Koray Yılmaz-Günay
Tugendterror

Ich möchte reden

Manche finden ja, weil die ganzen Sonntagsreden so penetrant sind, dass Antisemitismus sie nicht beschäftigen müsse. Die ganze Lüge vom «christlich-jüdischen Abendland», die kontrafaktische Aussage, Antisemitismus habe «keinen Platz» in «unserem Land», «Deutschland» habe «wieder-gut-gemacht», «bewältigt», «gelernt» (und könnte nun ruhigen Gewissens andere belehren), stinkt aber zum Himmel und zurück. Wenn es tatsächlich so wäre, wie die Zuständigen meinen, müsste hier ungefähr jeden Tag Staats- und Institutionen-Krise herrschen. Nichts dergleichen herrscht allerdings.

Es herrscht ritualisierte Empörung (einen bis drei Tage). Es herrscht Pathologisierung von ganz schlimm einzelnen Einzeltätern, die kollektive Auslagerung an «die Moslems» (die oft «schlimmer als die Nazis» sind, weil: keine individuelle Wahl, sondern kultureller Ballast), es herrschen Gedenkstättenbesuche, «Wochen der Bruderschaft» und Pädagogik-Performances, um Kinder und Jugendliche zu «bilden», die zu ca. null Prozent Verantwortung für das Entstehen und Fortbestehen von irgendwas tragen.

Weg mit dem ekligen Getümel von «Volksgemeinschaft», weg mit dem ganzen «Volk» – und zwar möglichst schnell. Es ist nicht ersichtlich, warum «Bevölkerung» nicht reichen soll. Weg mit Strukturen, die vollkommen in Ordnung sein sollen, solange die «Solidarität mit Israel» bekundet wird. Nichts ist in Ordnung. Nicht mit Israel, nicht ohne Israel. Es ist auch nichts in Ordnung mit Bewegungen, die sich «gegen Rassismus» wenden und Angela Merkel und Frank-Walter Steinfritz glauben, dass außer ein paar Außenseitern alles schöni ist bei «uns», weil «unsere jüdischen Mitbürger» zu «uns» gehören. Tun sie auch, aber nur wenn «uns» bedeutet: Pogrome, Vertreibungen, Morde, Instrumentalisierung fürs christlich-antisemitische Abendland.

Anders als «bei uns» steht bei mir bis heute Polizei vor jüdischen Einrichtungen, bei mir müssen Leute, die beten gehen wollen, durch Sicherheitsschleusen gehen. Sie werden, wie alle anderen, von Kameras überwacht. Bei mir wird kontinuierlich mit «Kinderrechten» gegen die Beschneidung von Jungen argumentiert, während permanent Kinder im Mittelmeer ersaufen. Bei mir sollen voll-besetzte Synagogen Schauplatz von Massenmorden werden. Bei mir im Viertel befindet sich eine Gedenktafel für «eine» Synagoge (wer muss schon wissen, dass sie einst einen Namen hatte), die «ihre Funktion verlor» [!] und 1956 abgerissen wurde.

In meinem Umfeld gibt es kaum Gespräch, was das alles mit «uns» zu tun hat und mit «uns» macht. Dieses Schweigen – das den Falschen Recht gibt – ist mir suspekt.

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