Yeliz Çelik, Dr. Jennifer Petzen, Ulaş Yilmaz und Koray Yılmaz-Günay (GLADT e.V.) (2008): «Kreuzberg als Chiffre. Von der Auslagerung eines Problems». In: Antisemitismus in Berlin. Erscheinungsformen und Debatten im Jahr 2007. In: → Antifaschistisches Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin e.V., → Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin (Hg.): → Berliner Zustände 2008 Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Homophobie, Seiten 22–28.
Das Jahr 2008 stellt in Berlin eine konsequente Fortsetzung und zugleich einen Wendepunkt in der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Homophobie dar. Das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen wurde am 27. Mai 2008 der Öffentlichkeit übergeben – und mit ihm ein Thema, das im kollektiven Gedächtnis bisher kaum vorkam. Vierzehn Jahre nach der Aufhebung und zehn Jahre nach dem Wegfall des Paragraphen 175 aus dem Strafgesetzbuch war damit ein Phänomen historisiert, bevor es überhaupt zu einer gesellschaftlichen Debatte darüber gekommen war. Bei den so genannten «Muslim-Tests» in Baden-Württemberg und in Hessen waren schon Fragen nach dem Lebenswandel von heterosexuellen Töchtern und homosexuellen Söhnen aufgenommen worden. Die Landesregierungen hatten die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen und Schwulen ex officio zum vermeintlichen Kernbestand der bundesrepublikanischen Werteordnung erklärt. In der Folge waren es dann die ausgebliebenen Rechte für «Homo-Ehen» und die Umsetzung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, das in einigen Bereichen auch Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verbietet, die zum Gegenstand einer Debatte über die Rechte von Homosexuellen wurden, ohne dass Homophobie thematisiert wurde.
Homophobie: Was ist das?
Die Herausbildung bestimmter sexueller Orientierungen, die sich vom angenommenen Mainstream der Gesellschaft unterscheiden, bedingt bestimmbare Abwehrreaktionen seitens staatlicher und gesellschaftlicher Instanzen wie auch auf einer individuellen Ebene von Personen, die damit konfrontiert sind. Homophobie als Ideologie ist so alt wie die Vorstellung, es gebe «Homosexuelle» – eine Vorstellung, die 2009 ihren 140. Geburtstag feiert. Dass es zu anderen Zeiten und unter anderen Bedingungen ganz andere Selbstdefinitionen und, zumindest auf der Oberfläche, andere Vorurteilsstrukturen gab, springt bereits bei einem Vergleich der heutigen Bundesrepublik mit ihrer Gründungszeit ins Auge. Noch 1957 argumentierte das Bundesverfassungsgericht, der damals unverändert geltende Paragraph 175 StGB in seiner 1935 verschärften Fassung stelle kein «nationalsozialistisch geprägtes Recht dar». Mann-männliche Sexualität passte weiterhin nicht zur «sittlichen Gesunderhaltung des Volkes» im Westen, während in der DDR die Strafbarkeit weiblicher Homosexualität 1968 zusätzlich überhaupt erst eingeführt wurde.
Die Veränderungen der Nazizeit am Paragraphen wurden kurz nach Gründung der DDR rückgängig gemacht (1950); die dann wieder vor-nationalsozialistische Fassung wurde seit 1960 in der Regel nicht mehr angewandt. Der neue § 151, der erstmals auch homosexuelle Handlungen zwischen Frauen mit einbezog, betraf ausschließlich sexuelle Handlungen Erwachsener an Jugendlichen. Dieser Paragraph wurde 1988 ersatzlos gestrichen.
Homophobie, das scheinen heute neben der Gewalt auf der Straße, von der Individuen betroffen sind, vor allem noch die steuerliche und adoptionsrechtliche Benachteiligung eingetragener Lebenspartnerschaften zu sein. Dass diese Formen von Homophobie in der Tat einen kleinen Personenkreis betreffen, weil die wenigsten in Frage Kommenden eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen[2] oder, unabhängig von der sexuellen Orientierung, an öffentlichen Orten als «lesbisch» oder «schwul» eingeordnet werden, ist nicht Teil der Debatte.
Der Mikrozensus 2007 nennt 15.000 Eintragungen für die gesamte Bundesrepublik (zit. nach Pricken 2009).
Dazu gehören auch nicht die signifikant höheren Selbstmordraten bei lesbischen und schwulen Jugendlichen, die Überrepräsentanz von Lesben und Schwulen unter Obdachlosen, die oft vollständig fehlende Darstellung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen in Schulfächern, -büchern oder -curricula, Diskriminierungen auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt oder seitens Behörden und nicht-staatlichen Dienstleistern, oder als alltäglich hingenommene Missachtungen und Ignoranzen unterhalb des Straftatbestandes der Beleidigung. Zu den größeren Tabus gehört offensichtlich auch die Ausnahme der christlichen Kirchen vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Als so genannte «Tendenz-Betriebe» steht es ihnen frei, einzustellen oder zu entlassen, wen sie wollen. Den zusammengenommen zweitgrößten Arbeitgeberinnen im Land ist es damit expressis verbis erlaubt worden, in Altersheimen, Schulen, Kindergärten, Beratungsstellen und allen anderen Einrichtungen ihre Angestellten ungleich zu behandeln, wenn sie ein Kopftuch tragen, einer anderen bzw. keiner Konfession/Religion angehören – oder eben eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen sind.
Nimmt Homophobie zu?
Die 2008 oft gestellte Frage, ob «Homophobie» zunehme, bezieht sich auf all dies nicht. Während die Beschädigungen des oben genannten Mahnmals am 16. August und Mitte Dezember 2008 vor allem offizielle Stellungnahmen nach sich zogen, zeitigten die homophoben Äußerungen von Christoph Daum Ende Mai vor allem eine kurze Mediendebatte, die schließlich zu einer öffentlichen Entschuldigung des Fußballtrainers führte. In einer Dokumentation des Deutschen Sportfernsehens hatte er das Verlangen geäußert, in seiner Arbeit Kinder vor Homosexualität zu beschützen – zu verstehen auch als Erwiderung auf die zaghaften «Liberalisierungsinitiativen» des Präsidenten des Deutschen Fußballbundes.
«Da wird es sehr deutlich, wie sehr wir dort aufgefordert sind, gegen jegliche Bestrebungen, die gleichgeschlechtlich ausgeprägt ist, vorzugehen. Gerade den uns anvertrauten Jugendlichen müssen wir mit einem so großen Verantwortungsbewusstsein entgegentreten, dass wir denen einen besonderen Schutz zukommen lassen» (zit. nach Teuffel 2008). Ein Vertreter des lesbisch-schwulen FC-Köln-Fanclubs, der nach der Entschuldigung Daums ebenfalls mit dem Tagesspiegel sprach, verzieh gern: «Christoph Daum ist ein impulsiver Mensch. Er redet schneller, als er denkt. Und dafür liebt ihn Deutschland ja» (zit. nach Göbel 2008).
Es waren vor allem einzelne der insgesamt zehn Übergriffe in der Öffentlichkeit (vgl. ReachOut-Chronik in dieser Publikation), die zu zivilgesellschaftlicher Solidarisierung geführt haben – und zwar in einem Umfang, der zum Teil sogar für die Organisierenden überraschend groß war. Nach dem Übergriff auf eine Gruppe von Frauen und Trans*-Personen, die am 8. Juni das Drag-Festival im SO 36 verließen, nahmen mehrere Tausend an einem Demonstrationszug teil, der durch den Kiez führte (bei allen im Text genannten Teilnahme-Zahlen handelt es sich um Schätzungen von GLADT-Mitgliedern, die anwesend waren). Nach dem Übergriff auf einen Mann am Halleschen Tor am 18. Oktober wurde eine Mahnwache organisiert, an der mehrere Hundert Personen teilnahmen, der Übergriff auf zwei Frauen am U-Bahnhof Kaulsdorf-Nord am 27. Oktober mobilisierte noch einige Dutzend Menschen.
Es liegen neben einzelnen Einstellungspotential-Untersuchungen zu Homophobie keine verlässlichen Daten zur Lebenswelt von Homo- und Transsexuellen und Transgendern vor. Wie hoch das Ausmaß der Gewalt gegen diese Personengruppen real ist, lässt sich deswegen seriös nicht einmal schätzen. Es ist aber davon auszugehen, dass die Gewalterfahrungen vor allem von Frauen und Trans*-Personen, die in den Debatten über Homophobie allgemein ohnehin unterrepräsentiert sind, ein wesentlich größeres «Dunkelfeld» darstellen als dies bei Männern der Fall ist. Schon bei der Frage nach «Täter-» und «Opferschaft» im NS-Regime gibt es klare Diskrepanzen in der Repräsentation von Lesben und Schwulen in Debatten, die in «der Szene» geführt werden. Weder gibt es danach historisch oder aktuell schwule Rechtsextreme – noch sind lesbische Täterinnen oder Opfer interessant. Der schwule Opfermythos soll auch heute stehen für das Leid «der Homosexuellen» überhaupt. Dass auch heute wie eh und je Frauen-, Lesben- und vor allem Trans*-Feindlichkeit auch von schwulen Szenen und Männern ausgeht, findet keinen Platz in Szene-Medien oder bei «gemischten» Organisationen. Dabei wäre es gerade wichtig, juristische, soziale und ökonomische Diskriminierungen von Transsexuellen und Transgendern gesondert zu betrachten und Transphobie nicht immer unter einem «Die sind ja mit gemeint» zu subsumieren. Fragen von Namensrecht, Pathologisierung und Medizinalisierung, die Lebenswelten und Diskriminierungen in der Gesamtgesellschaft inklusive lesbischer und schwuler Szenen müssten überhaupt erst in Angriff genommen werden.
Täter, Tatorte
Es sind demgegenüber vor allem die Täter und Tatorte, an denen sich der Diskurs orientiert. (Jugendliche) Migranten[6] und Kreuzberg – gelegentlich auch Neukölln – als Chiffre stehen an erster Stelle, Rechtsextreme bereits abgeschlagen an zweiter Stelle, wenn es auf die Suche nach Ursachen und an die Hierarchisierung der Vorkommnisse geht.
Der Begriff «Migrant/innen» ist in vielerlei Hinsicht simplifizierend und ungeeignet, um über die Kinder und Kindeskinder der ehemaligen «Gastarbeiter/innen» zu sprechen. Wir benutzen ihn hier in Ermangelung anderer Begriffe.
Täter und Orte, die auf die so genannte «Mitte der Gesellschaft» hindeuten, scheinen dagegen nicht zu interessieren. (Von den zehn homophoben An- und Übergriffen, die durch ReachOut dokumentiert wurden, fanden sieben in Ostberliner Bezirken statt, zwei in Kreuzberg und einer in Tiergarten. Angesichts der demographischen Situation – Anteil von Migrant/innen, Vorhandensein von lesbischer/schwuler Infrastruktur, Menschen, die als «lesbisch» oder «schwul» eingeordnet werden können –, stellt diese Verteilung zumindest ein interessantes Faktum dar.) Die Zahl der Teilnehmenden an Protestveranstaltungen zeigt es, es sind aber auch die öffentlichen Veranstaltungen, an denen sich das ablesen lässt; es besteht ein immenses Interesse gerade daran herauszufinden, wie Migration und Homophobie sich zueinander verhalten – und wie gesellschaftliche Antworten auf dieses Verhältnis aussehen können. Neben den andauernden Diskussionen um die so genannte «Simon-Studie» (für die Zusammenfassung, die im Wesentlichen die Grundlage aller öffentlichen Diskussion darstellt siehe LSVD Berlin-Brandenburg 2007) aus dem Jahr zuvor waren es auch 2008 vor allem die Themen «Migration» und «Islam», die im Fokus lesbisch-schwuler Antworten-Suche standen. Die Lesbenberatung diskutierte im Mai zu → «Gender – Religion – Sexualität», der Lesben- und Schwulenverband beschäftigte sich mit einer homophoben Hetzschrift in einem arabisch-sprachigen Anzeigenmagazin (al-Salam, April 2008), lud interessierte Homosexuelle zum Dialog in die Moschee (3. Oktober) und ließ im November zu «Chancen und Grenzen des Dialogs mit islamischen Organisationen» diskutieren.
Anders als in den Jahren zuvor blieben die Rufe aus den lesbisch-schwulen Communitys im Jahr 2008 nicht unbeantwortet. Nachdem es seit etwa dem Jahr 2003 einzelne Kooperationsprojekte von Migrant/innen-Selbstorganisationen mit Selbstorganisationen von Lesben und Schwulen gegeben hatte, haben einzelne Organisationen aus den Communitys das Thema Homophobie als ihr eigenes entdeckt. Einige muslimische Organisationen arbeiteten eine → Stellungnahme gegen Homophobie aus, für die sie nicht mit Organisationen von Lesben oder Schwulen kooperierten und die sie beim Runden Tisch «Gemeinsam gegen Homophobie» vorstellten, der im Oktober durch den Integrationsbeauftragten und die neu eingerichtete Landesantidiskriminierungsstelle einberufen wurde. Der Migrationsrat Berlin-Brandenburg veröffentlichte eine von über 70 Mitgliedsorganisationen getragene Stellungnahme zum al-Salam-Artikel, in der er allerdings auch vor Ethnisierung des Problems Homophobie warnte – ein bisher in der Debatte nur selten gehörter Einwand, in der sich Migrant/innen-Selbstorganisationen bisher vor allem als Zwangsverteidigerinnen «ihrer» Bevölkerungsgruppe behaupten mussten.
Die «Anklage» kam im Jahr 2008 etwa dem bildungspolitischen Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Sascha Steuer, zu, der im Berliner Tagesspiegel Folgendes zu empfehlen wusste: «Jeder aber, der seine eigene Kultur, seine eigenen Regeln, seine eigenen ungeschriebenen Gesetze über die unsrigen stellt, seine Kultur und Religion grundsätzlich für wertvoller die unsrige hält, hat in Deutschland keinen Platz. (…) Ein Projekt wie die ‹Respect-Gaymes› muss eben mitten in Wedding oder Neukölln stattfinden. Wer sich daran stört, wer nicht bereit ist, auf dieser Grundlage in Deutschland zu leben, sollte sich entscheiden, unser Land zu verlassen» (Steuer 2008).
In dieselbe Kerbe schlug ein Vertreter aus der türkischen Community beim erwähnten Runden Tisch: Man werde Homophobie in der eigenen Community weiterhin bearbeiten – und zwar in dem Tempo, das man selbst für richtig halte; für Ratschläge von Lesben- und Schwulenorganisationen sei man dankbar, für Vorschriften nicht.
Homophobie im Migrationsdiskurs
Historisch sind Rassismus und Homophobie eng mit einander verbunden – die koloniale Konstruktion der «Anderen» ist immer sexualisiert. «Asiat/innen», «Afrikaner/innen» oder «Oriental/innen» wurden immer als «Rassen» imaginiert und sozial hergestellt, deren männliche Angehörige bestimmte Eigenschaften haben, so wie auch die weiblichen. Kolonialisierte Weiblichkeit und kolonialisierte Männlichkeit definierten die «zivilisierten» Geschlechterrollen in Europa. Ganz ähnlich verlaufen heute die Debatten in vielen westeuropäischen Ländern über Geschlecht und Sexualität in den entsprechenden Migrant/innen-Communitys: die Frauen alle unterdrückt und Homosexualität gänzlich verboten. Damit geht die Fiktion einer «aufgeklärten», «emanzipierten» und vor allem Frauenrechte und Homosexualität vollkommen akzeptierenden Mehrheitsgesellschaft einher.
Antworten auf Ressentiments zwischen zwei Gruppen, die sich vermeintlich gegenüber stehen, müssen erst gefunden werden. Sowohl Migrant/innen als auch Lesben und Schwule definieren sich legitimer Weise als «Opfer» struktureller und interpersonaler Diskriminierung. Vor diesem Hintergrund veranstaltete GLADT gemeinsam mit der Landesantidiskriminierungsstelle am 25. November den Fachtag → «Gemeinsam für Anerkennung und Respekt – Wie kann Homophobie in der Einwanderungsgesellschaft verhindert werden?» Bereits in der Woche vor der internationalen Tagung, an der etwa 300 Personen teilnahmen, hatte es bei GLADT eine Veranstaltung zum Thema → «Homosexualität und Religion – Homophobie und Islamfeindlichkeit» gegeben, bei beiden stand die Frage im Fokus, wie ein hierarchisierungsfreier Umgang mit menschenverachtenden Ideologien und ihren Manifestationen aussehen kann. Ausgehend von den Erfahrungen des ereignisreichen Jahres trat kurz vor Jahresende der Runde Tisch «Kreuzberg für Akzeptanz und Gleichbehandlung» zusammen, bei dem neben Rassismus und Homophobie auch die Themen Sexismus, Antisemitismus, Behindertenfeindlichkeit und Altersdiskriminierung auf die Tagesordnung kamen.
Dass es sich lohnt, Zusammenhängendes tatsächlich auch zusammen zu thematisieren, zeigt ein Blick auf die Geschichte der Gegenwart. Der Prozess der sozialen Herstellung von «Rassen» (Rassialisierung) und ihrer Ungleichwertigkeit war niemals nur biologistisch unterfüttert. Immer waren es auch kulturalisierende und sexualisierende Argumentationen, die es den europäischen Mächten ermöglichten, ihre Unternehmungen nach innen und nach außen zu legitimieren. Nicht-Weiße wie auch verschiedene kulturelle Praxen wurden als weniger wert eingestuft, um die eigene Überlegenheit zu behaupten, auch indem sexuelle Andersartigkeit und fehlende moralische Qualitäten zugeschrieben wurden. Namentlich homosexuelle Praktiken als Straftatbestand wurden in vielen Kolonien erst durch die Kolonialherren implementiert – etwa zu der Zeit, als das Verbot mann-männlicher Sexualität auch in die europäischen Strafgesetzbücher einging. Die Wechselbeziehungen zwischen den Kategorien Geschlecht, Herkunft und sexueller Orientierung dauerten – wie auch andere Elemente kolonialistisch-rassistischer Zuschreibungen – auch nach der Diskreditierung von «Rasse» nach dem Holocaust fort. Nach wie vor ist es die strukturelle Macht, die Weiße innehaben, in deren Dienst sexualisierter Rassismus und rassifizierte Sexualität/Geschlecht stehen.
In den letzten Jahren waren es vor allem auch Diskurse um Sexualität, die in den Migrations- und Integrationsdebatten eine zentrale Rolle spielten. Wie oben skizziert, beherrschen – entgegen aller Empirie – die Fantasie von der vollkommenen Akzeptanz in der «Wir»-Gruppe und das «Integrationsdefizit» bei den «Anderen» alle Auseinandersetzungen über Homophobie. Unabhängig davon, in welcher Generation Menschen in Deutschland leben, sind sie weiterhin mit der Forderung konfrontiert, vermeintlich importierten Sexismus und Homophobie abzulegen und sich zu «unseren Werten» zu bekennen, zu denen ziemlich genau seit den Terror-Anschlägen auf das Pentagon und das World-Trade-Center eben auch Frauenrechte und die Rechte von Lesben und Schwulen gehören. Dass der bildungspolitische Sprecher der Berliner CDU-Fraktion im Jahr 2008 die freiwillige Ausreise von Menschen aus «unserem Land» empfehlen kann, die das vermeintlich «homofreundliche» Klima hier nicht mittragen wollen, während seine Fraktion im gleichen Jahr mehrheitlich gegen die Gleichstellung verpartnerter Beamter stimmte, muss auch verwundern. Erstaunlicher sind aber die Angriffe auf Migrant/innen und People of Color, die von feministischen, lesbischen und schwulen Aktivist/innen ausgehen. Vor allem jugendliche männliche Migranten verkörpern in den entsprechenden Beiträgen eine besonders aggressive Form der Homophobie, die quasi notwendigerweise in gewalttätigen Übergriffen endet. Gründe seien die «archaische», «religiöse», «patriarchale» kulturelle Herkunft oder – wie es unter anderem in einem Flugblatt der Grünen heißt – die «homophobe Staatsdoktrin», die offensichtlich aus den Herkunftsländern der Großeltern mitgebracht und konserviert worden sein muss.
Trotz der Kritik aus dem Publikum, dass für eine solche Behauptung die empirische Grundlage fehle, schaffte es diese Aussage sogar in den Antrag der Grünen Abgeordnetenhaus-Fraktion zu einem Landesaktionsplan gegen Homophobie, der zu Beginn des Jahres 2009 beraten wurde und dann in den mittlerweile beschlossenen Antrag der Regierungsfraktionen mündete (u.a. → «Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt»).
So legitim der Ärger über homophobe Einstellungen – und oft genug auch Verhaltensweisen – ist, so illegitim ist dabei die Kollektivierung und Zuschreibung an ein Kollektiv, das im Fall von Muslim/innen nicht nur aus über einer Milliarde Menschen besteht, sondern auch über alle geopolitischen Gebiete verbreitet und glaubenspraktisch extrem heterodox ist. Der Wunsch, Homophobie auf Religion und Religiosität zurückzuführen, überschätzt nicht nur die Wirkmächtigkeit der Religionsgemeinschaft, sondern unterschätzt auch die Wirkmächtigkeit des religiösen Arguments im Rahmen eines rassistisch organisierten Einwanderungsdiskurses. Während die furiose Serie von Presseerklärungen, Veranstaltungen und Runden Tischen in Folge des Übergriffs vor dem SO 36 sehr zu begrüßen ist, weil trans- und homophober Gewalt endlich die Aufmerksamkeit geschenkt wird, die ihr seit Jahrzehnten verweigert wurde, stellt sich simultan und unweigerlich die Frage, was passiert wäre, wenn nicht – vielleicht – an einem der Autos am Tatort ein Aufkleber der «Grauen Wölfe» gesehen worden wäre.
Der Lesben- und Schwulenverband äußert in rascher Folge die bald zur Alltagsweisheit gewordenen Sätze zum erhöhten Vorkommen von Homophobie unter vor allem «türkischen» Jugendlichen. Sie seien schuld an so genannten «No-Go-Areas» in «Problemkiezen», wo sich Lesben und Schwule ihres Lebens nicht mehr sicher sein können. Deswegen habe der Senat seinen Runden Tisch «Gemeinsam gegen Homophobie» einberufen etc. Welche Jugendlichen dabei genau mit «türkisch» oder andernorts «migrantisch» gemeint sind, bleibt im Verborgenen, das Verständnis der Lesenden kann vermutlich vorausgesetzt werden – Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus, ethnische Herkunft, Religion und Religiosität, Alter, Sprachkenntnisse und Bildungsgrad, soziale Schicht und Aussichten auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt etc. spielen keine Rolle, wenn es darum geht, das eine Problem zu definieren und einen integren Schuldigen zu konstruieren.
Im Machtgeflecht einer komplexen Gesellschaft kommt der Zuschreibung einer spezifischen Homophobie eine enorm wichtige Rolle zu. Vor allem Aktivisten aus den Schwulen-Szenen sind es, die nicht nur auf die herkömmliche Konstruktion eines «Anderen» setzen, sondern auch auf eine Hierarchisierung von Zugehörigkeiten und repressiven Maßnahmen wie Kürzungen von Sozialleistungen oder Abschiebung, weil sie dadurch auf eine profitable Aufwertung der eigenen Gruppe hoffen können. Emanzipation ist selbstverständliche Grundlage queerer Politik. In der Komplexität einer Gesellschaft, die nur langsam und gleichzeitig akzeptiert, dass es Einwanderung und die Existenz nicht-heterosexueller Zweierbeziehungen gibt, die auf Reproduktion gegründet sind, kann dies aber nicht ausreichend sein. Allein die Existenz von lesbischen Migrantinnen und schwulen Migranten stellt eine Herausforderung für statische Identitäten dar, wie sie bisher die Diskurse prägen. Migrant/innen sind nicht alle heterosexuell – so wenig wie Lesben und Schwule alle weiß und christlich geprägte Herkunftsdeutsche sind. Das Jahr 2008 hat auf politischen, administrativen und zivilgesellschaftlichen Ebenen in Berlin die Weichen für die zukünftige Debatte gestellt, in der Geschlechterrollen und gesellschaftliche Positioniertheit Ethnizität, politische Überzeugungen und Religion/Religiosität als Analysekriterien ersetzen können. Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft, die ihrer Vergangenheit und der realen Gegenwart eingedenk ist, können Phänomene wie Homophobie, Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus nur gemeinsam angegangen werden.
Verwendete Literatur
Göbel, Peer (2008): → Homophobe Äußerungen: Daum entschuldigt sich bei schwulen Fans. In: Der Tagesspiegel vom 03.08.
LSVD Berlin-Brandenburg (2007): → Simon 2007, Einstellungen zur Homosexualität: Ausprägungen und sozialpsychologische Korrelate bei Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund.
Zusammenfassung der wichtigsten Studienergebnisse.
Pricken, Lizzi (2007): → Mottenkiste live. Eine Talkshow der Friedrich-Ebert-Stiftung als alberner Versuch, die Homo-Ehe schönzureden. In: Gigi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation 60 (März/April 2009), Seiten 16–18.
Steuer, Sascha (2008): → Die Übergriffe machen uns Angst. In: Der Tagesspigel vom 07.11.
Teuffel, Friedhard (2008): → Christoph Daum: Affäre nach Aufstieg. In: Der Tagesspiegel vom 24.05.