Koray Yılmaz-Günay (2006): «Ich verlor 60 Prozent meiner Freundinnen, bevor sie 30 wurden.» In: → Gigi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation # 41, (Januar/Februar), Schwerpunkt «Transidentitäten in der Türkei», Seiten 15–17.
Demet, du bist 2004 im Alter von 43 Jahren in Rente gegangen. Was hast du vorher gemacht?
Ich hatte ein paar kurze Jobs, aber 24 Jahre lang habe ich als Sexarbeiterin verbracht. Die kleinen sozialversicherungspflichtigen Jobs davor haben mir dann vor die Möglichkeit gegeben, die ausstehenden Beiträge auf mein Rentenkonto nachzuzahlen, sodass ich in Rente gehen konnte.
24 Jahre in der Sexindustrie ist eine lange Zeit. Hattest du es nie satt?
Neunundneunzig Prozent der Transvestiten und Transsexuellen in der Türkei sind in der Sexarbeit – und das bestimmt nicht, weil es sich alle ausgesucht haben. Es ist fast ausgeschlossen, mit unserer Geschlechtsidentität eine andere Arbeit zu finden. Und wenn du essen und einen Unterschlupf haben willst, dann musst du eben arbeiten. Das sind Grundbedürfnisse, die befriedigt sein wollen.
Ist Prostitution in der Türkei denn legal?
Von Rechts wegen ist sie nicht verboten. Sie findet nur offiziell unter staatlicher Kontrolle statt. Ich weiß nicht, um wie viele Personen es sich dabei offiziell handelt, aber die Handelskammer von Ankara hat gerade von über 100.000 Frauen gesprochen. Reglementierte Bordelle nehmen allerdings keine Transvestiten auf und Transsexuelle nur, wenn sie einen rosafarbenen Personalausweis haben und gerade eine Stelle frei ist. [In der Türkei bekommen Neugeborene einen rosafarbenen (Mädchen) bzw. blauen (Jungen) Personalausweis. Ein Farbwechsel kommt nur für Personen in Frage, die eine genitalanpassende Operation machen lassen.] Immerhin gibt es dann dort Kranken- und Rentenversicherung…
Die meisten Transvestiten und Transsexuellen arbeiten in Clubs oder auf der Straße. Das ist sehr anstrengend – und vor allem gefährlich. Du wirst beraubt, geschlagen, die Polizei ist gegen dich, wenn du dich mal traust, eine Anzeige zu erstatten. Vor allem hast du aber gar keine Absicherung.
Wie kommt man an so einen rosafarbenen Ausweis, von dem du gesprochen hast?
Früher war das einfacher, du ließt dich operieren, gingst vor Gericht und deine Personenstandsdaten wurden geändert. Danach hattest du einen rosafarbenen Ausweis. Neuerdings müssen Leute mindestens zwei Jahre Therapie durchmachen, bekommen dann ein Gutachten und ein Gericht entscheidet darüber, ob man die genitalanpassende OP durchführen lassen darf oder nicht. Du darfst dabei nicht verheiratet sein, deine Fortpflanzungsfähigkeit muss eingeschränkt sein und weitere absurde Kriterien. Die Operation kostet in einer staatlichen Klinik etwa 1.500 Dollar, bei einem Arzt, den man sich aussuchen kann, das Fünffache.
Erfahrt ihr Unterstützung seitens eurer Partner?
Ha! [lacht] Die meisten haben keinen richtigen Partner. Ich meine, sie träumen alle von ganz gewöhnlichen heterosexuellen Typen und finden sie auch. Die sind aber gar nicht fähig, uns wirklich zu lieben. Sie beuten uns aus, schlagen uns und beklauen uns dann auch noch. Sie verstehen sich schon als Hetero-Männer, die meisten sind aber natürlich bisexuell. Wenn du Transvestit bist, wollen sie sich oft ficken lassen und sagen dann aber, dass du dir den Schwanz abschneiden lassen sollst. Viele Transvestiten wollen das nicht, aber die Männer üben dann Druck aus, schlafen mit Frauen oder drohen und schwupps sind die Transvestiten überzeugt.
Viele bereuen den Schritt, aber die OP ist nicht rückgängig zu machen. Es kommt schon auch vor, dass Mädels deswegen Selbstmord begehen. Das ist diese Sozialisation… Wir lernen, dass du feminin sein musst, wenn du auf Männer stehst. Und für viele ist dann schon der nächste Schritt das Frau-Sein.
Wie nehmen die Familien diesen Schritt auf?
Ich kenne kaum Transsexuelle, die ein gutes Verhältnis zu ihrer Familie haben. Die meisten werden ignoriert. Nur wenn die Mädels ihre Eltern oder Geschwister finanziell unterstützen, werden sie akzeptiert. Stirbt jedoch eine, sind selbst die schlimmsten Eltern schnell hinter dem Erbe her. Ich habe allerdings den Eindruck, dass das bei städtischen Familien sehr viel einfacher ist.
Ist das ein Motor für die Transsexuellen-Bewegung?
Na ja, die meisten sind nicht besonders politisch. Sie tragen schwer genug an der Bewältigung des Alltags. Aber klar bist du immer gefordert. Wenn eine Lesbe oder ein Schwuler sich zurückhält und versteckt, ist es relativ einfach. Obwohl die ja auch oft genug ihren Job verlieren. Aber als Transsexuelle oder als Transvestit wirst du sofort gesehen und erkannt. Und gleich in dem Augenblick fangen Anfeindungen und Angriffe an. Da machen auch die paar Berühmten nichts aus. Bülent Ersoy und Zeki Müren wurden auf der Bühne immer ausgiebig beklatscht. Hast du aber nicht die Freiräume einer Künstlerin oder eines Künstlers, wirst du auf der Straße zusammengeschlagen. Du bist quasi automatisch mit Gewalt und/oder mit der Polizei konfrontiert. Die Sichtbarkeit führt zu einer anderen Einstellung gegenüber dem Leben. Deswegen vielleicht ist die Transsexuellen-Bewegung – wie überall auf der Welt – vor der Lesben- und Schwulenbewegung losgegangen. 1986 haben wir erste Hungerstreiks und Sitzblockaden gemacht.
Wie sind denn die Erfahrungen mit der Polizei?
Ach… Die interessieren sich im besten Fall nicht für uns. Keiner, der uns was tut, wird gefasst. Und wenn zufällig doch, dann, weil er auch noch anderen etwas getan hat, dann kommt er meist ohne Bestrafung wieder frei.
Und oft ist die Polizei selbst noch gewalttätig gegen uns. Früher wurdest du aufgegriffen und zum Revier gebracht, dann geschlagen, belästigt oder vergewaltigt. Seitdem sie die Mitgenommenen vor dem Revier noch ins Krankenhaus bringen müssen, verlagert sich das. Jetzt werden Menschen aufgegriffen, im Auto verprügelt und beraubt und dann gehen gelassen. Ins Revier kommt man heute nicht mehr so leicht.
Bist du selbst schon einmal verhaftet worden?
Ich bin in 26 Jahren politischem Kampf und 18 Jahren Emanzipationsbewegung zweimal verhaftet worden. Das erste Mal war es allgemein politisch, Anfang der 90er Jahre wegen meiner Geschlechtsidentität. Der damalige Hauptkommissar Süleyman Ulusoy hatte uns, sieben, acht Personen, an einem Samstag aus unseren Wohnungen holen lassen und uns mit einem Schlauch grün und blau geschlagen. Das ist ja sein landesweit bekannter Spitzname: Schlauch-Süleyman. Ich habe als Einzige gesagt, du darfst mich nicht verprügeln. Ich habe über den Menschenrechtsverein am Montag eine Anwältin kommen lassen, Eren Keskin, die dann aber so gefoppt wurde, dass wir insgesamt fünf Tage saßen. Fünf Tage Bestechungsversuche, sexuelle Belästigung und Vergewaltigung. Ich habe ihn dann verklagt, mit einer anderen bin ich auch an die Presse gegangen. Herausgekommen ist da nichts. Aber immerhin hatte die Polizei gesehen, dass auch eine Transsexuelle Verteidigung finden kann. Als er mich dann später zufällig auf der Straße sah, ließ er sofort eine Mannschaft kommen. Ich wurde mitgenommen wegen «Homosexualität». Als ich sagte, ich sei transsexuell und im Übrigen sei auch Homosexualität nicht verboten, fragte er, wo das stehe. Ich sagte, in einem Gesetz, das auf Atatürk zurückgeht. In der Folge wurde ich angeklagt, weil ich gesagt haben sollte, Atatürk sei schwul. Nach einem zwei Monate dauernden Prozess wurde ich freigesprochen.
1996 kam der Schlauch wieder. Vor der Habitat-Konferenz der UNO wurde er wieder nach Beyoğlu versetzt. Da wurde unser Viertel, in dem viele Transsexuelle wohnten und arbeiteten, «gesäubert». Es blieben sieben oder acht Leute, ein Jahr hielten wir es ohne Wasser und Strom mit Suppe und Nudeln aus. Erst als ich 1997 den Felipa de Souza Award bekam, den Preis der International Gay and Lesbian Human Rights Commission für AktivistInnen im Bereich Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Transidenten, lockerten sich die Bedingungen etwas.
Heute ist Süleyman Ulusoy Geschäftsführer in einem Restaurant; wegen eines dokumentierten Folterfalls wurde er zu 21 Jahren verurteilt, nach einer Amnestie kam er auf Bewährung frei.
Woran scheitert es, dass Täter bestraft werden?
Wir sind eine eingeschüchterte Gesellschaft. Das betrifft alle. Aber Transvestiten und Transsexuelle verdienen ihr Geld zusätzlich mit Sexarbeit. Und die machen sie nachts. Wir sind jederzeit mit Gewalt konfrontiert, unsere Freundinnen sterben bei Unfällen an Autobahnen, wo sie anschaffen gehen. Wir stehen spät auf, weil wir spät ins Bett gehen. Wenn eine mal den Mut aufbringt, eine Anzeige zu erstatten, fehlt ihr meistens die Kraft, den Prozess zu verfolgen und sich guten Rat zu holen. Und die wenigen Anwälte, die sich unserer Sache annehmen, sind ein ganz anderes Kapitel.
Interessiert sich der Menschenrechtsverein dafür?
Ich bin seit 1989 Mitglied und habe da eine Menge zu Frauenrechten und Homo-/Trans-Rechten gemacht. Aus diesem Engagement heraus habe ich auch 1999 als erste Transsexuelle bei den Kommunalwahlen kandidiert und hatte eine breite Rückendeckung. Allerdings gibt es auch da viele Leute, die homo- oder transphob sind. Sie sagen: «Es ist okay, wenn die auch Rechte haben, aber es geht auch ohne. Eher geht es aber ohne.» Wir gehen oft zu den Protestaktionen des Menschenrechtsvereins, aber zu unseren Aktionen kommen immer nur die Antimilitaristen und Kriegsdienstgegner. Bei der Pride-Demonstration 2005 haben uns 30 Antimilitaristen unterstützt!
Seit zwei Jahren gibt es hohe Geldstrafen, die gegen uns verhängt werden. Allein wegen unserer Geschlechtsidentität. In dieser Frage hat uns eine Anwältin vom Menschenrechtsverein sehr geholfen. Wir werden auf offener Straße, im Supermarkt oder sonst wo einfach mitgenommen. Die Begründungen sind immer «Exhibitionismus» und «öffentliche Schamlosigkeit». Ich verstehe darunter, jemandem das Geschlechtsteil zu zeigen, in der Praxis könnten wir aber nur in Burkas auf die Straße gehen und würden trotzdem von der Polizei als «Exhibitionistinnen» mitgenommen werden! Die Anwältin hat also nachgewiesen, dass Transsexualität oder Transvestismus nicht exhibitionistisch sind. Aber da die wenigsten bereit und in der Lage sind, für ihre Rechte lange Prozesse in Kauf zu nehmen, zahlen sie lieber diese Geldstrafen. Das können dann auch schon einmal die Einnahmen von zehn Tagen sein, die dafür draufgehen.
Du bist aktiv bei Lambdaistanbul, einer Organisation, die explizit als Lesben- und Schwulengruppe angefangen hat. Wie offen ist Lambda im Bezug auf Transvestiten und Transsexuelle und eure Bedürfnisse?
Ich bin seit 1995 bei Lambda und zähle da mittlerweile zum Urgestein. Bei mir kommt natürlich auch meine Popularität dazu, aber ich denke schon, dass wir akzeptiert werden. Natürlich sind die Schwulen in der Überzahl – und die verstehen nicht einmal die Lesben. Das sind diese typischen Frauen-/Männergeschichten. Und Transphobie gibt es auch, klar. Unter den Transvestiten und Transsexuellen gibt es aber auch Homophobie. Diese Sachen nehme ich als herkömmlich wahr, mit der Zeit legen sie sich. Ich beobachte das vor allem bei den Leuten, die erst ein paar Mal da waren.
Welche Perspektive siehst du für dich?
Sexarbeit ist jedenfalls keine. Wenn du vierzig bist, kannst du nichts mehr sparen, wirst aber noch satt, gegen fünfzig ist es dann vorbei. Wenn du nicht vorgesorgt hast, fangen dann die Probleme an. Ich wüsste nicht, ob ich ins Altersheim soll. Lesben und Schwule können sich da verstecken, wie sie es lernen, überall zu tun, aber als Transsexuelle hast du Probleme, wenn die Stimme etwas tiefer ist, wenn du behaart bist oder viel zu groß für eine Frau. Ich meine, die nehmen uns ja teilweise nicht mal im Krankenhaus auf wegen unserer Geschlechtsidentität.
Aber die meisten Transvestiten und Transsexuellen werden ja nicht einmal vierzig. Wir machen immer Witze darüber, dass wir Glück haben. Die meisten sterben viel früher. Autounfälle, Gewalt und Folter, erhöhter Drogengebrauch … Ich schätze, dass ich sechzig Prozent meiner Freundinnen verloren habe, bevor sie dreißig wurden.
Ich möchte mich ein paar Monate zurückziehen, um meine Autobiographie zu schreiben. Es gibt im LGBT-Spektrum nicht mehr viele Menschen, die die Zeit vor dem Militärputsch, die 80er und die 90er Jahre erlebt haben.
Das bedeutet, dass die aktive Zeit für dich vorbei ist?
Solange ich die Kraft habe und noch lebe, werde ich weiter kämpfen. Aber ich möchte das Buch schreiben, damit die Nachwachsenden nicht alles von neuem erfinden müssen und damit das Wissen erhalten bleibt.
Wir müssen sowohl Homo- als auch Transphobie bekämpfen – und am besten besiegen. Das geht am besten, wenn die Schritte aufeinander aufbauen. Wir wollen heute zum Beispiel, dass die Quoten, die für Menschen mit Behinderung und für ehemalige Strafgefangene gelten, übergangsweise auch für uns gelten. Jedes größere Unternehmen sollte Transsexuelle einstellen müssen. Vielleicht wollen das die Menschen irgendwann nicht mehr, weil die Quoten überflüssig geworden sind, aber im Moment sind sie nötig, das versteht man nur, wenn man unsere Zeit versteht.
Wir wollen, dass Transsexuelle sich den Therapeuten oder die Therapeutin selbst aussuchen dürfen, die sie seit kurzem aufsuchen müssen. Bisher entscheidet irgendwer darüber, nur nicht die Klientin. Wir wollen, dass die Therapie und die Hormonbehandlungen von der Krankenversicherung bezahlt werden, dass es eine Arbeitsplatzgarantie für diejenigen gibt, die ihr Geschlecht anpassen lassen. Bisher haben nur Lehrerinnen und Lehrer das Recht, den Beruf weiter ausführen zu dürfen, sie werden nur versetzt. Allen anderen droht eine Kündigung – und damit der Weg in die Zwangsprostitution.
Erschienen in Gigi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation (No. 41, Januar/Februar 2006), Seiten 12–14.
Online nicht verfügbar.
[Interview mit der Aktivistin Demet Demir]
WICHTIGER HINWEIS: Das Interview wurde vor fast vielen Jahren geführt. Ein Teil der Terminologie, der Angaben und Aussagen ist heute nicht mehr aktuell. Aktuelle Informationen zur Situation von Trans-Personen in İstanbul finden sich unter anderem auf folgenden Internetseiten:
→ http://www.istanbul-lgbtt.org
→ http://vol-trans.blogspot.com
→ http://www.lambdaistanbul.org