In den 1980er Jahren sagte mein Erdkunde-Lehrer (zugleich Direktor meiner Oberschule) anlässlich meiner mahnenden Worte, die einer gewissen Skepsis gegenüber seinem autoritären Unterrichtsstil Ausdruck verleihen sollten, der aus unerfindlichen Gründen glücklicherweise vergangene Jahrzehnte überdauert hatte:«Geh doch rüber [DeDeEr], wenn es dir bei uns [West-Berlin] nicht passt.» Ich wollte nicht «rübergehen», weil es in der DeDeEr schrecklich aussah. Anders vermutlich als Herr F. war ich gelegentlich in Ost-Berlin. Und ich kam ohne Lepra, Cholera oder einen Gendefekt zurück. Darüber hinaus fuhr ich mit meinen Eltern auf dem Weg in den Sommerurlaub jedes Jahr über die Transitstrecke durch einen Teil des Landes, der für mich ein eigener Staat war, in etwa so «deutsch» und «unser» wie Österreich. Nämlich gar nicht. Aber genauso öde wie das, was ich aus Berlin kannte.
Der Atlas, den wir im Erdkunde-Unterricht verwendeten, markierte die Westgrenze der DeDeEr allerdings nur als gestrichelte Linie, während östlich dieses Staates «unter polnischer» bzw. «sowjetischer Verwaltung» gestanden wurde. Ich konnte mir – freilich aus anderen Gründen als Herr F. (zum Beispiel, weil meine Eltern bloß zu Zwecken der Gastarbeit und also nur vorübergehend in West-Berlin befindlich waren, weil es mir egal war, weil ich zu jung war, aber auch wegen der Tristesse «drüben») – nicht vorstellen, dass es dort ein besseres Leben geben könne. Ganz und gar nicht.
Ich erzähle all das ohne Sentimentalität. Gut, dass die ganze Scheiße vorbei ist – das antikommunistische West-Berlin genauso wie die DeDeEr. Gut, dass die polnische Westgrenze definiert und weitgehend akzeptiert ist. Ich erzähle es vor allem, weil mir das Wort «friedliche Revolution», das zurzeit aus naheliegenden Gründen ausufernd Verwendung findet, mittlerweile nicht nur auf die Nerven geht, sondern dazu führt, dass ich Sympathien für einen Staat aufbringen möchte, der – zu aller Glück – nicht mehr existiert.
Sonst würde ich jetzt unter Umständen rübergehen.