Koray Yılmaz-Günay

«Ein echter Mann hat einen Sohn. Die Geschichte des Mannes in der Türkei von seiner Geburt bis zu seinem Vatersein» – Die Geschichte des Mannes in der Türkei von seiner Geburt bis zu seinem Vatersein

Dabei ist die Geburt, die dem Mann quasi widerfährt, ohne dass er etwas dafür kann, ja noch das einfachste; von der Durchtrennung der Nabelschnur wissen die wenigsten später noch als Trauma zu berichten. Es ist aber schwierig, zum türkischen Mann zu werden – und dann einer zu bleiben. Und zwar gerade wegen des enormen Ansehens, um das es da geht. Wo noch als Schulkind die Sorge um den «Paşa» einen maximalen Stellenwert genießt, ist der anstehende Rollenwechsel schon in dieser Zeit angelegt. Ganz im Widerspruch zum Objekt der Sorge von Vater, Mutter und Ge-schwistern muss er schließlich bald ein Subjekt werden. Irgendwann ist es aus mit dem Frauenbad, in das er mit der Mutter noch reinkam. Die aufgebrachten Besucherinnen fangen an zu fragen, ob die Dame denn vorhabe, in der Zu-kunft auch ihren Ehemann mitzubringen…

 

«Es ist vollbracht, toi, toi, toi!»

Dann ist es Zeit für den ersten Schritt hin zum Erwachsenenleben. In einer regelrechten Prinzenuniform und im Beisein der Familie, von Bekannten und Nachbarn wird die Beschneidung der Vorhaut seines Pullermanns vorgenommen. Tap-fer muss er das über sich ergehen zu lassen. Die Frage, warum das Abtrennen eines Stücks vom Pullermann einen Mann männlicher macht, fordert nicht nur die Vernunft von Kindern heraus. Dennoch wird nachwievor jede Generati-on von neuem von Kopf bis Fuß, vom Marschallstab bis zum Umhang, angekleidet, den Tag über amüsiert – und dann der Katastrophe überantwortet. Traditionell auf dem Rücken eines Pferdes, wenn dieses fehlt, gerne auch in einem offenen Sportwagen, wird den Nachbarn und Bekannten gezeigt: «Seht her, es ist ein neuer Mann im Haus!»

Mit dem Lied «Es ist vollbracht, toi, toi, toi!» werden beim Eintritt in die Männlichkeit Fakten geschaffen. Die erste Lek-tion heißt: Männer weinen nicht! Wer Muttersöhnchen genannt wird, weil er bei seiner Beschneidung weint, muss es selber wissen…

«Wenn du Kaugummi kaust, wächst dir kein Bart!»

Es sind oft Großmütter oder andere ältere Frauen, die Jungen Angst einjagen mit dem Märchen, dass ihnen kein Bart wachen werde, wenn sie weiter Kaugummi kauen. Ein Mann dürfe nicht Kaugummi kauen. Grundschullehrer und -lehrerinnen weisen Eltern darauf hin, dass Jungen blaue Schutzhüllen oder Beschriftungsaufkleber haben sollten. Bei den Spielen auf dem Pausenhof, in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis merkt man, dass «Junge» oder «Mäd-chen» so etwas sein muss wie «gut» oder «böse». Männer lernen in der Pubertät die Rolle des dominanten und scheinbar souveränen Mannes, der Kinder, Effeminierte, Schwule und eben Frauen beherrscht. So wachsen sie im intimen Umfeld in ihre Rolle innerhalb der großen Gesellschaft herein. Sie wissen bald, wie sie sich im Fußballstadion, in Teestuben, an Straßenecken oder in Moscheen zu verhalten haben. An diesen Orten konstruieren und re-konstruieren sie ihre eigene Realität. Gespräche über den eigenen Körper, den der Frauen, über andere Männer, Ma-schinen, Mobiltelefone und Fußball sind das, was Männer zu Männern macht. Der maskuline Mann misst sich an an-deren Männern und beurteilt sich selbst im Vergleich. Deswegen sind diese Orte so wichtig. Alleine wäre er nur Mann, zusammen mit anderen wird er zum maskulinen Mann. «Stärke erwächst aus Einheit», sagt man dazu auf Türkisch.

Der erste Besuch im Bordell erfolgt für gewöhnlich mit dem Onkel. Der gekaufte Orgasmus wird unter Freunden gefei-ert und Monate lang erzählt. Dass gleichzeitig Mädchen, die ihre Jungfräulichkeit «verlieren», nicht dieselbe Erfahrung machen, muss nicht erwähnt werden; als «Unkeusche» werden sie auch unter den Frauen «schlecht» genannt. Wäh-rend der Mann erst nach seinem Puffbesuch «Nationalspieler» wird, geraten Frauen zur «Hure» – paradoxer Weise also vermeintlich zu einer, die den Männern den Sex erst beibringt und die sie deswegen brauchen. Männlichkeit fußt gelegentlich eben auch auf den eigenen Widersprüchen…

Freilich gibt es die eine oder andere Ausnahme, die sich von der Norm absetzt. Aber auch ein «Mädchen-Ali» oder eine «Kerl-Fatma» finden ihren Platz in diesem System. So gilt beispielsweise der Charakter «Chauffeur Melahat» als anerkannte Ausnahme in der Männerwelt. Auch die männlichen Künstler, die im Minirock, mit hohen Absätzen und Make-up auf der Bühne stehen und mit femininer Gestik Sympathie einheimsen, gehören zu dieser Kategorie. Solche Übergänge zwischen den Geschlechtern werden mit einem Respekt betrachtet, der sich zwischen Toleranz und Igno-ranz bewegt. «Auf der Bühne werden sie beklatscht und auf der Straße verprügelt», würden andere sagen.

«Der größte Soldat ist unser kleiner Mehmet»

«Ich habe dich für dieses Vaterland geboren», sagen Mütter je nach Konjunktur und weltpolitischer Lage seltener oder häufiger zu ihren Söhnen. Möchte ein Mann seiner nationalen Pflicht nicht nachkommen, läuten die Glocken der End-zeit. Gerade, wenn es wieder eine Krise mit Griechenland gibt oder der Kampf gegen die PKK auch auf Nachbarländer ausgeweitet wird, bestätigen sich nicht nur Männer gegenseitig. An der Grenze Wache zu stehen und im Schlamm zu kriechen, um «unser Vaterland» gegen seine «Feinde» zu verteidigen und in Medina die Gruft des Propheten Mo-hammed zu bewachen, gelten häufig als gleichwertig.

Ohne den Militärdienst abgeleistet zu haben, gilt der türkische Mann ohnehin nicht als vorbereitet auf das soziale Le-ben. Wer seinen Militärdienst nicht abgeleistet hat, bekommt keine Braut und keine Arbeit; er ist sozial «behindert» und gilt als Softie, der nicht zu den vollwertigen Männern zählt. Ohne monatelang morgens «Jeder Türke wird als Soldat geboren und stirbt als Soldat» skandiert zu haben, kann man kein Mann werden. Die Kaserne fungiert als Schule, in der man mit strengster Disziplin für das bevorstehende «gnadenlose» Leben abgerichtet wird. So kennt beispielsweise jemand, der noch nicht in der Armee war, keinen Respekt vor der Stärke, weil er keinen Hauptmann kennengelernt hat, der ihn gescholten oder verprügelt hat. Er soll über die Kriegsspiele seiner Kindheit hinausgehen, den Umgang mit Waffen lernen und notfalls sein Gewehr strafen, wenn es nicht feuert. Er soll seinen Eintopf mit seinen Kameraden teilen. Mit dem, was er von den anderen Männern hört und an ihnen sieht, soll er seine Männlichkeit festigen. Er soll in der Armee auch Heimweh haben und den Wert seiner Eltern schätzen lernen. Ist er Analphabet, wird er alphabetisiert und mit einem Dankbarkeitsgefühl aufgeladen, ist er Kurde, lernt er hier Türkisch – nicht jeder Mann in der Türkei ist automatisch auch ein türkischer Mann. Auf Befehl einzuschlafen und auf Befehl aufzustehen, ohne zu stolpern gerade zu stehen, zu jagen, Stärke zu zeigen, keinen Schmerz zu empfinden, mit seinen Geschlechtsgenossen erbittert zu konkurrieren, technische Probleme zu bewältigen, zur Not skrupellos und zerstörerisch zu sein und auch sein Wort zu halten, all das lernt er in der Armee als erstes. Nachdem er diese Tugenden erworben hat, ist er auch im Frieden stets auf der Hut; er will um jeden Preis gewinnen, und jede Hürde ist ihm ein Feind. Der Kasernenhof ist ein Männerhof; er ist von Kopf bis Fuß maskulin. Gleichgültig, ob effeminiert oder nicht, homosexuelle Männer sind dort unerwünscht. Die Kaserne lässt nur virile Männer zu; passive Männer werden als untauglich («faul», «verdorben») eingestuft. Homosexualität widerspricht vor allem den militärischen Normen und Disziplinregeln, sie ist unmoralisch, weil sie unmännlich ist. Unser kleiner Mehmet, wie der türkische Soldat genannt wird, ist ein anständiger Bursche. Mit seinen Geschlechtsgenossen macht er lieber Krieg als Liebe.

«Die Stütze des Hauses»

Nach der Rückkehr vom Militär, zur Reife gelangt, geformt und mit den bitteren Wahrheiten des Lebens vertraut, kann er seinen Eltern Dankbarkeit erweisen; ihnen verdankt er schließlich alles. Das tut er, indem er als gereifter Mann in den Ehestand tritt und um sich seine eigene Familie schart. Als Mann ist er jetzt in voller Blüte. Seine erste Aufgabe lautet: Mehren! Mit seiner Auffassung, dass die Sexualität gleich Fortpflanzung ist, will er sich vervielfältigen. In allem, was er tut, hat er Recht. Vor allem ist er dazu verpflichtet, seinem Weib alles beizubringen, was er von ihr im Bett er-wartet. Dass seine Frau Jungfrau ist, ist in der Hinsicht bedeutsam, dass seine Erfahrenheit dadurch erst zum Vorschein kommt. Seine Majestät ist der erste Konsument und ein bewusster Verbraucher.

Der Mann hat immer viel zu tun und ist oft müde. Häufig bleibt er mit seinen Freunden hier und dort hängen und lässt seine Frau warten. Und trotzdem ist er der, der das Brot verdient und für die Familie sorgt. Seine Frau lässt er nicht arbeiten, er ist erfolgreich, wenn sie von ihm abhängig ist. Er lässt sie vielleicht nicht seine Füße waschen, aber wenn ihm nach Sex ist, lässt er sich nicht zurückweisen; sein Wunsch hat Befehl zu sein. Seine Aufgabe im Haus besteht vor allem auch darin, sich nach der Arbeit an den von seiner Frau und seinen Töchtern vorbereiteten Tisch zu setzen, den Alltag der Familienangehörigen zu kontrollieren, fernzusehen, und womöglich mit Nichtstun seine Herrschaft zu ge-nießen. In seinem eigenen Haus lebt er wie ein Gast.

Unterschiedliche Männlichkeiten

Als Junge wird man geboren, zu einem Mann wird man gemacht. Das ist in der Türkei nicht anders als anderswo. Da das Patriarchat trotz aller Emanzipationsbewegungen auch dort fortexistiert, ist der Mann aber, um ein Mann zu werden, auf weitere Männer angewiesen. In Folge ökonomischer Sachzwänge treten in den letzten Jahren aber an die Stelle der ehemaligen Trennlinien nun auch in der Türkei Übergänge. Die streng nach den Geschlechtern festgelegte traditionelle Arbeitsteilung stößt an immer mehr Grenzen. Jagen und für das Haus sorgen – das interessiert nun, wenn auch für Männer schwer hinnehmbar – auch die Frauen. Ebenso wird nun von den Männern in der Küche mehr erwar-tet, als nur den Salat zu machen. Zum ersten Mal wird nicht nur staatlich gewünscht, sondern auch als gesellschaftlich gelebtes Phänomen Männlichkeit unter die Lupe genommen und zum Teil immer heftiger hinterfragt.

Trotz dieser Tendenzen und Wandlungen sucht Männlichkeit aber nach angepassten und veränderten Selbstdefinitio-nen, die es ihr möglich machen, die Macht zu behalten und sich selbst uns Ihresgleichen zu reproduzieren. An die Stel-le des strengen, gewaltsamen und repressiven Mannes ist der so genannte «Steinofenmann» getreten, der seine Frau, die ebenso erwerbstätig ist, nicht schlägt und die wichtigen Entscheidungen gemeinsam mit ihr trifft, aber in Gegenwart der dritten Person so tut, als halte er die Fäden in der Hand. Effeminiert wirkende und gepflegte Heterosexuelle, die auf Ästhetik und Charme Wert legen, distanzieren ihre Männlichkeit vom Homosexualitätsverdacht, indem sie sich «metrosexuell» nennen.

In einer Gesellschaft, in der Jungfräulichkeit als Heiligtum verehrt wird, hat das Flirten seine Grenzen. Wenn es um den Sex vor der Ehe geht, trennen sich die Wege der Männer und Frauen. Die Pflicht von jungen Frauen, ihre Jungfräulich-keit zu behalten, und die Ablehnung des Analverkehrs im Koran versetzen die Männer, was sexuelle Befriedung an-geht, in eine schwierige Lage. Auch Masturbation ist – vermeintlich religiös bedingt – nicht besonders erwünscht. So wird der Mann eines Tages selbst zum Vater, der sich einen Sohn wünscht, weil ein «echter Mann» eben einen Sohn bekommt, wie das Sprichwort sagt. Vielleicht müsste man die Sprichwörter abschaffen, um den gesellschaftlichen Fortschritt zu beschleunigen?

Erschienen in mondial. SIETAR Journal für interkulturelle Perspektiven (Nr. 2/2008), Seiten 12–14.
Online nicht verfügbar.
[mit Gürkan Buyurucu]

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