Koray Yılmaz-Günay (2020): Progressive Männlichkeiten in der Arbeit mit Jungen. In: → Kompetenzstelle intersektionale Pädagogik (Hg.): → Fucktencheck. Intersektionale Perspektiven auf Sexualpädagogik, Seiten 69–72.
Ohne Zweifel ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Diversifikation von Männlichkeiten zu beobachten. Neben Erhebungen, wie hoch der Anteil von Frauen24 in Führungspositionen (unter Staatsoberhäuptern, Regierungschef_innen, Manager_innen etc.) ist, wie Mädchen gestärkt werden können (Girls Day, Förderprogramme für weibliche Studierende in MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, etc.), gibt es bis in konservative Spektren hinein Debatten um Metrosexualität, die Vereinbarkeit von Kindererziehung und Arbeitswelt – so auch zu Vätern in Elternzeit –, Kampagnen zu Männergesundheit etc. Diese Veränderungen gingen historisch vor allem im Gefüge des Streits für mehr Gleichberechtigung, also als Reaktion auf feministische Errungenschaften vonstatten. Anders als in vergangenen Jahrzehnten ist Gleichstellung – vor allem die von cis Frauen – aber immer mehr zu einem Kampf innerhalb von Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen geworden. Auf der Straße findet demgegenüber feministische Bewegung kaum mehr statt. Dort haben sich stattdessen populistisch argumentierende Demonstrationen gegen «Gender-Wahn», «Frühsexualisierung» und Schwangerschaftsabbrüche festgesetzt, die so viele Menschen mobilisieren wie sonst nur Einwanderungsfeindlichkeit und Rassismus.
Während das Feld von «Geschlecht» also nach wie vor umkämpft ist, finden Diskursverschiebungen hin zu seiner Pluralisierung – etwa für einen menschenrechtskonformen Umgang mit Trans* und Inter* – in langjährigen gerichtlichen Auseinandersetzungen statt, die von Einzelpersonen durchgefochten werden.
Geschlechterreflektierende Arbeit mit Jungen
Vor einem solchen gesellschaftlichen Hintergrund haben sich auch geschlechterbewusste Ansätze in der pädagogischen und sozialen Arbeit mit Jungen, männlichen jungen Erwachsenen (und insgesamt Männern
in pädagogischen Handlungsfeldern) herausgebildet. Die gemeinsame Grundlage für «Mädchen-» und
«Jungenarbeit» ist in → SGB VIII § 9 – dem früheren Kinder- und Jugendhilfegesetz – festgehalten, in dem es heißt:
§ 9 Grundrichtung der Erziehung, Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen
Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben [der Jugendhilfe] sind […] die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern.
[Das Gesetz ist nach Veröffentlichung dieses Artikels novelliert worden. Der betreffende Satz heißt nun: § 9 Grundrichtung der Erziehung, Gleichberechtigung von jungen Menschen
Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind […] die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen, Jungen sowie transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern.]
Aus der gesellschaftlichen Ungleichheit von Frauen/Männern folgen allerdings unterschiedliche Herangehensweisen. Während die pädagogische Arbeit mit Mädchen auf die Aufdeckung von Benachteiligungen und Gewalt zielt – bzw. deren Abbau und Vermeidung, etwa durch systematische Stärkung und Diversifizierung von Möglichkeiten –, geht es in der Arbeit mit Jungen um Macht- und Diskriminierungssensibilität aus der Perspektive der Privilegierten, um die Weichen für andere Männlichkeiten zu stellen. Während also auf der einen Seite Minderförderung kompensiert, Sichtbarkeit vermehrt, veraltete Rollenbilder aufgebrochen und neue Räume und Möglichkeiten geschaffen werden sollen, die Jungen wie selbstverständlich zugestanden werden, geht es in der Jungenarbeit auf der anderen Seite darum, Aggressivität, sexistische Verhaltensweisen und gewalttätiges Auftreten und Handeln nicht entstehen zu lassen bzw. zu verlernen. Denn eine systematische Benachteiligung aller Jungen existiert nicht. Vermeintliche Selbstverständlichkeiten wie «Das sind Jungen, Raufen gehört zum Erwachsenwerden dazu» oder «Natürlich spielen sie Fußball» gehören in ein Repertoire, das eine typische «männliche Sozialisation» zum Naturgesetz erklärt und damit verhindert, dass solche Bilder von Mannsein für Jungen sichtbar und verhandelbar werden, um eigene Zugänge zu Geschlecht, Sexualität, Partnerschaftsvorstellungen, Berufswahl etc. zu finden. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit formuliert deswegen:
Jungenarbeit ist eine Haltung und ein Beziehungsangebot in einem pädagogischen Kontext. Sie bezieht sich grundlegend auf die Lebenswelten von Jungen und jungen Männern und orientiert sich an ihren Ressourcen. Ziel ist es, Jungen und junge Männer wahr- und ernst zu nehmen und mit ihnen Partizipation zu leben. Jungen und junge Männer sollen darin unterstützt werden, ihre Geschlechterbilder zu erweitern, darauf bezogene Handlungs- und Bewältigungskompetenzen sowie die Fähigkeit zu einer konsensorientierten Auseinandersetzung zu entwickeln. Emanzipatorische Persönlichkeitsentwicklung, Selbstverantwortung und die reflexive Betrachtung der eigenen Beteiligung an der Konstruktion von Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse sind hierfür notwendig. Jungenarbeit zielt auf die Gleichwertigkeit der Differenzen zwischen und innerhalb der Geschlechter. Voraussetzung ist es, Normalitäten und Normierungen des Alltags aufzudecken und kritisch zu reflektieren.
→ Positionspapier der BAG Jungenarbeit (2011 [Zugriff: 2020–06–06])
Zu den Normalitäten und Normierungen des Alltags zählen aber auch tatsächlich vorhandene Benachteiligungen, die über die Lebensbedingungen und das Fortkommen entscheiden (etwa Armut, Rassismuserfahrungen, Behinderten-, Trans- oder Schwulenfeindlichkeit) und dazu führen, dass manche Jungen durchaus einer institutionellen Fürsprache und Unterstützung bedürfen.
Männlichkeit ≠ Männlichkeit
Wichtig ist dabei die Feststellung, dass Männlichkeit nicht immer so war – und folglich auch nicht immer so bleiben muss –, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort gelebt oder wahrgenommen wird. In der Sozialwissenschaft wird spätestens seit den 1980er Jahren das Wechselverhältnis von Macht/Gewalt und Geschlecht in die Debatte gebracht. Geschlechterverhältnisse – und so auch die Herrschaft von Männern über Frauen – finden in konkreten Situationen statt, in denen es weder «die» Frauen noch «die» Männer gibt. Vielmehr werden sie immer wieder in Frage gestellt und neu-hergestellt. Insbesondere die Soziologin → Raewyn Connell weist darauf hin, dass Männlichkeit zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Milieus verschieden entsteht, weil soziokulturelle Bedingungen zu unterschiedlichen Geschlechterbeziehungen und entsprechend auch Männlichkeiten führen. Auch wenn das Patriarchat immer erhalten wird, ist es also nicht immer und überall dasselbe Patriarchat. Connell unterscheidet eine hierarchische Anordnung, in der die «patriarchale Dividende» abnehmend verteilt wird und in der es deswegen ein «begründetes» Interesse gibt, sich von weiter «unten» stehenden Männlichkeiten zu distanzieren:
- hegemoniale Männlichkeit: am meisten privilegiertes Modell, das die Norm von «Männlichkeit» in einer Gesellschaft darstellt und am besten an das jeweilige System eingepasst ist – sie ist im Besitz ökonomischer und politischer Macht, heteronormativ ausgerichtet, nicht behindert, bereit zum Einsatz von Gewalt etc.;
- komplizenhafte Männlichkeit: größte Gruppe, die am nächsten an die aktuelle Norm kommt, aber dennoch gezwungen ist, im Alltag Kompromisse mit Frauen zu schließen;
- marginalisierte Männlichkeit: verschiedene Männlichkeiten, die beispielsweise aufgrund ihres sozioökonomischen Status und/oder rassistischer Diskriminierung und/oder einer Behinderung (vgl. den Vortrag → «Passives Akzeptieren» und «heroische Anstrengung» – zum Zusammenspiel von Behinderung und Geschlecht von Swantje Koebsell am 03.02.2009 im Rahmen der ZeDiS-Ringvorlesung «Behinderung ohne Behinderte!? Perspektiven der Disability Studies» [20.06.2020]), des Alters etc. mit Stereotypen besetzt sind;
- untergeordnete Männlichkeit: Männlichkeiten und Verhaltensweisen, die aufgrund ihrer Nähe zu Weiblichkeiten die Überordnung aller Männlichkeiten in Gefahr bringen, etwa effeminierte (verweiblichte) Schwule oder Männer, die für schwul gehalten werden.
Die geschlechterreflektierende Arbeit mit Jungen/jungen Männern ist kein eigenständiger Ansatz, der in Sonderformaten angesiedelt sein sollte, auch, weil die intersektionalen Verwobenheiten von Sexismus mit Rassismus, Klassenverhältnissen, Alters- und Körperdiskriminierung eine solche Isolierung nicht gestatten. Michael Tunç (2018) schlägt mit dem Begriff der → «progressiven Männlichkeit(en)» [2020–06–20] etwas vor, das den Gegebenheiten einer komplexen Gesellschaft besser gerecht werden könnte als die traditionelle Geschlechterforschung, die insbesondere als Männerforschung noch Schwierigkeiten hat, intersektional zu sein:
Männer können bezüglich ihres Alters, der sozialen Lage, sexuellen Identität, ethnisch- kulturellen Zughörigkeit, ihrer körperlich-geistigen Fähigkeiten usw. gesellschaftlich so positioniert sein, dass sie Ohnmacht, Dominanz, Exklusion und Gewalt in komplexen Ungleichheitsverhältnissen erleben und so motiviert sein, sich anders als an hegemonialen Männlichkeiten zu orientieren, sich zu emanzipieren und Entwicklungen progressiver Männlichkeiten in Gang zu setzen. Ich schlage daher vor, progressive Männlichkeiten als eigenständiges Deutungsmuster der Männlichkeitsforschung
zu verstehen, auf das sich Männer bestimmter Milieus und in bestimmten Kontexten beziehen, um Lebensentwürfe zu gestalten, die mit möglichst wenig Macht über andere Menschen und möglichst geringer Orientierung an hegemonialen Männlichkeiten umsetzbar sind.