Koray Yılmaz-Günay
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«Opfer» als «Täter_innen»? Vom Umgang mit Diskriminierung, die von Diskriminierten ausgeht

Koray Yılmaz-Günay (2011): «Opfer» als «Täter_innen»? Vom Umgang mit Diskriminierung, die von Diskriminierten ausgeht. In: LesMigraS (Hg.): → Verbindungen sprechen. Empowerment in Bezug auf Rassismus und Transphobie in LSBTI-Kontexten, Seiten 15–19.

Dokumentation eines Vortrags bei der Veranstaltung «Verbindungen sprechen» zu Rassismus und Transphobie in LSBTI-Kontexten in der Berliner Werkstatt der Kulturen am 18. November 2010.

Es hat immer Menschen gegeben, die als Migrant_innen, als People of Color, als Schwarze, als Rom_nja/Sinti_zze, als Jüdinnen/Juden und als Menschen, die als ethnisch oder religiös «anders» gelabelt wurden, hässliche Erfahrungen gemacht haben, außerhalb queerer Szenen, immer aber auch innerhalb queerer Szenen. Für sie gab es noch nie den Luxus zu sagen: «Ich bin lesbisch/schwul und alles andere interessiert mich nicht.» Dieses «Mich» ging immer einher mit einem Begriff von «Szene», wo die sexuelle Orientierung im Vordergrund steht und Fragen von Geschlecht und Herkunft getrost als störend empfunden werden können.

Insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten sind so weiße schwule Männer ohne Trans*-Identität zu denjenigen geworden, die auch im Namen von Frauen, im Namen von Lesben, zum Teil auch im Namen von Trans*-Leuten und insgesamt unterschiedlichen Queers of Color sprechen. Dasselbe gilt – in viel geringerem Umfang – sicher auch für weiße Lesben ohne Trans*-Identität. Bitte hört euch den Rest an, mit dieser Einschränkung im Hinterkopf: Lesbische Zusammenhänge waren immer etwas sensibilisierter für gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen jenseits der sexuellen Orientierung – und Trans*-Zusammenhänge sind es wohl auch, selbst wenn aus letzteren, die noch relativ junge Szenen sind, noch nicht so viel Erfahrungswissen vorliegt. Und noch ein Wort zu den so genannten «Queers of Color»: Diese Bezeichnung stammt aus dem Englischen und ist selbst Ausdruck des Problems. Wir hängen so weit zurück in unseren Debatten, dass wir noch keinen deutschsprachigen Begriff für unsere Situation in Deutschland gefunden haben.

Heute findet hier eine Tagung statt, bei der es um Transphobie und Rassismus in queeren Kontexten geht. Ich wurde gebeten, auf das Thema Rassismus zu fokussieren und ich will – weil ich nicht so viel Zeit habe – nur ein paar Beispiele nennen, warum dies ein Thema ist, das uns alle beschäftigen sollte. Es gibt eine Wahrnehmung, dass das Thema mit Judith Butler auf die Tagesordnung gekommen sei, genaugenommen mit ihrer Ablehnung des Zivilcourage-Preises am Brandenburger Tor. Diese Wahrnehmung ist richtig und falsch. Für viele Gruppen und Einzelpersonen ist das Thema tatsächlich dort über eine Hürde gesprungen, aber für andere ist es wiederum ein sehr altes Thema. Schwarze Feministinnen, Queers of Color und andere haben seit Jahren und Jahrzehnten auf Mehrfachzugehörigkeiten und Mehrfachdiskriminierungen hingewiesen, ohne außerhalb enger Zirkel gehört zu werden. Ich möchte neben LesMigraS und GLADT vor allem ADEFRA nennen, aber auch die Lesbisch-Schwule Internationale. Viele von den Gruppen sind vor so langer Zeit entstanden und wieder eingegangen, dass die meisten hier nichts mit den Namen anzufangen wüssten…

I. Individuelle Ebene

Weil wir gleichgeschlechtlich begehren und/oder Transidentität haben, heißt das nicht, dass wir in anderen Bereichen außerhalb unserer gesellschaftlichen Position stehen. Selbstverständlich sind Partnerschaften, Hausprojekte, WGs und andere Formen des Zusammenlebens ein Ort, an dem wir mit rassistischen Bildern und Verhaltensweisen konfrontiert sein können. Die Art, wie wir Weiblichkeiten und Männlichkeiten wahrnehmen, aber auch was «Beuteraster» genannt wird, ist häufig genug orientiert an Bildern von Weißsein bzw. Nicht-Weißsein, die uns selbst und unsere Partner_innen als ein Exemplar einer Großgruppe erscheinen lassen. Das sind sehr subtile Mechanismen, die meistens unterhalb einer gewissen Schwelle bleiben. Sie äußern sich in Blicken, alltäglichen Verhaltensweisen, in Vorlieben und Abneigungen, die wir nicht als etwas Besonderes klassifizieren würden. Und trotzdem ist eine Fetischisierung im Allerprivatesten oft das Allerwiderlichste. Und eins möchte ich unterstreichen: Menschen, die sich für besonders reflektiert halten, sind nicht immer frei davon.

Der Lebensbericht «Fucking Germany: Das letzte Tabu oder mein Leben als Escort» von Cem Yıldız, einem türkeistämmigen Sexarbeiter, zeigt für den schwulen Kontext hervorragend, wie Männlichkeiten ethnisiert sind – und welche Bilder, Erwartungen und Begehrensweisen an den Schnittpunkten und den Überschneidungen von Sexualität, Herkunft und Geschlecht entstehen. Macht ist immer ein integraler Teil davon, sowie Herrschaft und Unterwerfung.

Diese Objektivierungen – die Tendenz, Menschen als Fetisch-Objekte zu sehen – bleiben nicht immer nur subtil. Und selten genug bekommen Queers of Color Geld dafür, dass sie als besonders exotisches Spielzeug gesehen werden. Hier spielt oft genug auch eine andere reale Macht hinein. Das wird vielleicht nirgends so deutlich wie beim Thema häusliche Gewalt. Kommt in einer Ehe oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft eine der Personen aus dem Ausland, ist die Möglichkeit der Erpressung, der Drohung und Beleidigung unmittelbar verknüpft mit der Perspektive von so genannten «aufenthaltsbeendenden Maßnahmen». Das Spielzeug muss dann im Zweifelsfall noch ein paar Monate warten, bis es sich aus einer widerlichen Situation befreien kann.

II. Community-Ebene

Unsere Szenen, die Orte also, an denen wir frei von Diskriminierung und Gewalt bleiben sollten, sind ebenso durchzogen von rassistischen Einteilungen von Menschen in «Wir» und «Ihr»/«die Anderen». Ich möchte das wiederum anhand einiger Beispiele erörtern, die ich für besonders augenfällig halte.

Orientiert an dem schwulen Rassisten Pim Fortuyn, der in den Niederlanden mit einem ausgesprochen rassistischen Wahlkampf auf Stimmenfang ging und erfolgreich war, haben in den letzten Jahren auch einige Schwule in Deutschland auf rassistische Kampagnen gesetzt, sind aber nirgendwo besonders erfolgreich gewesen. Am interessantesten ist der Fall des ehemaligen Justizsenators von Hamburg, der mit seiner Partei «Rechte Mitte HeimatHamburg» die CDU rechts überholen wollte. Seine Kampagne «Hamburg bleibt deutsch» wurde so wenig goutiert, dass die Partei 2008 ihre Existenz einstellte. Ähnliche Versuche der Profilierung lassen sich in Berlin ebenfalls beobachten. So warnte etwa der schwule Funktionär Bodo Mende im April 2010 bei einem Verbandstag seiner Organisation LSVD vor der drohenden «Überfremdung» deutscher Städte.

Schauen wir uns das queere Vereins- und Verbandsleben an, die Partys, Mahnwachen, Gruppen-Angebote, die Texte von Schlagern, die gespielt werden, die Demonstrationen, Bühnenprogramme, Konferenzen, die Profiltexte auf sozialen Plattformen im Internet, die Türpolitik in Diskos und viele andere Bereiche unserer Szenen – und diejenigen, die dort vorkommen und diejenigen, die dort nicht vorkommen –, so entsteht ein tristes Bild. Wir sehen, dass die meisten Räume weiß sind, dass die Angebote sich an einen Ausschnitt der Communitys richten, dass das Sprechen «im Namen von», dass die Zuschreibungen in Bezug auf Geschlecht, Sexualität, auf den Grad von Zivilisation, die Neigung zu Kriminalität etc. nicht besonders inklusiv sind. Es sind bestimmte Identitätsmodelle, die als Norm daherkommen – und normierend wirken. Eine Positionierung, die über die Ablehnung von Homophobie (und gelegentlich auch Transphobie) hinausgeht, fehlt fast durchgängig. Eine Sonderstellung nimmt hier sicher die Personalpolitik in Organisationen und Projekten ein. Wir sehen, dass einzelne Schwarze oder People of Color immer öfter als Aushängeschild gern gesehen sind, um Diversität sichtbar zu machen. Es ist eine Frage von Gerechtigkeit, dass Teams nicht rein weiß sind, deswegen ist das gut. Es ist aber nicht gut – und es wird niemals gut sein –, wenn genau diese Personen es dann immer sind, die zu Veranstaltungen geschickt werden, die mit den Medien reden oder das Thema Interkultur abdecken, die im Zweifelsfall gefragt werden, wenn es um eins «dieser» Themen geht. Das ist entwürdigend.

III. Diskurs-Ebene

In der gesamtgesellschaftlichen Debatte um Einwanderung ist das Verhältnis zu Homosexuellen zu einer Art Lackmus-Test für Integration geworden. Neben der allgemeinen Debatte, die immer noch sehr interessiert ist an den Rechten von Frauen und Homosexuellen im Islam, gibt es auch manifeste Erscheinungsformen, mit denen Politik gemacht wird. Insbesondere an den Fällen schwulenfeindlicher Gewalt, die es in die Presse schaffen, können wir verfolgen, wie die Wahrnehmung von Homophobie immer weiter eingeschränkt wird. Schon über lesbenfeindliche Gewalt wird viel weniger berichtet, weil sie seltener im öffentlichen Raum stattfindet – und transfeindliche kommt fast gar nicht vor, wenn wir uns die öffentlichen Debatten anschauen. Parallel werden aber auch die so genannten «Täter_innen»-Gruppen immer weiter eingeschränkt. Homophobie ist heutzutage nicht mehr Gesetze, Strukturen, die Lehrpläne in Schulen und die Werbung von Media Markt – Homophobie sind heute Nazis oder Jugendliche mit Migrationshintergrund.

Daher vielleicht die Sympathie der baden-württembergischen Landesregierung, die einbürgerungswilligen Migrant_innen, die als muslimisch identifiziert wurden, intimste Fragen stellte. Sie wollte nicht nur wissen, was Betroffene machen würden, wenn ihnen zur Kenntnis gelangt, dass Nachbar_innen Bomben bauen, sondern auch, wie sie reagieren würden, wenn die Tochter so und so leben wollte oder der Sohn sich als schwul outen würde. Über Nacht war also sexuelle Selbstbestimmung zu einem Kernbestand «unserer» Kultur geworden. Und so einfach kann es ja wohl nicht sein, Teil von «unserer» Kultur zu werden.

Offensichtlicher ist das Konkurrenzverhältnis, in das Rassismus und Homophobie gerückt werden, an der Debatte um die Ergänzung des Antidiskriminierungsparagraphen im Grundgesetz. Die Regierungsfraktionen wollten Artikel 3 des Grundgesetzes nicht um das Merkmal «sexuelle Identität» erweitern, weil sie befürchteten, das würde «die Integration der Muslime» erschweren. Unglücklich lief im Jahr 2010 dann nur, dass sich muslimische Verbände zu Wort gemeldet haben und darauf hinwiesen, sie hätten gar nichts gegen so eine Ergänzung. Selbstverständlich wurde Artikel 3 nicht ergänzt – denn selbstverständlich gibt es kein Interesse an der einen oder an der anderen «Minderheit». Gut sind beide nur, solange sie sich gegeneinander ausspielen lassen, damit sich ja nichts gravierend ändert.

Lassen wir uns nicht davon täuschen, dass Alice Schwarzer heute in der «Bild»-Zeitung schreiben darf. Oder davon, dass manche Rechtspopulist_innen bei ihrer «Verteidigung» des «jüdisch-christlichen Abendlandes» auch ein gutes Wort für die Homosexuellen einlegen. Die binäre Einteilung von Menschen in ein rassistisches «Wir» und «Die» kommt langfristig sehr gut ohne sexuelle und geschlechtliche Devianzen aus.

IV. Zusammenfassung

Unsere Szenen erfüllen häufig genug ihre Schutzraum-Funktion nicht, das heißt, dass Diskriminierung und Gewalt auf unterschiedlichen Ebenen sich auch dort fortsetzen. Mehrfachdiskriminierung ist damit nicht nur ein Phänomen, das von der Mehrheitsgesellschaft erzeugt wird, sondern auch innerhalb unserer Communitys. Die Frage, welche Privilegien wir besitzen – und welche uns vorenthalten werden –, ist auch in unseren Szenen eine, die über Repräsentation entscheidet. Sie entscheidet darüber, ob wir selbst in unserem Namen sprechen können und dürfen – oder ob wir dulden sollen, dass andere das tun, mit zum Teil verheerenden Folgen.

Und: Homophobie und Rassismus sind zu konkurrierenden Ausschlussmechanismen geworden, weil insbesondere schwule Funktionäre auf einen Mainstream setzen, in dem nun ein paar von ihnen mitmischen dürfen. Dass das ausnahmslos weiße Schwule sind, muss ich nicht extra betonen. Weder funktioniert das besonders gut, wie wir an den homophoben Aussagen von Ministerin Schröder sehen oder an der Debatte um Artikel 3 des Grundgesetzes, noch wird damit eine queere Politik den vielen Leuten mit Mehrfachzugehörigkeiten gerecht.

Dieses Spiel von Teile und Herrsche sollte aber ohnehin niemand mitspielen. Wir sollten lernen, die Überschneidungen unterschiedlicher Diskriminierungsformen in den Vordergrund zu rücken und für eine insgesamt menschlichere, diskriminierungsarme Gesellschaft zu kämpfen. Die Bedingungen dafür – Selbst-Empowerment insbesondere – und die Bedingungen für eine seriöse Verbündeten-Arbeit stehen heute hier auf der Tagesordnung. Die Art, wie wir «unsere» Probleme definieren, gehört sicher auch dazu. Intersektionalität wirkt wie ein Zauberwort, das uns in den letzten Jahren aus der Akademie ereilt. Dass sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität viel mit der Konstruktion von Weißsein und Nicht-Weißsein zu tun haben – und dass spezifische Ausformungen von Geschlecht und Sexualität immer auch ein Klassenphänomen sind, predigen indes seit Jahrzehnten zahllose Feminist_innen und Queers of Color. Es ist eine Haltung zuallererst, die von ihnen zu lernen wäre. Alles andere steht jetzt auch schon in schlauen Büchern. Denn, und das meine ich ganz erst: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es…

Vielen Dank den Organisierenden für die Einladung – und vielen Dank euch für die Aufmerksamkeit!

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