Koray Yılmaz-Günay

«Muslimische» Jugendliche und Homophobie – braucht es eine zielgruppenspezifische Pädagogik?

Sexuelle Selbstbestimmung scheint in dieser breiten Debatte quasi über Nacht zum Kernbestand der bundesrepublikanischen Werteordnung geworden zu sein. Anstatt über die faktischen Ungleichbehandlungen zu sprechen, die auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts fortbestehen, wird das Wort von der Emanzipation als Symbol hochgehalten – und ein formales Bekenntnis dazu soll die Spreu vom Weizen trennen. Dabei verdienen nach wie vor die meisten Frauen weniger Geld als Männer, selbst wenn sie dieselbe Arbeit machen. Dabei werden nach wie vor Frauen aus allen Bevölkerungsgruppen Opfer häuslicher Gewalt, unabhängig von Herkunft oder Religion. Dabei haben es Lesben und Schwule immer noch schwer, wenn sie sich ihrer Familie gegenüber «outen», egal, ob und welchen Migrationshintergrund die Eltern haben. Dabei werden Menschen, die nicht in ein eindeutiges «Frauen»- oder «Männer»-Bild passen, nach wie vor Opfer von Diskriminierung und Gewalt.

Die Wortmeldungen in Printmedien, Online-Foren und öffentlichen Diskussionsveranstaltungen dazu zeigen, dass die Spaltung der Gesellschaft in «Wir» und «die Anderen» über religiöse und konfessionelle Unterschiede hinweg funktioniert. Wenn ein Täter irgendwie als «muslimisch» identifiziert wird, ist die Nachricht tatsächlich eine Nachricht wert, denn die Einteilung der Menschen in religiöse Gruppen wird wieder ernsthafter vollzogen. Die Jahre 2008 und 2009, die einen immensen Anstieg der Berichterstattung über (nicht nur) homophobe Gewalt aufweisen, zeigen zugleich: Auch wenn die Minderzahl der Fälle de facto «Muslimen» oder «Migrant_innen»[2] zugeschrieben werden kann, sind diese Fälle in den Zeitungen überdurchschnittlich oft vertreten. Rechtsextreme Täter_innen kommen – trotz der Überrepräsentanz unter den realen Vorkommnissen – kaum in den Medien vor, stammen Täter_innen aus der «Mitte der Gesellschaft», erscheint meist nicht einmal eine Nachricht.[3]

Der Rückbezug von Mehrheitsdeutschen auf das Christentum ist damit genauso programmiert wie die (Re-) Islamisierung von Migrant_innen aus mehrheitlich muslimischen Ländern und Gebieten: Wo es nur noch «Kultur»-Blöcke gibt, verschwinden nicht-muslimische Kurd_innen oder christliche Araber_innen wie muslimische Mehrheitsdeutsche und Atheist_innen gleich welcher Herkunft aus dem Blickfeld. Neben «interkulturellen» werden nun überall auch «interreligiöse» Dialoge abgehalten, an denen wie selbstverständlich nach ethnischen Kriterien eingeladene Angehörige von Mehrheits- wie Minderheitenbevölkerung teilnehmen, selbst wenn sie laizistische Türkin oder ehemaliger DDR-Bürger ohne jeden Bezug zu irgendeiner Religion sind. Es sind also nicht Religionen in ihrem theologischen Gehalt oder die tatsächliche Zugehörigkeit zu einer Körperschaft, um die es geht, sondern gesellschaftliche, politische und vor allem mediale Konstruktionen von «Christentum» oder «Islam», die als «Eigenes» und «Fremdes» gedeutet werden.

Folgt man den Debatten gerade über Gewalt gegenüber schwulen Männern, sind die Positionen heute verhärteter denn je. Neben An- und Übergriffen, bei denen Jugendliche mit Migrationshintergrund als Täter in Frage kamen, waren es in den letzten Jahren vor allem zwei Veröffentlichungen, die Empörung auslösten. Erst wurde auf einer Internetseite aus dem Umfeld der Ahmadiyya Muslim Gemeinde männliche Homosexualität mit dem Verzehr von Schweinefleisch «erklärt». Dann sorgte ein schwulenfeindlicher Artikel in dem arabisch-sprachigen Berliner Anzeigenblatt al-Salam im Sommer und Herbst 2008 für teils erregte Erörterungen und Auftritte zum Thema «Islam und Homophobie». Insbesondere junge Männer, die ohne Ansehen der Staatsangehörigkeit oder des Aufenthaltsstatus, der ethnischen Herkunft, Religion oder Religiosität, des Alters, ihrer Sprachkenntnisse oder des Bildungsgrads, der sozialen Schicht oder der eigenen Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen pauschal als «migrantisch» bzw. «muslimisch» eingeordnet wurden, standen und stehen dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit. Egal, ob Hamburg, München, Köln oder Berlin: Es scheint von immensem Interesse, ob Homophobie hier religiöse oder kulturelle Ursachen und Motive hat.

Homosexualität und Homophobie in Deutschland

Lesbische und schwule Lebensweisen sind auch heute noch keine Selbstverständlichkeit in Deutschland. In der Schule wird in den seltensten Fällen außerhalb des Biologie-Unterrichts darüber gesprochen, in den Pausen wissen Lehrkräfte häufig nicht, ob – und wenn ja: wie – sie auf Schimpfwörter wie «Schwuchtel» reagieren sollen. Auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt trauen sich die meisten Lesben und Schwulen nicht, sich zu outen, weil sie Mobbing und Jobverlust fürchten, in der Nachbarschaft herrscht oft genug ein feindseliges Klima, in dem Verstecken als sinnvolle Strategie erscheint. Nach wie vor ist es nicht «normal», lesbisch oder schwul zu sein. Junge Schwule und Lesben haben immer noch den Eindruck, dass sie die einzigen in ihrem Umfeld sind, wenn sie ihr Coming Out haben. Die Berliner Studie «Sie liebt sie. Er liebt ihn.»[4] aus dem Jahr 1999 kommt u. a. zu dem Ergebnis, dass die Selbstmordraten unter diesen jungen Menschen signifikant höher sind als bei heterosexuellen Altersgenoss_innen. Es sind nicht nur, aber gerade auch die jungen homosexuellen Menschen, die bei ihren Familien «rausfliegen» und dann zu den hohen Zahlen von Lesben und Schwulen unter Obdachlosen führen.

Diejenigen, die diesen Stress-Faktoren im Leben von Menschen in allen Altersgruppen entgegenwirken könnten, interessieren sich in aller Regel nicht für Diskriminierung und Gewalt gegenüber Lesben und Schwulen. Lehrer_innen wissen häufig nicht, wie sie das Thema Sexualität überhaupt aufgreifen sollen, in der Jugendarbeit stehen andere Themen im Vordergrund. Politik und Verwaltung tun wenig für den Abbau der Privilegien von Frau-Mann-Ehen. Das Modell der auf Dauer angelegten und an Nachwuchs orientierten, monogamen heterosexuellen Zweierbeziehung bleibt das Ideal, an dem Gesetze orientiert werden, auch wenn solche Konstellationen immer seltener vorkommen. Die Werbung im Fernsehen, das Gespräch im Freundeskreis oder aber die Schimpfwörter im Fußballstadion – alles deutet darauf hin, dass es «normale» und «abweichende» sexuelle Orientierungen gibt.

Noch komplizierter wird es, wenn die jungen Frauen und Männer aufgrund ihres Namens, ihres Aussehens, ihrer Sprachkenntnisse oder anderer Merkmale als «nichtdeutsch» wahrgenommen werden. Homophobie mischt sich in ihren Lebenswelten mit Erfahrungen von Rassismus, die Diskriminierungen überlappen und verstärken sich gegenseitig.

Die sogenannten «Muslime»

Die Frage, wer «die Muslime» in Deutschland sind, lässt sich nicht beantworten. Anders als in Frankreich oder Großbritannien bilden Menschen mit türkischem und kurdischem Migrationshintergrund die größte Gruppe unter den Migrant_innen und Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Vor diesem Sozialisationshintergrund ergeben sich dabei gravierende lebensweltliche Unterschiede zu Migrant_innen aus Nordafrika (Frankreich) bzw. Südasien (Großbritannien), bei denen unterschiedliche Religionsverständnisse viel stärker Teil des gesellschaftlichen Lebens sind. Der türkische Laizismus erklärt dagegen – nach wie vor sehr erfolgreich – Religion und Religiosität zur privaten Angelegenheit. Neben der fehlenden hierarchischen Organisationsform (und damit einhergehend: der fehlenden Registrierung der Gläubigen) ist dies einer der Gründe, warum unterschiedlichste Formen des kulturellen, sozialen und religiösen Muslimisch-Seins möglich sind – genauso wie die Freiheit von Religion. Der Wunsch, «der Islam» in Deutschland möge mittelfristig eine Adresse und Telefonnummer haben (vgl. z. B. die Bestrebungen der Deutschen Islam-Konferenz), ist orientiert am Bild der Kirchen, das so nicht übertragbar sein wird. Dafür stehen Fragen unterschiedlicher Herkünfte und religiöser Praxen etc. zu sehr im Vordergrund.

Die Frage, was «der Islam», der Koran und/oder der für zuständig erklärte Imam zu Homosexualität und Homosexuellen sagen, verdeckt auf der Ebene der Einstellungspotentiale viel wichtigere Fragen nach Alter, Geschlecht und Lebensrealitäten unterschiedlicher Menschen und Bevölkerungsgruppen. Wie in allen anderen stehen auch in Migrant_innen-Familien aus mehrheitlich muslimischen Ländern ganz andere Fragen im Raum, wenn die Tochter sich als lesbisch «outet». Was werden die Nachbar_innen sagen? Was passiert, wenn die Großeltern es erfahren etc. Irgendwann, erst viel weiter unten auf der Liste, wird unter Umständen auch die Frage auftauchen, wie die Religion dazu steht. Homophobe Einstellungen sind nicht angeboren, und sie führen auch nicht automatisch zu körperlicher Gewalt gegen Lesben und Schwule. Sonst müsste es überall und immerzu «knallen». Diese Einstellungen werden auch nicht von Jugendlichen neu erfunden – immer sind es Erwachsene, von denen sie übernommen werden. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass sich die Erwachsenen-Welt vernehmbar gegen Homophobie positioniert. Sportvereine, aber auch andere weltliche Organisationen wie auch religiöse Gemeinden und Vereine können als Vorbild fungieren – und ein akzeptierendes Klima fördern.

Theologische Positionen

Die Aussagen des muslimischen Mainstreams heute zielen zumeist auf die Sündhaftigkeit, Schädlichkeit etc. von Homosexualität, die aus den Grundquellen islamischer Rechtsprechung (Koran und Prophetenüberlieferungen) abgeleitet werden. Aus beiden lässt sich – folgt man den heute vorherrschenden Auslegungen – nicht nur Ablehnung, sondern nach Meinung vieler Gelehrter auch die Aufforderung zur (körperlichen) Bestrafung zumindest männlicher Homosexualität herauslesen. Dabei wird die im Koran mehrfach aufgegriffene, bereits aus dem ersten Buch der Bibel bekannte Geschichte um Lot so aufgefasst, wie es etabliertem jüdischem und christlichem Verständnis entspricht. Die so genannte «Sünde Sodoms» wird kurzerhand mit der neuzeitlichen «Homosexualität» gleichgesetzt, obwohl es «Schwulsein» bzw. «Lesbischsein» als gesellschaftliche Identität erst seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt. Traditionelle islamische Juristen gingen dabei von der These aus, dass gleichgeschlechtliches Empfinden und Sexualität (ohne soziale Identität, die darum aufgebaut wird) ein natürliches Faktum sind.[5] Also lässt sich seriös weder behaupten, der Islam verdamme «Homosexualität», noch, er akzeptiere sie – denn die Einteilung der Menschheit in Schwule/Lesben oder Heterosexuelle stammt aus dieser Gesellschaft und muss so in anderen nicht vorkommen.

Weltliche Erklärungen

Vor diesem Hintergrund ist es sehr begrüßenswert, dass mittlerweile zwei Erklärungen vorliegen, die muslimische Organisationen in Deutschland zum Thema Homophobie herausgegeben haben.[6] Es wäre wünschenswert, dass sie über Berlin hinaus bekannt werden und als Vorbild für andere Städte und Regionen dienen. Der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland teilt mit:

Die Haltung der Religion des Islam zur Homosexualität wird von Aussagen des Koran bestimmt; darin verurteilt der Koran Homosexualität als vom islamischen Natur- und Menschenbild abweichend, knüpft daran jedoch keine konkrete Strafe im Leben. Ausdrücklich betonen wir an dieser Stelle: Keine Gewalt und Diskriminierung gegen Homosexuelle! Wie dies unter anderem in der Islamischen Charta vom 20. Feb. 2002 und anderen Dokumenten der muslimischen Spitzen- und Dachverbände zum Ausdruck kommt, stehen die Muslime auf der Grundlage des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Danach verhalten wir uns und handeln wir auch und verurteilen jegliche Verfolgung und Diskriminierung von Religionen, Minderheiten und Gruppen, darunter auch Homosexuelle.

Darüber hinaus nahmen einige muslimische Organisationen in Berlin bzw. Berliner Sektionen nationaler Verbände[7] gemeinsam Stellung zu religiös begründeten homophoben Positionen:

Im April dieses Jahres [2008] ist im arabisch-sprachigen Anzeigenblatt al-Salam ein Artikel erschienen, in dem der Autor seine persönlichen und homophoben Ansichten zu Homosexualität und ihren Konsequenzen darlegt. Die Reaktion der Öffentlichkeit auf diesen Artikel war zu Recht Empörung und Unverständnis. Auch wenn der Autor nur für sich selbst sprechen kann, entwickelte sich eine breite Debatte über die Einstellungen von Muslimen in Deutschland zu Homosexualität.

Ausgehend von den Aussagen des Korans gibt es unter muslimischen Gelehrten den Konsens, dass homosexuelle Handlungen theologisch als Sünde zu betrachten sind. Ähnliches gilt – bekanntlich – auch für das Trinken von Alkohol oder außereheliche Beziehungen. Handlungen, die islamisch-theologisch als Sünde betrachtet werden, können wir aus unserem Glauben heraus nicht gutheißen.

Gleichzeitig sind wir der festen Überzeugung, dass die sexuelle Orientierung, der Konsum von Alkohol, oder was auch immer in der islamischen Theologie als Sünde betrachtet wird, Privatsache ist. Ob wir etwas gutheißen oder nicht, wird und kann die Freiheit des Einzelnen in keiner Weise beschränken. Für uns handelt hier jeder Mensch eigenverantwortlich und wird im Jenseits – dies ist fester Bestandteil unserer islamischen Glaubensvorstellung – vor seinem Schöpfer für sein gesamtes Handeln Rechenschaft ablegen müssen.

Auch wenn wir Homosexualität als solche nicht gutheißen, verurteilen wir jegliche Form der Verfolgung oder gar Gewaltanwendung gegen Homosexuelle. Wir wenden uns entschieden gegen jegliche Form der Diskriminierung und Verfolgung irgendwelcher gesellschaftlicher Gruppen einschließlich der Homosexuellen.

Zum Schluss sei angemerkt, dass in der aktuellen Berichterstattung über den oben genannten Artikel manche Autoren direkt oder auch indirekt die Vorstellung bzw. Aussage kritisieren, dass Homosexualität eine Sünde ist. Hierdurch erwecken sie den Eindruck, dass dies eine Ursache von Homophobie sei. Nicht die Glaubensvorstellung führt zu Homophobie, sondern vielmehr ein mangelndes Verständnis über die Freiheit des Einzelnen. Muslime – und nicht nur sie – wird man für den Kampf für individuelle Freiheit nicht gewinnen können, indem man Glaubens- und Moralvorstellungen kritisiert. Stattdessen erreicht man das Gegenteil. Entscheidend ist vielmehr die Vermittlung eines richtigen Verständnisses für die vielfältige Freiheit des Einzelnen bzw. des Anderen unabhängig von den eigenen Überzeugungen, die jeder Mensch wiederum für sich frei wählen kann.

Auch wenn diese Organisationen nicht für «die Muslime» oder gar «den Islam» sprechen können, ist ihre Positionierung zum gesellschaftlichen Problem der Homophobie sehr zu begrüßen. – Beide Erklärungen folgen der Interpretation, wonach Homosexualität Sünde ist, und betonen zugleich, dass darüber erst im Jenseits zu richten sei. Für das Hier und Heute lehnen sie nicht nur jede Gewalt ab, sondern verlangen ausdrücklich die Achtung der individuellen Grund- und Freiheitsrechte.

Die Unterzeichner – zu denen mit DITIB die mitgliederstärkste muslimische Organisation in Deutschland gehört – fühlen sich in ihrer Glaubensüberzeugung an den «Konsens» der Gelehrten gebunden, unterstreichen jedoch, dass dies stets der Gewissensentscheidung jedes einzelnen Menschen überlassen bleiben muss, und bekennen sich damit zu einer Rechtsordnung, in der die Freiheit individueller Lebensentwürfe garantiert ist.

Zu einer Bewertung

Gerade weil der öffentliche Diskurs dazu neigt, Migrant_innen zu (re-) islamisieren, sollten solche Erklärungen explizit nicht als von «den» Muslimen kommend verstanden werden – es kann nicht oft genug betont werden, dass im Islam niemand mit einer dem Papst oder auch nur evangelischen Bischöfen vergleichbaren Autorität sprechen kann. Die Erklärungen zur Homophobie tragen dennoch zu einer wünschenswerten Diversifikation des Bildes bei. Vor dem Hintergrund vor allem einer Mediendebatte, in der sich vermeintlich akzeptierte «Lesben und Schwule» als Verkörperungen westlicher «Aufgeklärtheit» und «Zivilisation» einerseits und «Migrant_innen» bzw. «Muslime» als leibhaftige Symbole eines «vorzivilisatorischen» Kollektivismus andererseits gegenüberstehen, scheint es bei jeder Rede über Islam und Homosexualität sinnvoll, auf folgende Punkte explizit hinzuweisen: Weder sind in Deutschland die Grund- und Freiheitsrechte von Homo- und Bisexuellen und schon gar nicht die von Transsexuellen und Transgendern verwirklicht, noch sind homogenisierte Vorstellungen von «den» Deutschen, «den» Migrant_innen oder «den» Muslimen hilfreich in einer Debatte, wo es um gesellschaftliche Emanzipation gehen sollte. Denn dann dürfen weder Bevölkerungsgruppen (Frauen, Migrant_innen, Homosexuelle) noch Probleme (Sexismus, Rassismus, Homophobie) nach mehr oder weniger Wert bzw. Brisanz hierarchisiert werden.

Die Erklärungen sind somit vor allem dazu geeignet, anti-muslimischen Verengungen der Debatte entgegenzuwirken. Weniger leicht erkennbar ist ihr Nutzen im Kampf gegen Homophobie, insofern diese von den unterzeichnenden Organisationen auch bisher nicht propagiert wurde. Groß angelegte homofeindliche Kampagnen, wie sie der Vatikan gerade auch heute nicht nur in Spanien und Italien immer wieder betreibt, sind also von diesen Islam-Verbänden auch in Zukunft eher nicht zu erwarten. Indem sie der Verantwortlichkeit der einzelnen Menschen vor Gott einen so großen Wert zumessen, formulieren sie damit zugleich auch ein zeitgemäßes «laizistisches» Religionsverständnis. Das mag zumindest lesbische und schwule Muslim_innen ermutigen, für sich zu anderen Schlüssen als die Gelehrten zu kommen, was die Vereinbarkeit ihres Glaubens und ihrer Sexualität betrifft.[8]

Ausblick

Werden Herkunft und Religion/Religiosität zum Analyse-Raster, verstärken sich Blockaden und Polaritäten, die einem Mediendiskurs geschuldet sind, der hauptsächlich von Mehrheitsdeutschen über «die Muslime» geführt wird. Prävention, die darauf baut, muss scheitern, weil sie kaum etwas mit den realen Erfahrungen von Menschen heute und hier in Deutschland zu tun hat, denn Menschen, die permanent hören, «bei ihnen» sei es «so», antworten dann irgendwann auch: «Bei uns ist das so.»

Gewalttätigkeit entwickelt dabei häufiger, wer selbst Gewalt erfahren hat. Faktoren wie Geschlecht, Alter, gesellschaftliche Schicht und eigene Diskriminierungserfahrungen entscheiden zu einem ganz wesentlichen Teil, welche Jugendlichen und Erwachsenen Gewalt gegen Lesben und Schwule anwenden. Strategien zum Abbau verbaler und körperlicher Gewalt sollten diese Faktoren zum Ausgangspunkt nehmen. Alters- und geschlechtsspezifische Ansätze zur Bearbeitung von Homophobie müssen sich daran orientieren, warum spezifische Äußerungen und Verhaltensweisen für ganz bestimmte Menschen attraktiv sind, denn weder alle Mehrheitsdeutschen noch alle Migrant_innen sind homophob. Nur wenn nach der Funktionalität von Homophobie für den eigenen Identitätsaufbau, z. B. für Jugendliche mit «muslimischem» Migrationshintergrund, gefragt wird, lassen sich gangbare Wege finden, diesen Einstellungen und Verhaltensweisen zu begegnen – über die künstlich gezogenen Grenzen zwischen Bevölkerungsgruppen hinweg.

Die Autoren arbeiten beim Verein GLADT – Gays & Lesbians aus der Türkei, der in Berlin Lesben, Schwule, Bi- und Trans*-Personen berät und auf unterschiedlichen Ebenen zu den Themen Rassismus, Sexismus/Transphobie und Homophobie arbeitet. Der Verein hat jüngst das Projekt «Homosexualität in der Einwanderungsgesellschaft – Handreichungen für emanzipatorische Jungenarbeit» abgeschlossen, das in Zusammenarbeit mit pädagogischen Fachkräften Methoden zum Umgang mit Sexismus/Transphobie und Homophobie entwickelt hat. Die Materialien sowie eine Erhebung unter Lehrer_innen, Jugendarbeiter_innen und anderen (Sozial-) Pädagog_innen zu den hier besprochenen Themen können auf den Internetseiten www.HeJ-Berlin. de und www.GLADT.de eingesehen und heruntergeladen werden. Auf der Internetseite des Vereins findet sich auch ein Dossier zu «Religion und Homosexualität im Kontext von Rassismus». (Kontakt zu den Autoren: info@GLADT.de).

[1] In diesem Artikel wird der «Gender Gap» verwendet, um auch Personen, die sich nicht innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit verorten können oder wollen, sichtbar zu machen und sie mit einzubeziehen. Der Unterstrich als Leerstelle verweist auf Menschen, die gesellschaftlich und strukturell unsichtbar gemacht werden und die sprachliche Repräsentation jenseits der Zweigeschlechtlichkeit zur Debatte stellen.

[2] «Migrant_innen» ist ein Begriff, der in diesem Text bewusst in der Einengung benutzt wird, die in Politik, Medien und Zivilgesellschaft – ungerechtfertigter Weise – seit einiger Zeit gangundgäbe ist. Dem öffentlichen Diskurs folgend sind nicht Migrant_innen aus osteuropäischen oder afrikanischen, asiatischen oder amerikanischen Ländern gemeint; «Migrant_innen» sind hier Menschen mit Wurzeln in mehrheitlich muslimischen Ländern oder Gebieten – für den deutschen Kontext also v. a. Türk_innen und Kurd_innen, als die größten Migrant_innen-Gruppen, oder Araber_innen und Bosnier_innen. Darüber hinaus werden aber auch Menschen in die Schublade «Migration» gesteckt, die etwa als Sinti, Roma oder Schwarze Deutsche aufgrund ihrer äußeren Erscheinung als «Migrant_innen» identifiziert werden. Offensichtlich ist es der Blick der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft, der hier entscheidet, über wen gesprochen wird. Flüchtlinge, die zum Teil seit mehr als zehn Jahren in Deutschland leben und keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben, und deren Kinder leben vielfach unter katastrophalen Bedingungen. Jede Präventions- und Interventionsarbeit auch zu den Themen Sexismus/Transphobie und Homophobie müsste am Aufenthaltsstatus und am Zugang zu Gesundheit, Arbeit und anderen gesellschaftlichen Gütern ansetzen. Andernfalls droht eine doppelte Stigmatisierung. «Mehrheitsdeutsch» bezeichnet in diesem Text weiße Personen ohne Migrationshintergrund, die (post-) christlich sozialisiert wurden. Schwarze Deutsche, Roma/Sinti, Jüdinnen/Juden und Migrant_innen bzw. deren Nachkommen sind unter Umständen Deutsche, ohne (immer) die Privilegien nutzen zu können, die mit einer deutschen Staatsangehörigkeit verbunden sind.

[3] Vergleiche die Analyse «Kreuzberg als Chiffre. Von der Auslagerung eines Problems» von Yeliz Çelik, Dr. Jennifer Petzen, Ulaş Yılmaz und Koray Yılmaz-Günay, erschienen in: Berliner Zustände 2008. Ein Schattenbericht zu Rechtsextremismus, Rassismus und Homophobie, herausgegeben vom Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (apabiz) und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR), Mai 2009, 22–28.

[4] Herausgegeben vom Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen bei der damaligen Berliner Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport, Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen, in Kooperation mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Der Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen ist heute als Teil der Landesantidiskriminierungsstelle bei der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales angesiedelt.

[5] Georg Klauda: Die Vertreibung aus dem Serail. Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt, Hamburg 2008, Seite 51.

[6] Zur Entstehungsgeschichte und zur Debatte vergleiche auch www.UFUQ.de.

[7] Es handelt sich um den Deutschsprachigen Muslimkreis (DMK), DITIB, Inssan, das Interkulturelle Zentrum für Dialog und Bildung (IZDB), das Islamische Kultur- und Erziehungszentrum (IKEZ), die Muslimische Jugend und die Neuköllner Begegnungsstätte (NBS).

[8] Während sich in den USA und in Großbritannien auch Selbstorganisationen lesbischer, schwuler und transgender Muslime gegründet haben, sind entsprechende Versuche in Deutschland bisher nicht erfolgreich gewesen. Für den deutschsprachigen Kontext sei deswegen auf die detailreichen Texte des Islamwissenschaftlers und schwulen Muslims Andreas Ismail Mohr verwiesen, der sich seit Jahren um eine breitere innermuslimische Debatte bemüht, die die Perspektive schwuler Muslime zur Kenntnis nimmt (http://home.arcor.de/yadgar/mohr/islam_homo2.html, 26. 11. 2009).

Erschienen in «Facebook, Fun und Ramadan. Lebenswelten junger Muslime in Deutschland» (Reader, herausgegeben von Stephan Bundschuh, Birgit Jagusch und Hanna Mai für das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V.), Dezember 2009, Seite 34–38.
[mit Salih Wolter]

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