Koray Yılmaz-Günay

Ist er es – oder ist er es nicht? Zur Frage einer «schwulen» Identität bei türkeistämmigen Migranten in der Bundesrepublik

Koray Yılmaz-Günay (2019): Ist er es – oder ist er es nicht? Zur Frage einer «schwulen» Identität bei türkeistämmigen Migranten in der Bundesrepublik. In: Karl Lemmen, Jutta Schepers, Holger Sweers, Klaus Tillmann (Hg.): Sexualität wohin? Hinblicke. Einblicke. Ausblicke. Berlin: Deutsche AIDS-Hilfe (AIDS-Forum DAH 49), Seiten 197–213.

Eine kurze Bemerkung vorab: Ginge es um das Thema «Schwule Deutsche in der Bundesrepublik», müsste man sicher immerzu im Plural sprechen. Allzu verschieden sind die Situationen von Schwulen selbst innerhalb derselben Kultur im selben Land, sodass sich gescheit nur über «Homosexualitäten» sprechen ließe und über eine mögliche Perspektive auf sie. Nicht anders verhält es sich bei schwulen Migranten aus der Türkei und der Entwicklung ihrer sexuellen Identität. Die Dimension der Diaspora kommt allerdings hinzu: Sie sind «Migranten», also anders als «wir». Ich werde in diesem Beitrag nur meine persönliche Sicht darlegen können, die eine unter anderen möglichen ist.

Ich möchte hier am Beispiel der türkeistämmigen Schwulen in der Bundesrepublik zeigen, wie vielschichtig und teilweise widersprüchlich der Prozess der Herausbildung einer sexuellen Identität und des Coming-out sein kann und wo Parallelen und Unterschiede zu Mehrheitsdeutschen bestehen. («Mehrheitsdeutsch» meint hier die Menschen, die mit dem Privileg ausgestattet sind, über bestimmte Sachen nicht nachdenken zu müssen. Ich bin zum Beispiel Teil einer «ethnischen Minderheit», die meisten Leserinnen und Leser verstehen sich aber eben nicht als «ethnische Mehrheit».) Das Interesse an den «anderen» (schwulen) Migranten und diesen «anderen» (migrantischen) Schwulen ist in den letzten Jahren gewachsen – nicht nur vor dem Hintergrund der Debatten um den politischen Islam und das Verhältnis zwischen Aufnahmegesellschaft und Migranten oder im Zuge der Diskussion um die so genannte interkulturelle Öffnung (von Organisationen, Verwaltungen usw.), sondern auch in den schwulen Szenen selbst. Oft geht man dabei unausgesprochen davon aus, dass «Migranten» synonym mit «Muslime» sei und dass es sich gerade beim Coming-out um einen Zusammenprall von Kulturen handele (Orient–Okzident), der die «Betroffenen» vor noch größere Probleme stelle als westlich Sozialisierte in einer ähnlichen Situation. Bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts war deswegen die Rollenverteilung klar: Die wohlmeinenden Mehrheitsdeutschen wollten den «defizitären» Migranten helfen, endlich auch offen so sein zu können wie sie selbst. Dabei wurde oft verkannt, dass die sexuelle Orientierung nicht der einzige wichtige Baustein in der Identität der schwulen Bosnier, Kurden, Indonesier, Türken, Araber, Inder, Perser usw. ist, sondern dass auch die Integration der kulturellen Wurzeln eine unerlässliche Bedingung für die Herausbildung der Persönlichkeit ist. Bei den Debatten um homophobe Übergriffe von Migranten wird deutlich, wie wenig mehrheitsdeutschen Schwulen diese Mehrfachzugehörigkeit bewusst ist. Allzu selbstverständlich werden Lesben und Schwule mit Migrationshintergrund in den Dienst genommen, um ihre «vormodernen» Familien zu «zivilisieren» [!] (vgl. hierzu Yılmaz-Günay 2004 a).

Als Angehöriger (mindestens) zweier Minderheiten ist man, gewollt oder ungewollt, permanent gefordert, sich mit zusätzlichen Gedanken zu plagen, die Angehörigen der Mehrheit erspart bleiben. Das schafft ein hohes Maß an Sensibilität für sich und die Umwelt, in der man lebt. Der oft geforderte «interkulturelle Dialog» fängt also erst da wirklich an, wo beide Seiten über sich erzählen, und zwar ohne die kolonialistische Vorannahme, dass die eine (mehrheitsdeutsche) Lebenswelt «normaler» oder – in der Intention noch deutlicher – «aufgeklärter»/«moderner»/«zivilisierter» sei, während es sich bei den anderen um «Opfer» handelt. Es ist ein Luxus jeder Mehrheit, bestimmte Charakteristika bei anderen zu ethnisieren und das so Exotisierte entweder zu mögen oder abzulehnen. Dass in Wahrheit «deutsch» genauso eine «ethnische» Zuschreibung ist, dass sich immer bestimmte Menschen aufgrund bestimmter Charakteristika in einer privilegierten oder unterprivilegierten Situation befinden, interessiert die «Sozialarbeiter/innen» nicht besonders. Das «Interkulturelle» wie der «Dialog» setzen also voraus, dass Mehrheitsdeutsche sich über sich klar werden – zumindest, wenn diese Anstrengung auf Augenhöhe ausgetragen werden soll. Im Moment spricht man eher von «bei uns», «westlichen» Werten usf., ohne einen Begriff davon zu haben, was das in einer postkolonialen und globalisierten Welt denn eigentlich heißt. Ich bin überzeugt, dass die neuen – auch homosexuellen – Generationen von Migrantinnen und Migranten nicht mehr ohne weiteres akzeptieren werden, dass von ihnen «Integration» verlangt wird, weil die Mehrheit keine Unterschiedlichkeit verträgt. Sie verstehen sich – wie sie sind – bereits als integralen Bestandteil der hiesigen Gesellschaft. Und sollten auch so gesehen werden. Der Ton ist seit Rot/Grün erstaunlich klar; Bundesinnenminister Schily verdeutlichte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (27. Juni 2002), dass die beste Form von Integration «Assimilierung» [!] sei: «Ausländer» sollten sich in die deutsche Kultur und Sprache «hineinleben». Türk/innen, die sich eine doppelte Staatsbürgerschaft «erschlichen» haben, würde er am liebsten ausweisen – obwohl diese Regierung mit eben der Forderung, doppelte Staatsbürgerschaften zu ermöglichen, angetreten war.

Dass ich mit einer subjektiven Darstellung der türkischen Gesellschaft und der mit ihr verbundenen sozialisations- und identitätsrelevanten Aspekte anfange, hängt damit zusammen, dass in der Diaspora viele (auch vermeintliche) Eigenheiten stärker gehütet werden, als dies im Herkunftsland nötig und möglich wäre – oft sind Kinder und Kindeskinder von Einwanderinnen und Einwanderern in diesen Fragen sogar «konservativer» als ihre Eltern und Großeltern, weil die junge Generation viel stärker hier verankert ist, aber quasi jeden Tag hört und vermittelt bekommt, dass sie dort ihre «Heimat» habe.

Homosexualität in der Rechtsprechung

Die Türkische Republik ist ein relativ junger Staat und sieht sich nur bedingt in der Nachfolge des Osmanischen Reiches, dessen Rumpfterritorium sie doch darstellt. Anders als in Deutschland haben sich die Gründungsväter und -mütter der kemalistischen Türkei deutlich von dem untergegangenen Vorgängerreich distanziert. [Mit «Kemalismus» wird gemeinhin die Gründungsphilosophie der Türkischen Republik bezeichnet. Benannt ist sie nach dem ersten Präsidenten, Mustafa Kemal (Atatürk).] In den Anfangsjahren der Republik in den 1920er Jahren wurden die jeweils fortschrittlichsten Gesetze aus den westeuropäischen Staaten übernommen, die, auch wenn die Wirklichkeit eine andere war, offiziell immer hochgehalten wurden. In der Verfassung fand sich, wie im Osmanischen Reich, nie ein Artikel, der gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken verboten hätte. Einzelne Gesetze bzw. deren Auslegung benachteiligen aber effektiv nicht-heterosexuelle Menschen. Namentlich das Zivilrecht, das Homosexualität als Scheidungsgrund für die Partnerin oder den Partner nennt, und das Militärrecht gehen auf Homosexualität ein. Darüber hinaus gibt es auch Bestimmungen zu «Straftaten, die einen erröten lassen» (yüz kızartıcı suç, etwa: Erregung öffentlichen Ärgernisses), die oft – aber nicht ausschließlich – gegen Nicht-Heterosexuelle angewandt werden. Ein Antidiskriminierungsgesetz gibt es nicht. Das Schutzalter liegt für alle möglichen Formen der Sexualität bei 18 Jahren, allein eine Hochzeit mit Einwilligung der Eltern ermöglicht es Heterosexuellen, mit 16 Jahren legal Sex zu haben. Religiöse Eheschließungen werden zwar staatlich nicht anerkannt, kommen aber trotzdem häufig vor.

Religion(en) und Homosexualität

Unter den mehrheitlich muslimischen Ländern ist die Türkei sicherlich das am weitesten säkularisierte. Der radikale Bruch mit dem Osmanischen Reich (Republikgründung 1923) hatte auch zur Folge, dass ein laizistischer Staat aufgebaut wurde, der offiziell alle Religionen und Konfessionen gleich behandeln sollte. Das heißt, dass Angehörige anderer Richtungen des Islam, Yeziden, Juden sowie orthodoxe, protestantische und katholische Christen als Individuen nominell so behandelt werden wie die Mehrheit der Bevölkerung, die sunnitischen Moslems. Die Trennung von Staat und Religion ist zwar nicht vollkommen verwirklicht, und es gibt faktisch eine deutliche Förderung der sunnitischen Ausprägung des Islam, dennoch lässt sich die Situation insgesamt sicherlich nicht mit der in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens vergleichen. Im öffentlichen Leben der Metropolen in der West-Türkei hat die Religion ohnehin keine dominante Stellung inne. Aber auch dort, wo der Islam traditionell stärker im Leben der Menschen verankert ist, lässt sich nicht von einem monolithischen Block sprechen; es gibt keine vermittelnde Instanz zwischen Gläubigen und Gott, kein Lehramt wie in der katholischen Kirche, also keine zentrale Dogmenverwaltung. Viel stärker als in vergleichbaren Ländern sieht man die Religion in der Türkei als private Angelegenheit an, in die sich der Staat nicht einzumischen habe – wie der Staat auch seinerseits keine Einmischung von Seiten der Religion duldet. Wenngleich Verstrickungen spätestens seit dem Militärputsch vom 12. September 1980 nicht zu leugnen sind: Die Militärregierung unter Kenan Evren führte zum Beispiel den obligatorischen Religionsunterricht ein. Trotzdem wird die Armee im Allgemeinen als Hüterin der laizistischen Ordnung gesehen.

Dezidierte Aussagen zur Homosexualität kommen im Koran – anders als etwa in der Tora oder im Neuen Testament – nicht vor; allein die Geschichte von Lot, ganz ähnlich der biblischen Geschichte von Sodom und Gomorra, wird an einigen Stellen erwähnt und oft so interpretiert als äußere sie sich zu diesem Thema. Ob die Schriften des Islam und die Prophetenüberlieferungen Homosexualität ablehnen, ist für die Lebenswelt von türkeistämmigen Migranten mit «abweichendem» Sexualverhalten andererseits kaum relevant. Viele andere, in der Kultur und Tradition wurzelnde Argumente wiegen schwerer und sind in Diskussionen über das Thema bedeutender. Ähnlich wie in westeuropäischen Ländern würde irgendwann geäußert werden: «Übrigens, die Religion ist auch dagegen!» Nichtsdestotrotz funktioniert die Gleichsetzung Orient = Islam = alle Schreckensbilder, die damit einhergehen, in den Köpfen der Mehrheitsdeutschen sehr gut – nach den Anschlägen vom 11. September vielleicht sogar immer besser. Schwule Männer sehen sich oft mit der Frage konfrontiert, was denn «der Islam» dazu sage. Mich würde bei einem Israeli nicht zuallererst interessieren, was denn die Tora «dazu» sagt, wenn ich mit ihm über seine Homosexualität sprechen würde. Ich ginge vielleicht nicht einmal davon aus, dass er automatisch Jude sein müsse, wenn er aus Israel kommt. Viel interessanter ist ja – wenn man an der Person interessiert ist, was bei einer Coming-out-Geschichte anzunehmen wäre – ob die Großmutter einen Herzanfall bekommen hat, wie Mutter und Vater reagiert haben, ob es schwierig ist, einen Partner zu finden, ob man als «lediger» Mann einfach eine Wohnung mieten kann etc.

Diese bewussten und nicht-bewussten Zuschreibungen führen zu erheblichen Problemen. Menschen aus dem Balkan, dem kurdisch-türkischen oder arabischen Raum können, müssen aber nicht bekennend muslimisch sein. In der religiösen Praxis gibt es zudem Unterschiede. Nicht jeder schwule Mann aus einer türkischen oder arabischen Familie muss aufgrund religiöser Erwägungen ein dramatisches Coming-out haben oder sein Lebtag versteckt leben. Weniges ist hier abstoßender als mediengebildete «solidarische» Menschen, die einem auf die Schulter klopfen und erzählen, dass sie ahnen, «wie schlimm das sein muss». Für sie stehen die Anschläge auf die Zwillingstürme und die Synagogen in İstanbul mit den gesteinigten afghanischen Frauen und den verfolgten Schwulen aller mehrheitlich muslimischen Länder in einem engen Zusammenhang, der für die «Betroffenen» allerdings nicht nachvollziehbar sein muss. Darin findet ein ums andere Mal auch die tief verwurzelte Ansicht ihren Ausdruck, bei Hiesigen sei alles ausgestanden und nun könne man der Welt helfen, an diesem Wesen zu genesen. Als Berliner aus dem Stadtzentrum weiß ich, dass weder in den Außenbezirken noch besonders im brandenburgischen Umland alles Heile Welt ist. Das Argument von arrivierten Bürgerrechtsschwulen, die Gedenkstätte für die in der nationalsozialistischen Epoche ermordeten Homosexuellen könne Deutschland helfen, seine Menschenrechtsstandards in der Restwelt durchzusetzen, wird 20 Kilometer weiter von selbst absurd.

Familie

Viel entscheidender für die Identitätsbildung ist die Familie, die in der türkischen Gesellschaft traditionell eine sehr dominante Rolle spielt. Hier stehen zwei Modelle nebeneinander: Neben der «westeuropäischen» (städtischen, zur Mittelschicht gehörenden) Kleinfamilie gibt es weiterhin die Großfamilie, die in allen Fragen als soziales Netzwerk fungiert, in dem es Hilfe, Geborgenheit und Solidarität gibt. Zu behaupten, dass das eine Modell einengender oder das andere freiheitlicher sei, ist meines Erachtens nicht möglich. Beide Varianten dienen ja im Prinzip demselben: Sie bereiten den jungen Menschen auf ein Leben in der Gesellschaft vor, prägen Wert- und Moralvorstellungen und bieten Zuflucht, falls diese gesucht wird. Darüber hinaus herrschen in beiden Modellen ziemlich genaue Vorstellungen über den Werdegang eines Kindes. Ein nicht-heterosexueller Lebensentwurf wird dabei zunächst, unabhängig von der Familienstruktur, Bestürzung, Ablehnung oder gar Hass auslösen. Wie sich diese Äußerungen langfristig ändern, wird ja leider nicht untersucht. Meine – wiederum sehr subjektive – Erfahrung mit Coming-outs oder Outings zeigt jedoch, dass in der Akzeptanz seitens der Eltern in beiden Gesellschaften, langfristig, kaum ein Unterschied auszumachen ist – es sind in der Regel aber leider nicht die positiven Erfahrungen in Familien, die es auf die Titelseiten schaffen… (Dass die große Mehrzahl der «Betroffenen» nicht geoutet ist, muss hier vielleicht erwähnt werden, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass kurdische und türkische Familien weniger homophob seien als west-europäische.)

Die typischen ersten Reaktionen auf ein Coming-out oder ein Outing lassen sich wie folgt beschreiben: Moderate Familien dürften instinktiv von einer Krankheit ausgehen, die heilbar ist – die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die diese Theorie durch «Therapieansätze» stützen, dürfte in der Türkei höher sein als in nord- oder mitteleuropäischen Ländern. Die Vorgehensweise städtischer Familien wäre vermutlich, mit dem Kind zu einem Psychologen bzw. einer Psychologin zu gehen. Für den Fall, dass bei einem solchen Gespräch nicht-heterosexuelle Lebensweisen als unproblematisch dargestellt werden, würde man «natürlich» einen anderen Psychologen suchen, der das «Problem» als Problem benennt und auf jeden Fall eine «Heilung» verspricht. Diese Problemlösungsstrategie müsste zahlreichen Mehrheitsdeutschen, die aus dem Dorf in die Stadt zogen, eigentlich vertraut vorkommen.

Da Kinder grundsätzlich bis zu ihrer Heirat nicht als Subjekte gesehen werden, die Entscheidungen treffen (können), gehen viele Familien davon aus, dass Freundinnen und Freunde bzw. das soziale Umfeld für die Abweichungen bei ihrem Kind verantwortlich seien. Demzufolge werden schwule Jungen oft isoliert und manche sogar im Haus eingesperrt. Da das Familienoberhaupt bzw. ältere Geschwister ökonomisch das Familienleben regieren, ist in diesem Zusammenhang auch der Entzug von Geld oft ein «probates» Mittel zur «Disziplinierung». Um keine Zweifel an der Integrität der Familie aufkommen zu lassen, werden auffällig nicht-heterosexuelle Kinder oft zwangsverheiratet, manche auch körperlich misshandelt oder im Extremfall gar getötet. Die aktuelle Debatte über Zwangsverheiratungen könnte sicher belebt werden, wenn zur Kenntnis käme, dass nicht nur heterosexuelle Frauen, sondern auch heterosexuelle Männer oder Homosexuelle «betroffen» sind. Ich sage dies im Plauderton und denke doch insgeheim darüber nach, ob es richtig sei, solche Bemerkungen hier zu machen. In einem kurdischen oder türkischen Kontext würde ich diese Tatsachen im Kampf gegen Homophobie und Sexismus immerzu und selbstverständlich einsetzen. In einer Publikation, die hauptsächlich Mehrheitsdeutsche lesen werden, muss ich mich fragen, ob das, was ich sage, nicht in den Dienst einer bevormundenden «Aufklärungs-» Kampagne gestellt werden kann, die die Opfer solcher Maßnahmen ihrer Selbstständigkeit und Handlungsfähigkeit beraubt. Bei dem Mord an Hatun Sürücü in Berlin waren es zunächst ja auch die Brüder, bis rapide und sauber recherchiert die Wahrheit herauskam: Es war der Multikulturalismus – bzw. seine Befürworter. Viele solcher Debatten, die von Opfern handeln, geraten aus dem Ruder und werden schnell den Betreffenden aus der Hand genommen – um am Ende gegen sie verwendet zu werden. Ich sehe hierin einen der Hauptgründe separatistischer Organisation. In mehrheitsdeutschen Organisationen werden unsere Anliegen vereinnahmt und in den Dienst anderer Ziele gestellt. Deswegen erst entstehen die so gefürchteten «parallelen» Strukturen.

Menschen mit «abweichender» sexueller Orientierung leben nicht im Vakuum, auch sie verinnerlichen im Lauf ihrer Erziehung die Werte und symbolhaften Verhaltensweisen, die das familiäre Leben bestimmen. Deswegen ist es nicht einfach, den Schritt in ein offen nicht-heterosexuelles Leben zu vollziehen, denn das hieße oft, einen anderen wichtigen Teil der eigenen Identität aufzugeben; manchen erscheinen die Geborgenheit und die Wahrung des familiären Friedens wichtiger als das (offene) Ausleben der eigenen Sexualität: Sie fügen sich den Regeln, heiraten – und leben gleichgeschlechtliche Sexualität entweder versteckt oder gar nicht aus. Darüber moralisch zu urteilen, wäre kaum angebracht: Im Gefüge von Sicherheit, Geborgenheit, Angst und Verfolgung wird zunächst jeder Mensch seinen eigenen Weg gehen müssen. Verallgemeinerungen würden in diesem Zusammenhang oft zu Missverständnissen und Kränkungen führen. Was mehrheitsdeutschen Schwulen selbstverständlich erscheint, muss für einen Türken oder Kurden nicht unbedingt das drängendste Problem sein. Fragen wie: «Wie haben es denn deine Eltern aufgenommen?» oder «Wann sagst du es ihnen endlich?» bergen in binationalen Beziehungen häufig großes Konfliktpotenzial, vor allem wenn der Fragende auf Antwort pocht und dem Gefragten nicht abnimmt, dass das für ihn nachrangige Dinge seien.

Sprache

Das Problem fängt schon bei der Selbstbezeichnung an. Oft fehlt dem sich selbst als schwul entdeckenden Mann anfangs ein Wort, um sich und die neue Situation befriedigend zu bezeichnen, obgleich es im Türkischen einen reichhaltigen Wortschatz für die Benennung von Homosexualität und homosexuellen Männern gibt. Wie für den Bereich der Sexualität überhaupt gilt auch hier, dass die meisten Begriffe aus der Umgangssprache der Metropolen stammen und sich in keinem Wörterbuch finden. In einer Aufstellung für «lubunya» habe ich über 80 Wörter verzeichnet, die gleichgeschlechtliche Sexualität benennen (Yılmaz-Günay 2002). Etwa zehn davon beziehen sich auf Frauen, die Sex mit Frauen haben, die restlichen auf Männer, die Sex mit Männern haben. Das allein spricht bereits eine deutliche Sprache, aber es lassen sich aus dieser Liste auch weitere Schlüsse ziehen, die in diesem Zusammenhang interessieren: Von den Begriffen für Männer, die gleichgeschlechtlichen Sex haben, beziehen sich weniger als fünf auf solche, die andere Männer penetrieren, und mehr als die zehnfache Zahl auf Männer, die sich penetrieren lassen. Hinzu kommt: Ein nennenswerter Anteil der zumeist sehr negativ konnotierten Begriffe für «passive» Männer wird auch für Sexarbeiterinnen verwendet (das Türkische kennt kein grammatisches Geschlecht). «Homosexualität» und «Transsexualität» werden sprachlich – wie in der Gesellschaft – nicht bzw. nur selten unterschieden. Überspitzt gesagt zeichnet sich sogar eine Karriere vor: Du lässt dich penetrieren, wirst Sexarbeiter, damit du Drogen und die Operation zur Frau bezahlen kannst. Passivität ist nicht nur im Sinne des aufnehmenden Analverkehrs zu verstehen, sondern als eine der beiden Rollen, die Menschen in einem Gefüge einnehmen können.

In den letzten zehn Jahren, etwa parallel zum Entstehen der neuen Lesben-, Schwulen- und neuen Transsexuellen-Bewegung, hat sich in der Öffentlichkeit neben dem ebenfalls weit verbreiteten «gay» mehr und mehr der wertneutrale Neologismus eşcinsel durchgesetzt, der zur Bezeichnung eines positiven Identitätsentwurfs dient. Diese relativ neue Entwicklung in den Großstädten ist an vielen Land- und Provinzbewohnern allerdings vorbeigegangen, und vor allem auch ehemalige «Gastarbeiter» oder deren Kinder haben Probleme, in ihrer Muttersprache einen Namen für sich und für das zu finden, was sie tun und empfinden. Auch wenn in der Bundesrepublik zumindest in der Fachöffentlichkeit häufig der etwas unhandliche Begriff «Männer, die Sex mit Männern haben» verwendet wird (gemeint ist: ohne sich selbst als «schwul» verstehen zu müssen), verstehen viele Mehrheitsdeutsche doch nicht, dass es erst recht im Referenzsystem dieser «anderen» Migranten ein immens großer Schritt sein kann, sich selbst als «schwul» zu bezeichnen. Die Frage, wie notwendig diese Kategorie insgesamt ist, wird sich erst in der Zukunft beantworten lassen, im Moment zeichnet sich ja eine Entwicklung zum nordamerikanischen «queer» ab.

Militär

Nach der Beschneidungsfeier und vor der Hochzeit ist der Militärdienst traditionell die zweite wichtige Etappe im Erwachsenwerden eines türkischen Jungen. Es gibt unterschiedliche Arten des Militärdienstes, die unterschiedlich lang sind. Abhängig ist dies u.a. davon, ob man einen Universitätsabschluss hat. Die Dauer wurde im Jahr 2003 von mindestens acht auf sechs und von maximal 18 auf 16 Monate verkürzt. Einen wie auch immer gearteten Ersatzdienst gibt es nicht – der familiäre und gesellschaftliche Druck, zum Militär zu gehen, ist ohnehin überwältigend groß. Wegen seiner sozialisierenden Aufgabe ist das Militär in der Türkei ein Hort der «Männlichkeit» und des entsprechenden Umgangs miteinander. Wer weich ist, hat verloren. Wer durch effeminiertes («weibisches») Verhalten oder bloß durch fehlende «Männlichkeit» auffällt, wird es nicht leicht haben. Homosexualität ist zwar in der Türkei offiziell keine Krankheit, beim Militär allerdings ein Ausmusterungsgrund. Als Antimilitarist könnte man sich darüber freuen, dass es den Schwulen in der Türkei wenigstens in dieser Frage ganz gut geht, aber leider ist die Freude darüber geschmälert durch die Praxis, wie der Beweis dieses Umstandes zu erbringen ist: Zum einen können die Militärkommissionen während der Musterung eine «medizinische Kontrolle» durchführen, andererseits kann die Kommission die Beweislast auch einfach auf den Gemusterten übertragen, der in diesem Fall glaubwürdig belegen muss, dass er «homosexuell» ist. Da dieses Wort, wie oben dargelegt, nur in der spezifischen Einengung «passiv» verstanden wird, muss der Kandidat entweder Fotos oder Videos beibringen, die ihn und den Penetrierenden mit ihren Gesichtern und im Vollzug des Aktes zeigen. Um die «Krankhaftigkeit» zu beweisen, muss rezeptiver Analverkehr mit mehreren Partnern glaubhaft gemacht werden. Insertiver Analverkehr wäre kein Ausmusterungsgrund.

Der Ausmusterungsurkunde kommt eine besondere Bedeutung zu; so interessieren sich Arbeitgeber immer dafür, ob ein Bewerber seinen Militärdienst bereits absolviert hat – der Ausmusterungsgrund «Psychosexuelle Störung: Homosexualität» dürfte in den seltensten Fällen einer positiven Entscheidung förderlich sein… Außerdem dürfen sich dermaßen «Gestörte» auch an staatlichen Ausschreibungen nicht beteiligen.

Auch im Ausland lebende türkische Staatsangehörige müssen ihren Militärdienst in der Türkei absolvieren. Zwar kann man dessen Dauer durch Zahlung einer nennenswerten Summe an den Staat verkürzen, sich aber eben nicht völlig «freikaufen», wie man in Deutschland gelegentlich hört. Die Musterungs-Untersuchung bzw. die Belegpflicht gibt es auch hier, weswegen die Wenigsten diese «humane» Möglichkeit in Anspruch nehmen, um der gewalttätigen Atmosphäre in den Kasernen zu entgehen.

Arbeitsleben

In der Türkei kann man kaum offen (in der Gesellschaft) schwul leben, wenn man nicht gerade Sänger, Schriftsteller oder Modeschöpfer ist. Oft ist ein Coming-out Grund für eine Entlassung; angewendet wird dann die arbeitsrechtliche Formulierung «genel ahlaka aykırı davranış» («Vergehen gegen allgemeine Moralvorstellungen»). Man kann zwar gegen diese Entlassung klagen, aber die Auslegung der etwas globalen «Anschuldigung» wird ganz entscheidend von der Einstellung der Richter und Richterinnen zum Thema Homosexualität abhängen. Allgemein herrscht also das Don’t tell – don’t ask vor…

Medien

Die Medien zeigen großes Interesse an Homosexualität und an Homosexuellen, besonders aus dem Kulturbereich, denn viele Sänger und andere Künstler leben zwar nicht offen, aber auch nicht besonders versteckt homosexuell; Bülent Ersoy, eine der berühmtesten und geschätztesten Sängerinnen, war in den 70ern noch ein Sänger, und Zeki Müren, der sich nicht angleichen lassen wollte, wird immer noch als «Sonne unserer Kunst» (sanat güneşimiz) überhöht. Darüber hinaus kommt das Thema bei der (oft pornographischen) Abbildung «lesbischer» Frauen und der skandalisierenden Berichterstattung über Transvestiten und Mann-zu-Frau-Transsexuelle der Großstädte vor. Diese werden regelmäßig als gewalttätig und als prinzipiell drogenabhängig und (auch) deswegen kriminell gezeichnet. Dass ihnen oft Notwehr als einziges Mittel gegen heterosexistische Ausgrenzung und Misshandlungen durch die Polizei und «Männer» allgemein bleibt, wird nicht thematisiert, wenn Boulevardblätter wieder einmal schreiben, dass sie «die Öffentlichkeit terrorisieren». Einzig bei linksliberalen und gewerkschaftlich orientierten Tageszeitungen wie Radikal und Milliyet sind Ansätze einer nicht diffamierenden Berichterstattung zu erkennen, dort gespeist aus Gründen wie: Die Homosexuellen reisten viel und brächten dadurch Geld ins Land bzw. die Ausgrenzung stehe dem immer aktueller werdenden EU-Beitritt im Weg.

Die einzige Informationsquelle, die regelmäßig aus der Sicht der Nicht-Heterosexuellen berichtet, ist die seit 1994 von der gleichnamigen Gruppe herausgegebene und in Ankara erscheinende Zeitschrift «KAOS GL». Andere Zeitschriften-, Zeitungs- und Radioprojekte überlebten zwar nicht lange, leisteten aber trotzdem enorme Beiträge zur politischen Bildung und zur Lobbyarbeit. KAOS GL ist von der Aufmachung und den Inhalten her ganz Gegenöffentlichkeit, also sehr akademisch, feministisch und politisch dezidiert ausgerichtet. Leider ist sie dadurch nur einem sehr kleinen Teil der Nicht-Heterosexuellen in der Türkei zugänglich. Man muss studiert haben oder sehr geduldig sein, um sich an den Bewusstseinsbildungsprozessen und den Aktionen beteiligen zu können.

«Szene» und offenes Leben

Zugang zu Räumen, an denen man offen schwul sein darf, ist in der Türkei teuer. Da die Polizei nicht nur institutionell repressiv ist, sondern auch auf der Ebene der einzelnen Beamten, die jederzeit Personenkontrollen durchführen dürfen, bezahlen viele Betreiber immense Summen, die sie über hohe Eintrittsgelder und Getränkepreise wieder ausgleichen müssen. Um einen Laden betreiben zu können, der sich an ein stigmatisiertes Publikum richtet, müssen zudem oft vollkommen überteuerte Mieten gezahlt werden. Dies alles führt dazu, dass allein aus ökonomischen Gründen für einen Ottonormalschwulen ein regelmäßiges «Szene-Leben» nicht denkbar ist. Die Auswahl ist auf die raren Bars, Cafés oder Kneipen in den Großstädten begrenzt. Darüber hinaus gibt es nur wenige Diskos, Sexkinos und Cruising Areas. Das Hauptgeschehen findet in den Hamams statt, den Badehäusern, wo häufig Männer mit Männern Sex haben. Wenn sie danach auf die Straße treten, sind sie allerdings wieder ganz Ehe- und Ehrenmann.

Zum Thema «Szene» muss sicherlich auch das Internet genannt werden, denn vor allem in ländlichen Gebieten und bei Söhnen besonders rigider Familien stellt es die einzige Verbindung in die «schwule Welt» dar. Es gibt einige Newsgroups und Foren, die Informationen nicht allein auf sexuellem Niveau bieten, wobei es für mich außer Frage steht, dass auch Seiten mit allein sexuellem Inhalt eine wichtige Funktion beim Coming-out sich selbst gegenüber zukommt.

Eine Identität, die auf der sexuellen Orientierung aufbaut, wäre in der Türkei nicht ohne weiteres denkbar. Überhaupt wäre ein Vergleich mit dem «schwulen Leben» in bundesrepublikanischen Städten fehl am Platz. Dies widerspräche nicht nur den «allgemeinen Moralvorstellungen», sondern tatsächlich dem ganzen Gesellschaftsmodell, das Sexualität – auch die zwischen Frau und Mann – insgesamt als etwas Privates betrachtet und in geschlossene Räume verweist. «Die Gesellschaft» schränkt nicht so sehr ein, was Menschen in ihrer Privatwohnung oder im Versteck machen; so lange die Öffentlichkeit nicht «belästigt» wird, sind viele Dinge möglich. Und in der Tat sprechen viele schwule Männer, die sich nach der (vermeintlichen) Freiheit in Westeuropa gesehnt haben und nun beispielsweise in der Bundesrepublik leben, von einem erfüllteren Sexual- und Beziehungsleben in der Türkei. Nur das Verhalten in der Öffentlichkeit sei verschieden gewesen, die relative Freiheit in Deutschland gehe für sie aber einher mit Beliebigkeit und Belanglosigkeit im Gefühlsleben. Die im Vergleich unfreie Situation in der Türkei verleihe den Beziehungen Exklusivität und Besonderheit.

Rollenverhalten

Traditionell trennt die türkische Gesellschaft das Frauen- und Männerleben sehr scharf voneinander. Die Geschlechter haben klar zugewiesene Rollen, deren Räume, Freiräume und Grenzen klar definiert sind. Viel mehr als etwa die Religion ist meiner Meinung nach dieser Umstand die Quelle der Homophobie, ähnlich wie in westeuropäischen Gesellschaften auch. Lesben und Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle verletzen empfindlich die vorgegebenen Rollenmuster, die doch diktieren, dass eine «Frau» und ein «Mann» eine (Klein-) Familie bilden und ein Leben lang zusammenbleiben. Daraus ergibt sich aber eine weitere Konsequenz, die in dieser Form in westeuropäischen Staaten heute nicht mehr zu beobachten ist: Die patriarchalische Ordnung mit dem alles überschattenden Gebot der Reproduktion grenzt nicht nur in aller Härte Menschen abweichender sexueller Orientierung aus, sondern alles, was das dichotomische System geschlechtseindeutigen Frau- und Mannseins in Frage stellt: anatomische Zwischenformen, Männer, die die Rolle des gestrengen Familienoberhauptes nicht erfüllen, Frauen, die ihre Sexualität freier ausleben als vorgesehen, unverheiratete Erwachsene, Sexarbeiterinnen, Kinderlose und alle anderen Menschen, die sich in das starre Korsett vorgeschriebener Heterosexualität nicht integrieren lassen oder nicht integrieren lassen wollen.

Für die Analyse der Sicht auf Schwule ist dies sicher ein Umstand, den man berücksichtigen muss. Denn daraus ergibt sich meines Erachtens eine ganz andere Strategie für die Emanzipation in einer solchen Gesellschaft: Es ist so lange nicht denkbar, dass zwei Männer sich in einem anatolischen Dorf auf der Straße auf den Mund küssen, solange Frauen dort das Haus nicht allein verlassen dürfen. Das ist vielleicht ein Nachteil, kann meiner Meinung nach aber zum Vorteil gewendet werden: Da Frauen und alle abweichenden, stigmatisierten Minderheiten im Prinzip ähnliche oder gleiche Ziele haben, ist zumindest die theoretische Basis für eine gesamtgesellschaftliche Emanzipation viel größer. Die Gefahr, dass sich Schwule wie in Westeuropa von anderen (Frauen, Lesben, anderen sexuellen Minderheiten) isolieren und die relative Freiheit des Trotzdem-Mann-Seins genießen, ist in der Türkei geringer, denn solange es den türkischen Patriarchen gibt, kann sonst niemand so frei sein wie er. In der Realität allerdings ist dem etablierten Großstadt-Schwulen in der Türkei das Schicksal gefolterter Transsexueller oder geräumter kurdischer Dörfer wohl weitgehend egal, und darüber hinaus ist auch er nicht frei von dem patriarchalischen Bild, was und wie ein Mann zu sein habe.

Auch, wenn man über Homophobie spricht, muss man sich dieses Umstandes bewusst sein, nicht alles, was gegen Homosexuelle gewendet wird, ist «homophob» im deutschen Sinn. Oft ist es eine Heterophobie, also die Angst vor dem, was «anders» ist – und das sind sicher nicht nur ein schwule Männer…

Transsexuelle

Männer, die Sex mit Männern haben, müssen sich selbst nicht als «schwul» verstehen (vgl. Yılmaz-Günay 2004 b). In der türkischen Gesellschaft wie auch in Italien, Spanien und anderen Ländern am Mittelmeer verlaufen die Klassifikationen anders. Nur wer sich penetrieren lässt, ist eine «Schwuchtel» oder ein «Arschgefickter». Da gesellschaftlich genau zwei Geschlechter vorgesehen sind, die sich gegenseitig begehren dürfen, liegt auf der Hand, welchem Druck «passive» Männer ausgesetzt sind. Sie werden in die Rolle der Frau, der Kinder, der Kranken und Irren gedrängt, aller, die nicht mächtig sind. Sie verzichten auf die Rolle des Herrschers und bevorzugen die Seite derjenigen, die beherrscht werden. Im Endeffekt heißt das also, dass nicht das Geschlecht der Partnerin oder des Partners entscheidend ist, sondern die Position/Stellung/Rolle, in der sich die Person gegenüber der anderen Person befindet.

Es gibt heute sehr viele Transvestiten und Transsexuelle in der Türkei, was sich meiner Meinung nach daraus verstehen lässt, dass auch die Betroffenen verinnerlicht haben, wer Männerkörper begehrt, müsse eine «Frau» sein. Die erste Frage, die einem Mann einfällt, der sich zu Männern hingezogen fühlt, ist in der Tat die, ob er den falschen Körper habe – an den Heterosexismus, der ihn diese Frage stellen lässt, wird er kaum denken. Ohne den krassen Zuordnungsdruck zu einem der beiden gesellschaftlichen Geschlechter gäbe es sehr wahrscheinlich mehr «Schwule» und weniger «Transsexuelle». Die Vorsitzende der Transvestiten- und Transsexuellen-Organisation İnsanca Yaşam Platformu (Plattform für ein humanes Leben), Okşan Öztok, spricht von vielen, die nicht auf eine Operation vorbereitet sind, wenn sie diesen Schritt gehen bzw. von vielen unzufriedenen «Transsexuellen», die erst nach der «Geschlechtsangleichung» merken, dass sie diese eigentlich gar nicht gewollt haben. Eine der Konsequenzen ist eine relativ hohe Selbstmordrate bei diesen Menschen. Ich möchte in diesem Zusammenhang bewusst anmerken, dass ich damit nicht das Konzept von Mann-Sein, was Schwul-Sein ja zur Bedingung hat, in alle Zukunft festschreiben möchte. Es geht mir hier um das Selbstbild der Personen.

Effeminierten Männern, Transvestiten und vor allem Transsexuellen bleibt oft nichts anderes übrig als sich zu prostituieren, weil sie sonst keine Arbeit bekommen. Das Leben in der Sexindustrie, die wie in den meisten europäischen Ländern keine Lobby besitzt, ist oft riskant, das Überleben schwierig. Sexarbeiter/innen, die auf der Straße oder in ranzigen Läden ihrem Job nachgehen, sind der Willkür von Zuhältern, Geschäftsbetreibern und Freiern, vor allem aber der Polizei ausgesetzt. Aufsehen erregte zum Beispiel der Kommissar Süleyman Ulusoy, der jahrelang körperliche Gewalt gegen Schwule und Transsexuelle ausübte – sein Revier liegt in Beyoğlu, dem Bezirk İstanbuls, in dem sich die meisten «Szene»-Lokale befinden. Wenn sich die Transsexuellen der Willkür, Erpressung und Gewalt widersetzen, wird aber regelmäßig ihnen die Störung der gesellschaftlichen Ruhe und Ordnung vorgeworfen. Als besonders benachteiligte Gruppe sind sie es, die am vehementesten und öffentlichsten für eine gesellschaftliche Akzeptanz nicht-heterosexueller Lebensweisen kämpfen. Neben Splitterparteien und wenigen Gewerkschaftsleuten haben sie allerdings kaum eine Lobby.

Organisationen

Das Verbot des CSD 1993 in İstanbul hatte zunächst dort, später auch in Ankara zur Folge, dass sich örtliche Gruppen bildeten, um gemeinsame Interessen zu definieren und diese zu erkämpfen. Zahlreiche kleinere Gruppen (z.B. in İzmir, Bursa, Antalya, Alanya, Eskişehir) sind immer wieder neu entstanden und verkümmert, sodass Lambdaistanbul und KAOS GL Ankara die einzigen langfristig erfolgreichen Gruppen bleiben. KAOS hat neben der gleichnamigen Zeitschrift seit kurzem auch ein Kulturzentrum, in dem regelmäßig Veranstaltungen stattfinden und in dem sich die erste lesbisch-schwule Bibliothek der Türkei befindet. Die beiden Gruppen nehmen seit mehreren Jahren an den traditionellen Demonstrationen zum 1. Mai teil und werden dort sehr warm empfangen. 2003 hat Lambda den ersten CSD in İstanbul organisiert. Diese Formen der Selbstorganisation sind nicht nur eminent wichtig für den mühseligen Kampf um Emanzipation, sondern auch für ganz konkrete einzelne Menschen, die traditionell erst einmal mit der Befürchtung «Es gibt nur Zeki Müren, Bülent Ersoy und mich!» klarkommen müssen.

Spezifische Faktoren bei schwulen Migranten aus der Türkei

Trotz der zum Teil engen Verbindungen, die von der Diaspora in die «Heimat» aufrechterhalten werden, leben türkeistämmige Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik doch ein anderes, eigenes Leben. Zwar finden sich viele Aspekte einer türkischen oder kurdischen Identität generationenübergreifend auch bei ihnen, doch sind diese gefärbt, verändert und ergänzt um Elemente, die aus der bundesrepublikanischen Lebenswelt stammen. Die Familien, die früher elf Monate im Jahr arbeiteten, um einen oder anderthalb Monate das «richtige» Leben in der Türkei zu leben (in den Schulsommerferien), gibt es heute kaum mehr; vielmehr lassen sich viele verschiedene Stadien der so genannten «Integration» beobachten. Waren bis Anfang der 90er Jahre die meisten (älteren) Zugewanderten aus der Türkei noch selbst davon überzeugt, «Gäste» zu sein, hat sich mittlerweile das Bewusstsein durchgesetzt, in einer neuen «Heimat» angekommen zu sein. Die Übernahme deutscher Wörter nicht nur für ehedem unbekannte bürokratische Sachverhalte, die Akkulturation im Bereich von Sitten und Gebräuchen, aber auch die steigende Zahl von Vereinsgründungen und der wachsende Anteil türkischer Mitglieder in Vereinen und anderen Organisationen sind deutliche Belege dafür. Sogar die CDU hat mittlerweile eine Türkin im Bundesvorstand!

Nichtsdestotrotz gibt es auch unleugbare Probleme, die das Zusammenleben erschweren. Die Zugewanderten sind, zumal wenn ihr Aussehen sehr weit von dem der «typischen» Mehrheitsdeutschen abweicht, mit Zuschreibungen konfrontiert, die automatisch eine Menge «Wissen» im mehrheitsdeutschen Betrachter generieren. Es gibt – so wie über «den Islam» – auch über «muslimische» Frauen und Männer Vorstellungen, die manchmal auch mit langen Gesprächen nicht aus der Welt zu räumen sind. Zu tief sitzen kulturell vermittelte Stereotype über den Macho und die eingeschüchterte verschleierte Ehefrau, deren größtes Anliegen das Wohl der Kinder ist.

Nicht berücksichtigt werden dabei meist die Auswirkungen der Migrations-Erfahrungen auf die erste Generation und deren Kinder und Enkel. Man bedenke, dass erwachsene Menschen ihre angestammte Heimat verlassen haben und in ein Land gekommen sind, dessen Sprache sie nicht sprachen, dessen Kultur ihnen fremd war und wo alle sozialen Bindungen fürs Erste gekappt waren – sowohl Familie als auch Freundinnen und Freunde, materielle wie immaterielle Werte, aber auch die vertrauten Lebensmittel und so fort hatten sie zurückgelassen. Viele hatten buchstäblich nichts, als sie herkamen.

Die Mentalität der angestammten Bevölkerung war dabei sicher so wenig auf dauerhaft bleibende Migrantinnen und Migranten vorbereitet wie die der «Gäste» selbst. Als Stütze der Identität blieb in dieser Situation oft einzig die Religion, die im Folgenden eine viel stärkere Bedeutung erlangte, als dies in der Türkei möglich und nötig gewesen wäre. (Deswegen auch kommt Neuhinzuziehenden aus der Türkei die Mischkultur so seltsam vor, in der türkische und kurdische Menschen in der Bundesrepublik oft leben. Sie scheinen das Schlechteste bewahrt und übernommen zu haben, die Überbewertung der Religion inklusive.) Die Menschen, die nach Europa kamen, waren zudem hauptsächlich schlecht oder gar nicht ausgebildete Angehörige der städtischen Unterschichten oder entstammten der Landbevölkerung. Viele von ihnen hatten bereits innerhalb der Türkei Erfahrungen mit Migration gemacht.

Langsam bilden sich allerdings Organisationen und Interessenvertretungen heraus, die immer effektiver arbeiten. In diese Bewegung passen sich auch Gruppen türkeistämmiger Lesben, Schwuler, Bi- und Transsexueller ein, die seit Anfang/Mitte der 90er Jahre starken Zulauf haben. Den Anfang machte Anfang der 90er Jahre eine Gruppe türkeistämmiger Lesben in Berlin; die Gruppe Türkgay in Köln existiert seit Mitte der 90er Jahre, in ihrem Gefolge sind die meisten anderen Gruppen entstanden. Seit 2002 schließlich gibt es www.delidivane.de, eine Internetcommunity mit mehreren Tausend Mitgliedern, zwischen 2002 und 2003 erschien die Zeitschrift «lubunya» monatlich. Diese Selbstorganisationen heben eine Tatsache hervor, die zu erwähnen mir besonders wichtig ist: Ganz offensichtlich fühlen sich Menschen mit Mehrfachzugehörigkeit weder ganz in den (unausgesprochen mehrheitsdeutschen) Lesben- und Schwulenszenen zu Hause noch in den (unausgesprochen heterosexuellen) «ethnischen» Communitys. Denn hier wie dort müssen sie einen Teil ihrer Identität außen vor lassen, hier wie dort stellen sie eine Minderheit in der Minderheit dar… (Dass dieses Minderheit-Darstellen eher den ausgrenzenden Mehrheiten zuzuschreiben ist, muss ich nicht ausführen.)

In punkto Bewertung von Homo-, Bi- oder Transsexualität unterscheidet sich die Mehrheit der türkeistämmigen Gesellschaft in Deutschland kaum von der Gesellschaft in der Türkei. Hier bietet sich als zusätzliches «Argument» nur an, den Nicht-Heterosexuellen «westliche Dekadenz» vorzuwerfen. Denn dass bei den mehrheitsdeutschen Großstädtern nicht-heterosexuelle Menschen relativ anständig behandelt werden, stört niemanden, nur in der «eigenen» Kultur darf es so etwas nicht geben. Das macht es Menschen neben den pathologisierenden oder religiösen Argumentationen und der skizzierten Benennungsproblematik schwer, sich ihre abweichende sexuelle Orientierung einzugestehen oder diese sogar öffentlich zu machen. Außerdem haben sie, anders als mehrheitsdeutsche Lesben oder Schwule, kaum die Möglichkeit, einfach die Stadt zu wechseln und sich dort eine «Wahlfamilie» aufzubauen, wenn die biologische sie verstößt. Der Verzicht auf die Familie hieße in den meisten Fällen auch, auf die Sprache und die Herkunftskultur zu verzichten: Die Kontakte in die Türkei oder zur Migrantencommunity funktionieren meist nur über das soziale Netzwerk, das mit der Familie verloren ginge.

Deswegen leben die meisten möglichst lange im Versteck. Und zwar so lange, bis sie dem Druck der Eltern nicht mehr standhalten und doch heiraten – oder den Verlust der ethnischen, religiösen und/oder kulturellen Identität in Kauf nehmen, indem sie die Familie mit den Fakten konfrontieren und damit die Zugehörigkeit zu ihr riskieren. Vor allem diejenigen Männer, die eine Frau heiraten, haben dann aber ein Problem. Sie müssen ihre gleichgeschlechtliche Neigung an Orten ausleben, an denen es anonymen Sex gibt: in Parks, Sexkinos, Saunen oder Darkrooms. Da sie diese Orte nur für kurze Zeit aufsuchen, weil sie sonst von Bekannten gesehen werden könnten oder weil sie selbst ein zwiespältiges Verhältnis zu dem haben, was sie da machen, können sie dort weder eine bi- oder homosexuelle Identität aufbauen, noch sind sie für Aufklärungs- und Präventionsarbeit erreichbar. Wenn sie aber über ungeschützten Geschlechtsverkehr sexuell übertragbare Krankheiten bekommen, setzt sich das Problem bald bei der Ehefrau fort. Kulturspezifische und muttersprachliche Beratungsstellen gibt es seit der Schließung von ADM in Berlin nicht mehr. (Das Aids-Beratungszentrum für MigrantInnen (türkisch: Aids Danışma Merkezi) wurde im Sommer 2003 geschlossen. Es bot zuletzt noch kurdisch-, türkisch- und arabischsprachige Versorgung mit einem Mitarbeiter an.) Hinzu kommt, dass oft das gesamte soziale Umfeld zum gleichen Arzt oder zur gleichen Ärztin geht. Die Angst, dass Informationen über die «sexuelle Abweichung» oder sexuell übertragbare Krankheiten an Eltern und Verwandte weitergegeben werden könnten, ist also (psychologisch) erst einmal nachvollziehbar, auch wenn der Ärztin oder dem Arzt gar nicht einfiele, so etwas zu tun.

Schlussbemerkungen

Die Kenntnis der beschriebenen Facetten ist meiner Meinung nach wichtig im Umgang mit türkeistämmigen Schwulen. Kaum wird es einen Mann geben, auf den all das Beschriebene passt. Aber es wird auch kaum einen geben, auf den nichts von dem passt. Nicht alle machen die gleichen Erfahrungen, und einzelne Faktoren wiegen bei dem einen schwerer, bei dem anderen leichter. Darüber hinaus ist auch die Art der Auseinandersetzung mit diesen Faktoren individuell sehr verschieden. Dennoch lassen sich meiner Meinung nach die folgenden verallgemeinernden Aussagen treffen, die für den größten Teil türkeistämmiger Schwuler Gültigkeit haben dürften:

Als Migranten und Schwule leben homosexuelle Kurden und Türken mit einer Mehrfachzugehörigkeit, die sie selbst oft als Mehrfachdiskriminierung erfahren. Während sie in den homosexuellen Szenen häufig als Exoten mit interessanten Coming-out-Geschichten aus rückständigen, fundamentalistischen Familien gesehen werden, leben sie in den türkeistämmigen Communitys meist ein Doppelleben, weil sie denken, dass dort Homosexualität als etwas «Westliches» gesehen wird, das in der «eigenen» Kultur vermeintlich fremd ist. Im Alltag machen es ihnen also Erfahrungen von Sexismus, Homo- oder Transphobie, Rassismus oder Islamophobie schwer, ein ungetrübtes Ich-Gefühl aufzubauen, das anderen Menschen «automatisch» zuzukommen scheint. Gerade das Leben in Familie oder Partnerschaft verlangt aber eigentlich danach, zumal wenn Binationalität individuell oder in der Beziehung ins Spiel kommt. Die wenigen offensichtlich nicht-heterosexuellen Schriftsteller, Modeschöpfer und oft eher als Witzfigur dargestellten effeminierten Sänger eignen sich kaum als Identifikationsfiguren und erlauben es nicht, ohne Vorbehalt über sich und zu anderen zu sagen: «Ich bin schwul», wobei auch viele weitere Faktoren aus der Lebenswelt eine Rolle spielen, von denen die wenigsten von heute auf morgen zu beseitigen sind.

Trotzdem gibt es Ansätze zu einer sozialen und politischen Emanzipationsbewegung, die sich zunächst quasi naturgemäß auf die Metropolen und in der Türkei auf die Universitäten beschränkt. Selbstorganisationen türkeistämmiger Lesben, Schwuler, Bi- und Transsexueller bieten als Anlaufstelle Kontakt zu Menschen, die in einer ähnlichen Situation leben, und haben vielleicht deswegen einen so großen Zulauf. Menschen, die Regelberatungsstellen und -projekten nicht vertrauen, fühlen sich «zu Hause» bei gemeinsamen Abenden von Türkgay oder «Gays & Lesbians aus der Türkei» (GLADT) oder auf einer der zahlreichen «Orient»-Partys, die sich im gesamten deutschsprachigen Raum ausgebreitet haben.

Anders als sich annehmen ließe, spielt die Religion bei der Bewertung von nicht-heterosexuellen Lebensweisen eine relativ unbedeutende Rolle und beschäftigt deswegen auch die Organisationen kaum. Viel entscheidender ist die grundlegende Polarisierung der Gesellschaft in einen männlichen und einen weiblichen Teil, einhergehend mit allmächtigem Heterosexismus und striktem Reproduktionszwang, die zusammen alles negieren, was sich ihnen nicht unterordnet. Die Emanzipation von sexuellen Minderheiten kann in dieser Gesellschaftsform deswegen nur erfolgen, wenn alle Nichtmächtigen unter dem Patriarchat zusammen gegen die Verhältnisse vorgehen, die die Herrschaft des heterosexuellen Mannes vorsehen.

Abgeschlossen im Dezember 2003. Um einige Anmerkungen aus der Zwischenzeit ergänzt im Mai 2005.

Literatur

Yılmaz-Günay, Koray (2002): In: lubunya – Zeitschrift für türkeistämmige Lesben & Schwule und ihre Freundinnen und Freunde (Juli), Seiten 14–18.

Yılmaz-Günay, Koray (2004 a): Weiß, aufgeklärt und zivilisiert. In: Gigi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation # 29 (Januar/Februar 2004).

Yılmaz-Günay, Koray (2004 b): Wer bin ich – und wenn ja: wie viele? In: Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin (Hg.): QUEbERlin. Mehrfachzugehörigkeit als Bürde oder Chance? Die Gesichter des QueerSeins & MigrantIn/SchwarzSeins. Berlin, Seiten 16–20.

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