Rezension zu Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß, Salih Alexander Wolter (November 2012): → Interventionen gegen die deutsche «Beschneidungsdebatte». Münster: → edition assemblage.
96 Seiten, Broschur
ISBN-13: 978–3–942885–42–3 (lieferbar)
Die Rezension ist erschienen in: → kritisch-lesen.de, Ausgabe 25 («Alternative Kinderbücher») vom 8. Januar 2013.
Ein schmaler Band mit Interventionscharakter widmet sich der Debatte um die Vorhautbeschneidung von Jungen und zeigt, dass sich dieses Phänomen nicht isoliert betrachten lässt.
Eine Mutter bringt ihren vierjährigen Sohn in die Notaufnahme eines Kölner Krankenhauses, weil er unter Nachblutungen einer Vorhautbeschneidung leidet, die von einem Arzt fachgerecht unter Narkose vorgenommen wurde. Weil das Krankenhaus sich mit der Mutter sprachlich nicht verständigen kann, wird die Polizei benachrichtigt [!] und ein beispielloses Lehrstück zur nach-sarrazinschen Bundesrepublik nimmt seinen Lauf. Der beschneidende Arzt wird freigesprochen, weil er sich in einem «Verbotsirrtum» befunden habe, in seinem Urteil vom 7. Mai 2012 bestätigt eine kleine Strafkammer des Kölner Landgerichts allerdings zugleich das Verbot religiös motivierter, medizinisch nicht indizierter Amputationen der männlichen Vorhaut bei Jungen unter vierzehn Jahren. Das Urteil erreicht wegen des Freispruchs trotz seiner grundsätzlichen Bedeutung weder die nächsthöhere Instanz noch die Politik – erst nach Ablauf der Berufungsfrist wird die Mediendebatte von einem Mann lanciert, dessen 2008 im Deutschen Ärzteblatt publizierte Auffassung bereits das Kölner Urteil mitgeprägt hatte: Über Nacht gilt Holm Putzkes Meinung als «herrschende juristische Meinung», obwohl sie vorher kaum diskutiert wurde – und obwohl dadurch Fragen zu den Grundfesten der Gesellschaft aufgeworfen werden, die nicht im Rahmen der individuellen Karriereplanung eines jungen Juristen zu beantworten sind.
Erst mit dem am 12. Dezember 2012 vom Bundestag beschlossenen Regierungsentwurf zum «Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes» endet, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, der juristische Teil einer Auseinandersetzung, die in quasi allen Medien des Landes geführt wurde und zwischenzeitlich die jüdische und muslimische Bevölkerung immer wieder zum zurückgebliebenen und/oder verzichtbaren Teil der Gesellschaft erklärt hat. Die «Interventionen gegen die deutsche ‹Beschneidungsdebatte›» von Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter widmen sich diesem Geschehen in einem schmalen Band, der wenige Tage vor der Bundestagsentscheidung veröffentlicht wurde. Das Buch besteht im Wesentlichen aus zwei voneinander unabhängigen Beiträgen, die aber gerade in der Zusammenschau ein richtungsweisendes Bild ergeben.
«Fortsetzung einer Zivilisierungsmission»
Der erste Aufsatz von Zülfukar Çetin und Salih Alexander Wolter widmet sich den Bedingungen und Kontexten der öffentlichen Auseinandersetzung, die wesentlich breiter und leidenschaftlicher als andere «Sommerloch»-Debatten geführt wurde. Weder die politischen, finanziellen und ökonomischen Krisen innerhalb der EU und ihrer Mitgliedstaaten noch die von Woche zu Woche infamer werdenden Ausflüchte der Inlandsgeheimdienste und Ermittlungsbehörden zu den «Pannen» im Zusammenhang mit der neonazistischen Mord- und Terrorwelle des «Nationalsozialischen Untergrunds» konnten die «Beschneidungsdebatte» überschatten. Es ist eine der größten Stärken der Analyse, den diskursiven Rahmen herauszuarbeiten, in dem die Opposition von Selbstbestimmung des Kindes versus dem Recht von Eltern zwar funktional ist, aber gewaltig in die Irre führt. Denn es geht darin um wesentlich mehr als um das Für und Wider einer Beschneidung von Jungen.
«Die Beschneidungsdebatte bedeutet eine neue Eskalationsebene des Diskurses der ‹Integration›» (S. 21), schreiben die Autoren und stellen damit vollkommen zu Recht einen Zusammenhang zu anderen Auseinandersetzungen her, die seit dem Ende der Rhetorik vom Boot, das voll sei, unter dem Etikett «Integrationsdebatte» geführt werden. Zwei Dinge stechen hier laut Çetin/Wolter unmittelbar ins Auge: Die gewaltbereite Hypermaskulinität, die «muslimischen» Jungen und Männern jeden Tag aufs Neue durch Studien, staatliche Programme und Mediendiskurse zugeschrieben wird, verkehrt sich in einen Fall fürs nicht-amputierte Mitleid, die körperliche und sexuelle Selbstbestimmung wird auch bei denen, die sonst nur zum Täter reichen, zum Rechtsgut ersten Ranges. Zum anderen stellt der Aufsatz die Fiktion von der Bindestrich-Identität «deutsch-jüdisch» in Frage, die so lange half, die «Aufarbeitung» der Schoah mit den strategischen Interessen der Bundesrepublik zu verbinden. Dort, wo es darum gegangen wäre, spezifisch jüdisches Leben in der Bundesrepublik tatsächlich zum Teil des Unzweifelhaften zu machen, teilt – laut zitierter Umfrage des Stern – nur ein Drittel der Bevölkerung die Auffassung, die Entscheidung des Kölner Gerichts sei falsch: «Seit dem Sommer 2012 ist es still geworden um die in den letzten Jahrzehnten erfundene ‹gemeinsame jüdisch-christliche Kultur›.» (S. 39)
Die medizinische Basis?
In der Frage, wie sehr und auf welche Weisen die Kategorie Geschlecht Menschen regierbar macht und somit zwar ein Konstrukt, aber keine Fiktion ist, überschneiden sich die beiden Aufsätze im Band und komplettieren einander. Das Ideal ist männlich. Und zwar männlich ohne Zweifel und bis zum letzten Zipfel. Gerade die vermeintlichen Parallelen zur Situation der Intersexuellen, die in der Debatte häufig bemüht wurden, zeigen, wie wenig wirklich das «Elternrecht» in der Kritik steht. Seit Jahrzehnten streiten Intersexuelle für ein Ende geschlechtszuweisender Zwangsoperationen, der Erfolg ist alles in allem bescheiden. Eine andere Vermutung drängt sich demgegenüber geradezu auf: «Antisemitismus und Antimuslimischer Rassismus werden unter dem Argument der Religionskritik unsichtbar gemacht.» (S. 38) Es ist nicht nur das staatliche Gesetz, das über Intersexualität entscheidet – es sind vor allem die kaum angezweifelten Entscheidungen von medizinischem Fachpersonal, das nun auch in der Frage von Vorhautbeschneidungen nicht mehr nur «Halb-Gott in Weiß» sein soll. Die immer weiter gehende ideologische Übertragung von Autorität vergottet die Heilkunst in Gänze – auch dort, wo es sich um einen jahrtausendealten Ritus handelt, ein soziales Phänomen, das weder einer juristischen noch einer medizinischen Induktion bedarf, weil es nichts zu heilen, aber viel zu schädigen gibt. Medizin, so will es die Debatte, soll an die Stelle von Islam und Judentum treten.
Denn ginge es danach – und das zeigt der Aufsatz «Zirkumzision – die deutsche Debatte und die medizinische Basis» von Heinz-Jürgen Voß faktenreich –, ließe sich genauso gut oder besser argumentieren, die Vorhautbeschneidung müsse für alle Jungen vorgeschrieben werden. Während es zur oft bemühten Traumatisierung keine Studien gibt, weist das vorliegende medizinische Material, das Voß ausführlich würdigt, eher darauf hin, dass bei fachgerecht ausgeführten Beschneidungen so gut wie nie Komplikationen auftreten, dass Beschnittene zufriedener mit ihrem Sexualleben sind als Nichtbeschnittene und so weiter und so fort. Auch in Gesellschaften, die die Medizin zur Norm erheben – und hier ist der Aufsatz auch für medizinische Lai_innen sehr interessant –, ist «die Medizin» ohne ihre Kontexte nicht zu verstehen, sie hat keine Ideale jenseits der Gesellschaft, in der sie stattfindet – in diesem Zusammenhang etwa Hänseleien im schulischen Kontext wegen einer durchgeführten oder nicht durchgeführten Vorhautbeschneidung. Für seinen diskurstheoretischen Zugang zitiert Voß detailliert die Erklärungen von medizinischen und anderen Fachverbänden und kommt am Ende zu dem Schluss, dass die vorliegenden wissenschaftlichen Ergebnisse darauf hindeuten, dass die «Vorteile einer Beschneidung die Nachteile überwögen» (S. 76).
Anknüpfungspunkte
Dem Wesen einer «Intervention» entsprechend kommt das Buch erst nach einem ganz wesentlichen Teil der Debatte. Es ist aber sicher kein Buch, das «zu spät» kommt. Denn in der Tat ist die «Beschneidungsdebatte» weder ohne ihre Vorgeschichte und ihre Kontexte zu verstehen – noch wird sie der Schlusspunkt einer Auseinandersetzung um die Anerkennung der multiethnischen und multireligiösen Zusammensetzung der bundesrepublikanischen Gesellschaft sein. Es gibt keinen Anlass, die Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch für das Ende dieser Debatte zu halten. Die immer neue Auseinandersetzung um Geschlecht und Sexualität bei «Muslim_innen» (Kopftuch, Hypermaskulinität, Homophobie, Zwangsverheiratungen, «Ehrenmorde» et cetera) wie auch das immer weitere Aufweichen des anti-antisemitischen Grund-Konsenses der BRD stehen in einem Zusammenhang mit Debatten um die Neudefinition der deutschen Nation, die seit dem Ende der West-Ost-Konfrontation stattfinden. Ohne die «Sarrazin-Debatte», die einer breiten Schicht gezeigt hat, wie viele Dämme schon gebrochen sind und was alles (wieder) denk- und sagbar ist, wäre das Gespräch um den kleinen Unterschied nie entstanden oder aber anders geführt worden. Die Erkundungstruppen dessen, wer unter welchen Umständen und in welchem Umfang zum neuen deutschen «Wir» gehören darf – so viel lässt sich über den Zwischenstand sicher sagen –, kommen immer ungehaltener daher.
Demgegenüber sind die hegemoniekritischen Beiträge in diesem Band nicht geschichtsvergessen. Sie sind nicht blind gegenüber aktuellen Ausprägungen von Rassismus und Antisemitismus. Sie sind patriarchatskritisch und in vielerlei Hinsicht (aus-) wegweisend in einem Umfeld, das zunehmend die Rede über etwas mit dem Etwas selbst verwechselt. Denn es gäbe in der Tat zahlreiche Anknüpfungspunkte, um in der Bundesrepublik aus gutem Grund etwa über Kinderrechte zu sprechen. Die sich immer weiter ausbreitende Kinderarmut unter Hartz 4 wäre ein solcher Anknüpfungspunkt. Dass diese spurlos an Leib und Seele von Kindern vorbeigeht, ist nicht anzunehmen. Dasselbe ließe sich für die Ergebnisse aller Bildungs-Studien der letzten Jahre sagen; über die verheerenden operativen Geschlechtszuweisungen bei intersexuellen Kindern und die lebenslangen Konsequenzen, die daraus erwachsen und in Kauf genommen werden. Staatlich ließen sich auch Fragen regeln, die vor allem oder ausschließlich Kinder aus ethnischen oder religiösen Minderheiten betreffen. Die Bundesrepublik könnte sich für eine humane EU-Asyl-Politik einsetzen, die es verhindert, dass Minderjährige und Erwachsene als «Flüchtlinge» etwa in Griechenland festsitzen und dort gemeinsam kriminalisiert und interniert werden. Sie könnte gezielte Kampagnen zur Zahngesundheit bei Kindern initiieren, die in der zweiten oder dritten Generation hier geboren sind, aber auf nicht absehbare Zeit «nichtdeutscher Herkunft» bleiben sollen – oder dafür sorgen, dass keine ethnisch segregierten Schulklassen eingerichtet werden, die weißen Eltern eine «Deutsch-Garantie» geben. Das tut sie aber nicht. Die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag hat am 12. Dezember 2012 eine besonnene, kluge Entscheidung getroffen, so viel steht nach der Lektüre dieses Bandes fest. Sie hat in Kauf genommen, dafür gescholten zu werden, gegen den gesellschaftlichen Mainstream zu stimmen. Und doch hat sie sich hier nur zu einem Einzelfall geäußert. So wie selbst konservative Politiker_innen gegen den einzelnen Thilo Sarrazin gesprochen hatten. Ein respektvoller, rassismuskritischer Umgang mit Vorstellungen von Ethnizität, Religion und/oder Kultur, der demgegenüber den systematischen Charakter von Auf- und Abwertung und die Bedingungen dafür stets mitdenkt, ist damit nicht zu haben.
Es ist ein Verdienst dieser «Interventionen», vehement darauf hinzuweisen, dass sich ein Phänomen wie die Vorhautbeschneidung von Jungen nicht isoliert betrachten lässt, sondern dass es immer darum gehen muss, Gesellschaft in ihrer Komplexität und mit ihren ineinander verschränkten Machtasymmetrien zu denken. Und auch und immer wieder darauf, dass die Rede von einem «Wir» nicht «uns» alle meinen muss. Zu viel Gesagtes und vor allem Ungesagtes ist darin miteinander verwoben, zu viele Ungleichheiten beim Zugang zum Sprechen, aber auch sehr viel dekretiertes Schweigen. Mit dem Ritus soll wesentlich mehr verschwinden als ein vermeintlich überkommener Brauch.