Koray Yılmaz-Günay

Im verschneiten Buchenwald (Nazım Hikmet Ran)

Im verschneiten Buchenwald

Im verschneiten Buchenwald
lauf ich des Nachts.
Betrübt bin ich, betrübt,
reich mir die Hand – wo ist deine Hand?

Mondlichtfarben ist der Schnee,
die Filzstiefel sind mir schwer.
Dies Pfeifen in mir –
wo ruft es mich hin?

Mein Land, die Sterne
oder meine Jugend – was ist weiter weg?
Zwischen den Buchen:
ein Fenster, wärmlich, gelb.

Wenn jemand, während ich so geh’,
riefe: «Onkel, komm doch her.»
Wenn ich grüßen könnte, zu ihnen gebeugt,
diejenigen im Haus…

Nach Rechnung des alten Kalenders
fing heute Morgen der Frühling an.
Es kamen zurück die Spielzeuge,
die ich meinem Memed sandt’.

Nicht aufgezogen die Feder,
steht schmollend der Lieferwagen rum,
nicht schwimmen lassen konnt’ er
in der Wanne, Memet, sein weißes Schifflein.

Sauber liegt der Schnee, aufgebaucht:
Ich laufe wie auf Samt.
Gestern Nacht, um halb zwölf,
soll gestorben sein Bierut, den ich kannt’.

Er gab mir einmal einen grauen Teppich
und ein Buch, signiert.
Von Hand zu Hand wandern wird das Buch,
noch hundert Jahre leben wird der Teppich.

In meiner Stadt mit sieben Hügeln
ließ ich meine Rosenknospe zurück.
Es ist doch keine Schande, den Tod zu fürchten,
noch zu denken an den Tod.

Es ist unsere sonderbarste Stärke –
es ist ein Heldentum –, das Leben:
wissend, dass wir sterben werden,
ohne jeden Zweifel, dass wir sterben.

Mein Land, die Sterne
oder meine Jugend – was ist weiter weg?
Bayramoğlu, Bayramoğlu,
gibt es ein Dorf noch hinterm Tod?

Des Nachts, im verschneiten Buchen-
wald, lauf’ ich.
Im Dunkeln seh’ ich
die Umgebung wie bei Licht.

Wenn ich jetzt hier abbiege:
die Chaussee, der Bahndamm, die Au.
Aus fünfundzwanzig Kilometern
schimmert bis hierher Moskau…

– Nazım Hikmet, 14. März 1956, Moskau/Peredelkino –
(Übersetzung: Koray Yılmaz-Günay, 25. April 2014)

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