Privatgymnasium schicken, arabische Ärztinnen und ex-sowjetische Akademiker_innen, deren Bildungsabschlüsse nicht oder nur schleppend anerkannt werden, uns nicht zu interessieren haben. So wenig übrigens wie Weiße aus Nordamerika, Norwegen oder der Schweiz. Heikel wird es nur, wenn jemand aus dem sogenannten «Kulturkreis» kommt. Auch wenn katholische Menschen aus Polen, assyrische aus der Türkei oder jüdische aus Aserbaidschan im Prinzip ganz ähnliche Erfahrungen machen, zwingt uns der Diskurs, bestimmte Herkünfte und insbesondere eine Religion zum Debattenthema zu machen. Dass ich den Begriff heute hier so undifferenziert benutze, ist dem unglücklichen Hintergrund geschuldet, vor dem wir alle sprechen: Ethnizität und Religiosität zählen heute alles, eine gescheite Gesellschaftsanalyse nichts.

2. Wir leben in einer Gesellschaft, in der manches aber auch so bleibt, wie es ist.

Von der Wertlosigkeit der erwähnten Gruppen geht heute vor allem eine ganze Reihe gutbezahlter Meinungsbildner_innen aus. Regale lassen sich füllen mit der Literatur, die «Expert_innen» aus eigener «Betroffenheit» oder – weil es manchmal drunter eben nicht geht – aus großer Sorge um das christliche Abendland verfassen. Erstaunlich, dass niemand sich schämt, solche Texte zu schreiben, zu drucken oder zu verkaufen. Wäre die Qualität von Büchern über das Judentum oder das Christentum ähnlich, würde schon längst ein Krisenstab der Bundesregierung existieren, der die Verrohung, Verlotterung und Armseligkeit der Lese- und Denkgewohnheiten zum Thema hat.

Thilo Sarrazin hat uns jüngst immer wieder darauf hingewiesen, dass die sozio-ökonomische Funktion von «Türken» und vor allem «Arabern» sich auf den Obst- und Gemüsehandel und darüber hinaus vor allem auf die Produktion vieler kleiner neuer «Kopftuchmädchen» beschränke. Die Rede von der Integrationsunwilligkeit – respektive: Integrationsunfähigkeit – ist aber älter und vor allem weiter verbreitet. Die reicht bis in den gesellschaftlichen Mainstream hinein – bis an die Frühstückstische, wenn Sie so wollen. Die Unvereinbarkeit von sogenannten «Kulturen» gehörte schon zum Kernbestand aller rassistischen Argumentationen in den 80er Jahren. Die Debatte über «Integration» hat die Debatte um Einwanderungs-Beschränkungen abgelöst, gerade seitdem faktisch mehr Leute aus Deutschland wegziehen als neue nachkommen. Denn «das Boot ist voll» lässt sich niemandem mit Rest-Verstand heute noch verkaufen.

Die jüngste Neuerung ist der Islam. Immer häufiger lesen, sprechen und schreiben wir von «den Muslimen» und ihrer Religion. Spätestens nach dem Mord an dem niederländischen Regisseur Theo van Gogh – 2004 – sind über Nacht auch in Deutschland alle kurdischen, türkischen, arabischen, bosnischen und kosovarischen Migrant_innen und deren Nachkommen zu Muslim_innen erklärt worden. Auch die christlichen, jüdischen, jezidischen und anderen nicht-muslimischen Migrant_innen aus diesen Ländern. Selbst die die atheistischen. Denn die Entscheidung, wer zu «denen» gehört, folgt allein optischen Kriterien. Wer hat schon Zeit nachzufragen, ob jemand überhaupt religiös ist?

Wenn wir heute ein Problem in der Familienberatungsstelle des Bezirks haben, wenn sich Jugendliche mit arabischem Migrationshintergrund in der Schule antisemitisch äußern oder schwule Männer von türkeistämmigen Jugendlichen auf der Straße angemacht werden, fragen wir uns alle reflexhaft: «Was sagt wohl der Koran dazu?». Kundige ziehen die Prophetenüberlieferungen hinzu und wer keine Zeit hat, religiöse Werke selbst zu studieren, fragt den Imam der nächstgelegenen Moschee oder Alice Schwarzer, die die Szene der Spezialist_innen jüngst bereichert hat.

Ob wir uns die Ausfälle der herkömmlichen Rechten anschauen oder das sogenannte «Unbehagen», das nun also auch Menschen wie Alice Schwarzer beim Gedanken an den Islam heimsucht: Es ist gerade sehr in Mode, die Bevölkerung in ein «Wir» und in ein «Die» einzuteilen. Diese Gruppen verhalten sich dann auch irgendwie zu einander – nur eines dürfen sie nicht: sich überschneiden. Ganz wie auf der internationalen Ebene, wo es einen «Clash der Zivilisationen» geben soll, müssen auch die Phänomene im Heimatland fein säuberlich sortiert sein nach «Kulturblöcken». Wenn Sie darin die Fortsetzung des Immergleichen erahnen, sind Sie vermutlich auf der richtigen Spur.

Bitte denken Sie zehn Sekunden nach über die folgenden zwei Fragen:

  • Wie viele Beiträge haben Sie in den letzten vier, fünf Monaten zum Thema «Islam» gelesen, gehört oder gesehen?
  • Wie viele davon wurden aus der Perspektive von Muslim_innen erzählt?

Es ist augenfällig, dass das meiste, was zum Thema publiziert wird, von Nichtmuslim_innen über Muslim_innen gesagt wird. Wenn Muslim_innen gebeten werden, etwas von Gewicht zu sagen, sollen sie sich bitte vor allem über die Verhinderung von «Ehrenmorden», Zwangsverheiratungen oder von häuslicher Gewalt äußern. Wahlweise dürfen sie auch eine gute Meinung zu Schwulen und Lesben haben. Diese muss dann bitte aber auch explizit artikuliert werden. Komisch, dass das meiste, was direkt von Muslim_innen kommt, auch direkt mit Geschlechterkonstruktionen und Sexualität zu tun hat. Zu den Lehrplänen in Schulen jedenfalls, zum gerechteren Zugang zu Hilfen zur Erziehung, zur Absenkung der Mehrwertsteuer für Hotelbetriebe oder zur Laufzeit von Atomkraftwerken können andere sprechen. Es gehört zu den Seltsamkeiten, dass zu allem und jedem ein ökumenischer Gottesdienst organisiert wird, auch wenn es sich um ein rein weltliches Thema handelt. Wissen Sie, zu wie vielen ökumenischen Gottesdiensten Repräsentant_innen von Muslim_innen eingeladen werden?

Die künstliche Trennung der Gesellschaft in «Wir» und «Ihr» ist in meiner Lebenszeit nicht seltener geworden, eher kommt sie heute breiter und öfter vor. Was früher die sogenannten «Ausländer_innen» waren, sind heute die «Muslim_innen», die «Woche des ausländischen Mitbürgers» ist vom «interreligiösen Dialog» abgelöst worden, aber wie auch beim christlich-jüdischen Dialog ist hier das Wichtige das Miteinander-Reden. So wie heute immer noch gesagt wird «Deutsche und Juden» – als wenn es keine deutschen Juden oder jüdischen Deutschen gäbe –, so wird die Spaltung der Gesellschaft in Deutsche und Nichtdeutsche auch im Bezug auf Migration von Generation zu Generation fortgesetzt. Hauptsache, wir bleiben im Gespräch. Hauptsache, es ist klar, wer auf welcher Seite des Tisches sitzt oder wer den Stuhlkreis moderiert. «Zusammenleben mit Muslimen» ist ein prima Projekttitel. Die Herausforderung «Zusammenleben mit Christen» würde in keinem Ministerium, das Fördergelder vergibt, besonders gut ankommen.

Und wenn wir schon bei staatlicher Finanzierung von Rassismus sind: Der Fragebogen von Christian Pfeiffer (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen), der gerade in Berliner Schulen kursiert, schlägt genau in diese Kerbe. Die Studie, der der Fragebogen dient, soll untersuchen, inwieweit ein Zusammenhang besteht zwischen Religiosität, Integrationsdefiziten und Delinquenz. Die Studie geht wie selbstverständlich von einem blutsmäßigen Verständnis von Deutschsein aus. Die Macher_innen der Studie interessieren sich explizit nicht für die Sozialisation der Befragten, sondern für ihre Abstammung. Kinder, bei denen ein leiblicher Elternteil außerhalb Deutschlands geboren wurde oder nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, füllen einen anderen Fragebogen aus als die sogenannten «deutschen». Sie beantworten dann Fragen wie: «Wie denkst du über die Leute deiner Herkunft, die in Deutschland leben?» oder «Wie oft wurdest du in den letzten 12 Monaten, weil du kein Deutscher bist…» bzw. «Wie ist deine Meinung zu folgenden Aussagen über Deutsche?»

Da steht wirklich: «… weil du kein Deutscher bist». Nur damit es niemand vergisst. Deutsche sind nach wie vor die, die diese Jugendlichen nicht sind. Kinder, die hier geboren und aufgewachsen sind, wie auch Kinder, die – vielleicht schon als Säugling – aus dem Ausland adoptiert wurden, um es noch einmal deutlich zu sagen, können nach dieser Studie nicht als Deutsche gelten. Sie gelten explizit als «Nicht-Deutsche». Der aktuelle Bundesgesundheitsminister hätte seine Freude an einer Studie, die das Land Berlin bezahlt. Damit wird Neuntklässler_innen für die nächsten 60 Jahre beigebracht, ob sie zum Club gehören oder nicht. Damit wird ein weiteres Mal auf eine Generation verzichtet. Der gravierende Unterschied zum Ferrari-Club Deutschland ist der, dass von dieser Zugehörigkeit ein wenig mehr abhängt als Prestige und Status.

Hier liegt die zentrale Bedeutung des Begriffs «Kultur», wie er hierzulande verstanden wird. Einerseits soll Deutsch die einzige und alleinige Schulhofsprache der Jugendlichen sein, sie sollen es glauben, wenn sie lesen: «Berlin braucht dich», sie sollen Werte, Normen, Rechte und Pflichten verinnerlichen und sagen und verteidigen lernen, dass sie «deutsch» sind. Gleichzeitig, als Farce und als Tragödie, wird Zugehörigkeit aktiv – verweigert. Es ist dies ein Dilemma, das nicht den Jugendlichen angelastet werden darf, sondern getrost den zuständigen Erwachsenen, die Entscheidungen treffen. Der Lebenszusammenhang von Jugendlichen ist selbstverständlich auch geprägt von der Einwanderung der Eltern- oder Großelterngeneration. Und in der Tat sitzen sie oft zwischen zwei Stühlen. Sie sind hin- und hergerissen. Aber nicht zwischen der vermeintlichen Herkunftskultur, deren Teil sie nicht mehr sind, und der vermeintlichen Aufnahmegesellschaft, deren selbstverständlicher Teil sie umstandslos sein könnten, sondern zwischen den widerstreitenden Informationen, die sie fortwährend von den offiziellen «Deutschen» erhalten: Aus solchen Studien, aus Schulbüchern, wo meistens gar niemand abgebildet ist, der so aussieht wie sie, aus den Medien, die sie vor allem im Zusammenhang mit Gewalt erwähnen usw. Es scheint, mehr als eine privilegierte Partnerschaft ist im Moment wirklich nicht drin. Selbst mit deutscher Staatsangehörigkeit nicht.

3. Wie entsteht eine Identität angesichts solcher Hintergründe?

Wer immerzu hört, er sei muslimisch und deswegen nicht deutsch, wird irgendwann tatsächlich davon ausgehen, dass er es nicht ist. Sie sehen häufiger als ich die Halsketten, Uhren oder Aufkleber und anderen Accessoires mit nationalen und nationalistischen Symbolen (die Umrisse von Palästina oder von Kurdistan, die drei Halbmonde der rechtsextremen «Grauen Wölfe», Nationalfahnen etc.), sie hören häufiger als ich: «Ich bin Albaner», «meine Heimat ist Kosovo» und ähnliches. Wenn Sie mit den Jugendlichen in ihrer Schule oder Jugendeinrichtung oder in ihrer sozialintegrativen Gruppenarbeit schon einmal über Homosexualität gesprochen haben, werden Sie wissen, dass das vermeintliche Argument: «Im Islam ist das verboten» eins der häufigsten ist. Vielleicht auch: «In unserer Kultur gibt es das nicht.»

Pädagog_innen, die eine solche Äußerung hören, haben unterschiedliche Analyse- und, daraus abgeleitet, sehr verschiedene Reaktions-Möglichkeiten.

a) Sie können das Gespräch an der Stelle abbrechen, weil sie es nicht besser wissen als die Äußernden. Dann machen Sie sich schlau und arbeiten später an der Thematik Islam/Homosexualität weiter. Denn sie vermuten, dass die Äußerung vor dem Hintergrund einer Theologie oder Religionspraxis getätigt wird, die nun einmal so ist wie sie ist. In diesem Fall wundern Sie sich nicht, sondern nehmen hin, dass hier also eine «kulturelle Verschiedenheit» vorliegt und bilden sich fort.

b) Sie verlagern das Gespräch, um herauszufinden, warum ein solches Argument überhaupt funktional ist. Denn in der Tat wundern Sie sich, warum Kinder, deren Eltern schon in Deutschland geboren und ausgewachsen sind, gerade diese Identifikationen suchen.

Die allermeisten Lehrer_innen sind Weiße Deutsche, die christlich sozialisiert sind. Dies trifft auch für das Personal in den meisten Jugendfreizeiteinrichtungen zu. Dem gegenüber steht eine Nutzer_innen-Struktur, die immer diverser und komplexer wird. Hier finden zwischen Pädagog_innen und Jugendlichen Aushandlungsprozesse statt, die der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft dienen – einer Gesellschaft, die permanent signalisiert: Du bist anders. Und das Signal ist eins, das mit Macht gesendet wird. Etwas banalisiert gesagt – aber wirklich nur etwas –: Sie werden für die rassistischen Ausschlüsse verantwortlich gemacht, wegen der es sich geradezu anbietet zu sagen: «Ich bin nicht deutsch und ich bin muslimisch – und das ist auch gut so!»

Ich kann das nicht dick genug unterstreichen: Muslimischsein und Nichtdeutschsein sind soziale Identitäten, die nur zu verstehen sind vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die sich nach wie vor gern als Weiß, als deutsch, als christlich sieht. Dazu gehört unter Umständen auch das Wissen, an welcher Stelle ich mein Kreuz machen muss, wenn ich in einer Studie gefragt werde, wie wichtig mir meine Religion ist. Diese Art «Muslimischsein» funktioniert nur hier, weil sie hier notwendig ist, um überhaupt irgendetwas sein zu können.

Es lohnt sich also, hierher zu sehen. Es lohnt sich zu verstehen, in welcher Gesellschaft wir hier leben. Allzu oft schauen wir nach Saudi Arabien, wo Frauen von Feuerwehr-Männern bis vor kurzem nicht aus brennenden Häusern gerettet werden durften. Und wer belegen will, dass «der Islam» gar nicht so schlimm ist, wie alle immer behaupten, schaut gern auf mehrheitlich muslimische Länder, in denen in irgendeinem Fach proportional mehr Frauen studieren als in Deutschland. Aber weder die Abwertung von Frauen noch die relative Höher-Repräsentation in anderen Ländern helfen uns dabei, die Geschlechterverhältnisse in Deutschland zu verstehen, so wie sie im Zusammenspiel mit anderen Einschluss- und Ausschlussmechanismen jeden Tag aufs Neue spezifisch hergestellt werden. Es hilft uns nicht zu bedauern, dass Marokko keine Königin, sondern leider nur einen König hat. Es hilft uns aber auch nicht zu jubeln, weil die Türkei viel früher als Deutschland ein weibliches Regierungsoberhaupt hatte.

4. Stand geschlechterreflektierter Pädagogik mit Jungen

Unter anderem hier setzt die geschlechterreflektierte Pädagogik an: Sie wendet die Perspektive auf die eigene Arbeit und schaut, wie gesellschaftliche Ungleichheit entlang des Geschlechts entsteht und aufrechterhalten wird. Oder aufgeweicht werden kann. Und vielleicht sogar perspektivisch abgeschafft. Denn Geschlecht existiert nicht als etwas, das uns angeboren wird, es ist etwas, das gesellschaftlich und in direkter Interaktion immer wieder von neuem hervorgebracht wird. Schon auf den ersten Blick offenbart sich dabei, dass es unterschiedliche Männlichkeiten gibt, die uns angetragen werden – und die wir mit-produzieren. Das Geschlecht, welches auch immer wir haben, ist immer gemacht. Es lohnt sich also, «die» Jungen nicht als eine Gruppe und Einheit zu sehen, sondern zu schauen, von welchen wir konkret sprechen, mit welchen wir konkret arbeiten. Denn der Kampf um die eigene Männlichkeit ist einer, der nicht nur gegen Frauen und Mädchen geführt wird, sondern auch gegen andere, konkurrierende Männlichkeiten – ob in der Jungengruppe oder beim Sport. Jugendliche Migranten, vor allem solche, die aus aufenthaltsrechtlichen oder schichtspezifischen Gründen benachteiligt sind, können wir ohne Mühe zu den «marginalisierten Männlichkeiten» zählen.

Ob wir von der Gewalt- und Straftatenprävention sprechen, von der Berufsorientierung oder der Erweiterung von Handlungsrepertoires ganz allgemein: Die bestehenden Ansätze für die Arbeit mit Jungen sind zumeist von Weißen Deutschen für Weiße Deutsche gemacht. Das ist umso bedauerlicher, als dass die demographische Situation in Berlin nicht zurückzudrehen ist. Das heißt, dass Jungenarbeit sich möglichst bald auf die gesellschaftliche Realität einstellen muss. Damit meine ich hier vor allem: Es wird notwendig sein, neben einer konsequent antisexistischen Ausrichtung der Arbeit auch konsequent antirassistische Ansätze zu entwickeln, denn die Reflexion von Geschlecht muss einhergehen mit der Reflexion auch dieses Ungleichheitsverhältnisses. Und zwar am besten in der Richtung, die Olaf Stuve beim letzten Fachtag «intersektionale Jungenarbeit» genannt hat. Ich hoffe, ich strapaziere Ihre Geduld nur sanft, wenn ich wiederhole: Eine antisexistische Ausrichtung soll darin die Norm sein. Und zweitens: Diese Norm kann nur antirassistisch gedacht und gemacht sinnvoll funktionieren.

Konkret bedeutet dies für unterschiedliche Jungen Unterschiedliches: Während es bei den einen darum gehen wird, die Privilegierungen nicht nur aufgrund des Geschlechts, sondern auch aufgrund der Herkunft, Hautfarbe, Religion etc. sichtbar zu machen, wird es für andere notwendig sein, Empowerment-Angebote zu machen: Denjenigen, die von Rassismus betroffen sind, muss Selbstbestimmung, autonomes Entscheiden und Handeln, überhaupt erst ermöglicht werden. Und von Rassismus betroffen sind längst nicht nur jugendliche Migranten, es sind ebenso Sinti, es sind ebenso Schwarze Deutsche und Juden/Jüdinnen, die familiengeschichtlich in den letzten paar Jahrzehnten und zum Teil Jahrhunderten gar keine Migrationserfahrung aufweisen. Sie sind trotzdem auf allen Ebenen Rassismus ausgesetzt. Denn es ist nicht Herrn Pfeiffers Erfindung und Alleinstellungsmerkmal, nach dem Blut von Menschen zu fragen statt nach Staatsangehörigkeit oder Sozialisation. In der Schule, in der Nachbarschaft, im Fernsehen, auf dem Amt und manchmal selbst im Freundeskreis oder in einer Partnerschaft lernen alle schnell, wer zum «Wir» gehört – und wer nicht.

5. Geschlecht ist ohne Herkunft nicht denkbar – Herkunft ohne Geschlecht auch nicht.

Sie lesen vielleicht gelegentlich von schwulenfeindlicher Gewalt im öffentlichen Raum. Anders als die meisten Fälle lesbenfeindlicher Gewalt schafft die es mittlerweile tatsächlich – zumindest gelegentlich – in die Tageszeitungen. Die Berichte gehen einher mit der Ursachensuche und verweisen dann auf rechtsextreme oder rechtsextrem orientierte junge Männer in einer bestimmten Altersgruppe. Oder sie verweisen auf männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund in derselben Altersgruppe. Während über Homophobie als ideologischem Element des Rechtsextremismus kaum etwas bekannt zu sein scheint, erklärt sich bei der anderen identifizierten Tätergruppe die Gewalt quasi von selbst: Patriarchat ist da ein Wort, Kultur, Religion, gelegentlich auch ländliche Herkunft. Ähnlich wie bei anderen Gewaltvorkommen ist die Vorstellung, eine bestimmte Maskulinität sei kulturell oder religiös als Schicksal vorherbestimmt und führe quasi automatisch zu Delinquenz, ein ausreichender Erklärungsansatz. Quasi «natürlich» korrespondiert damit eine bestimmte Femininität, die vor allem zum Opfer taugt (Verbot des Schwimmunterrichts, häusliche Gewalt, Kopftuchzwang, Ermordung, Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung etc.). Es ist bedauerlich, dass wir in dieser Debatte nicht längst schon viel weiter sind. Denn sehr wohl gibt es sehr gescheite Untersuchungen zur Homophobie im Rechtsextremismus – und sehr wohl kennen wir alle sehr unterschiedliche Männlichkeiten und Weiblichkeiten, die sich mit dem Phänomen Migrationshintergrund exzellent vertragen. Dass Migration zu einem Schicksal stilisiert wird – also zum prädestinierten Opfer männlicher Gewalt bzw. zum Täter männlichen Geschlechts – ist nicht so sehr die Schuld derjenigen, die das am eigenen Leib, an der eigenen Psyche und am eigenen Gefühlshaushalt erleben müssen. Es ist die Schuld einer Debatte, die Delinquenz zur Regel und humane Einstellungen und Verhaltensweisen zur Ausnahme erklärt.

Sie erinnern sich an Edmund Stoiber. Als er in Bayern noch Ministerpräsident war, erkannte er sein Herz für die Rechte zwangsverheirateter Frauen. Edmund Stoiber würde es nie schaffen, im Bildwörterbuch unter dem Eintrag «Feminist» abgedruckt zu werden. Er würde es vermutlich auch nicht in unserer Zeit wollen, wo Alice Schwarzer für die BILD-Zeitung schreibt. Deutlicher als viele andere brachte er sein Interesse auf den Punkt: Zwangsweise verheiratete Kurdinnen und Türkinnen = guter Grund, Einwanderung zu beschränken oder zumindest zu erschweren. Heute sind Stoibers Überlegungen Teil des Zuwanderungsgesetzes. Wozu sein Engagement für Geschlechtergerechtigkeit noch geführt hat, vermag ich nicht zu sagen.

Sie erinnern sich an die konservative Landesregierung in Baden-Württemberg, die sich erdreistete, einbürgerungswilligen Menschen, die von Beamt_innen als muslimisch identifiziert wurden, sehr intime Fragen zu stellen. Nicht alle Fragen waren so plump wie die, was Betroffene tun würden, wenn ihnen zur Kenntnis kommt, dass jemand in der Nachbarschaft Bomben baut. Unter anderem wurde auch gefragt: Wie würden Sie reagieren, wenn ihr Sohn sich als schwul outet? Das ist eine ausgesprochen interessante Frage. Würde es Sie auch interessieren, wie der aktuelle Ministerpräsident des Bundeslandes die Frage beantworten würde? Die Landesregierung von Baden-Württemberg war damals um nichts homo-freundlicher als heute – aber immerhin ging es darum, ein «aufgeklärtes», «zivilisiertes», «emanzipatorisches» Kollektiv zu schaffen, in das die Ein-Bürgerung natürlich nicht so einfach sein kann. Zu den Kuriositäten gehört hier sicher auch, dass der Lesben- und Schwulenverband in Berlin sich über das bisschen Zärtlichkeit von Rechts freute und emsig forderte, dass es diesen Muslim-Test am besten auch in Berlin geben soll. Ob er damit auch im Namen von lesbischen Migrantinnen und schwulen Migranten sprach, ist eine dieser interessanten Fragen.

Sie erinnern sich sicher auch an eine der Musliminnen mit Kopftuch, die Lehrerin werden wollten. Während niemand ein Problem hatte – oder hat – mit Tausenden kopftuchtragender Putzfrauen, erregte jede einzelne Anwärterin auf ein Lehramt ein immenses öffentliches Interesse. Vielleicht sogar ein öffentliches Ärgernis. Ich will Ihnen weitere Beispiele ersparen – und auch einen Ausflug in die Geschichte, in der es ganz ähnliche Figuren und Argumentationsmuster gegeben hat. Es wird reichen zu wissen, dass schon die Kolonisation des größten Teils der Welt unter anderem mit einer Intervention in «ungerechte» Geschlechterverhältnisse bzw. «widernatürliche» Sexualpraktiken begründet worden ist. Wenn es darum geht, den «weniger werten» Männern die eigene Herrschaft aufzudrücken, kann die Ungleichbehandlung von Frauen ruhig mal einen Moment im Vordergrund stehen.

Was diese wenigen kurzen Darstellungen meiner Meinung nach zeigen, ist Folgendes:

Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität sind immer ethnisiert oder religiösisiert, wie auch die Vorstellung von ethnischen Gruppen immer etwas mit Sexualität und Geschlecht zu tun hat. In diesem Kreis muss ich sicher nicht weiter ausführen, was der Einsatz nicht-Weißer weiblicher Hilfskräfte mit der Emanzipation Weißer Frauen im globalen Norden und Westen zu tun hatte und hat. Offensichtlich funktioniert Geschlecht als gesellschaftsstrukturierende Kategorie weder historisch noch aktuell allein. Geschlecht, als ein Strukturmerkmal unserer Gesellschaft, kann in seinen Auswirkungen nur verstanden werden, wenn es in seinen Überschneidungen und Überlappungen mit anderen Einschluss- und Ausschlussmechanismen analysiert wird. Die Wissenschaft sagt neuerdings «Intersektionalität» dazu – und meint im Wesentlichen das, was Schwarze Feministinnen seit Jahrzehnten anmahnen, ohne je vom Mainstream ernstgenommen worden zu sein.

Das, was im Feminismus früher konsequent und richtiger Weise Klasse genannt wurde und was heute gern Schicht oder Milieu genannt wird, und das, was heute als «Kultur» bezeichnet wird, sind Teil von Geschlecht, so wie Geschlecht Teil von ihnen ist. Denn es handelt sich dabei nicht um eine bloße Addition, bei der drei Phänomene nebeneinander stehen und eine Summe ergeben, sondern um eine Verschränktheit von Anbeginn. Es ist durchaus möglich, dass Weiße, deutsche, christlich sozialisierte Frauen gesellschaftlich höher stehen als männliche Migranten aus einem mehrheitlich muslimischen Land. Denn Patriarchat und Rassismus und soziale Ungleichheit entscheiden gemeinsam darüber, wo jemand steht. Die dominanten Bilder von männlichen Migranten sind mehr als die Vorstellung vom Mannsein plus die Vorstellung von der Gruppe der Migrierten und ihrer Nachkommen.

Wenn also das Gespräch über bestimmte Geschlechterkonstruktionen geht (wie etwa die Frau mit Kopftuch oder den hypermaskulinen jugendlichen Gewalttäter «nichtdeutscher Herkunft») reden wir auch – und zwar leider immer nur implizit, ohne es ausführen zu müssen – über grundsätzlich andere, nämlich «unsere» Geschlechterkonstruktionen, die «natürlich» viel gesitteter, friedliebender und zivilisierter sind. Gewalt gibt es hier wie dort. Denn die Menschen werden nicht der lieben Ordnung willen in diese und jene sortiert, sondern weil das einigen Gruppen die Möglichkeit zur Herrschaft über andere Gruppen gibt. Die einen gibt es nur, weil es die anderen gibt.

6. Zum Abschluss

Wir werden einer Mediendebatte und einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion in der pädagogischen Praxis nichts Gescheites entgegensetzen können, wenn wir nicht dazu kommen, in der konkreten Arbeit zu berücksichtigen, was – ich möchte es wieder etwas trivialer sagen – eigentlich normal sein sollte. Ich meine wirklich das Wort in seinem engen Sinn: normal. Das heißt, die Jungen wahrzunehmen wie sie sind und ihnen zukommen zu lassen, was allen zusteht. Und uns selbst wahrnehmen: als Erwachsene, die aufgrund eigener Verortetheit etwas Bestimmtes verkörpern. Alle haben eine Hautfarbe. Alle haben eine sexuelle Orientierung. Alle haben bestimmbare Vorstellungen von ihrer Geschlechtsidentität. Es muss in einer Gesellschaft, die von Ungleichheiten geprägt ist, darum gehen, möglichst bewusst mit eigenen Privilegierungen – oder Nicht-Privilegierungen – umzugehen. Im Interesse der Jungen und Jugendlichen. Aber auch, um den eigenen Arbeitsalltag zu erleichtern. Pädagogik kann nicht alles und muss nicht alles können. Gelegentlich lohnt es sich, die Verantwortung denen zurückzugeben, deren Wort mehr zählt als das eigene.

Über gute Beispiele, gelungene Praxis und die in dieser Runde gebündelten Erfahrungen und Kenntnisse zu sprechen, werden wir heute noch viel Gelegenheit haben. Ich bedanke mich erst einmal für Ihre Geduld und Ihre Aufmerksamkeit – und freue mich auf Ihre Fragen, Kommentare und Kritiken.

Vielen Dank!

[Vortrag, gehalten beim 3. Berliner Fachtag Jungenarbeit («Jungenarbeit in Bewegung – Reflexion, Diskussion, neue Ansätze») am 6. Oktober 2010, Text erschienen in: → «Jungenarbeit in Bewegung» (Veranstaltungs-Dokumentation, herausgegeben vom Sozialpädagogischen Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und anderen), Seiten 16–28.

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