Koray Yılmaz-Günay
Buchbeiträge

Sexuelle Selbstbestimmung als Topos im antimuslimischen Rassismus

Koray Yılmaz-Günay (2013): Sexuelle Selbstbestimmung als Topos im antimuslimischen Rassismus. In: Pether Bathke, Anke Hoffstadt (Hg.): → Die neuen Rechten in Europa. Zwischen Neoliberalismus und Rassismus. Köln: PapyRossa, Seiten 255–268.

Die Anschläge vom 11. September 2001 haben entscheidend dazu beigetragen, nicht nur den Diskurs zur «Sicherheit» massentauglich zu machen; die immensen Einschränkungen von Grundrechten und die damit einhergehende Ausweitung von Kompetenzen von Polizeibehörden und Geheimdiensten wären vorher sicher nicht so einfach zu haben gewesen. Die Konstruktion einer homogenen Gruppe von «Muslimen» hat dabei eine entscheidende Rolle gespielt – es wäre kaum möglich gewesen, den «Kampf der Kulturen» als neues Paradigma internationaler wie deutscher Politik zu etablieren, ohne eine Entsprechung der «islamischen Welt» in der Bundesrepublik zu identifizieren. Vom linken Spektrum über die sagenumwobene «Mitte der Gesellschaft» bis weit in die politische Rechte reicht seitdem die Beschäftigung mit «den Muslimen»: Wer sind sie? Was wollen sie? Wer spricht (was) in ihrem Namen? Der Umgang mit Homosexualität und die Situation vor allem von schwulen Männern hat in diesem Prozess eine wichtige Rolle gespielt. Trotz aller bestehender Ungleichheiten im Hier und Jetzt sind im Verlauf von zehn Jahren akzeptierende Haltungen zu gleichgeschlechtlichen Lebensweisen zum Lackmustest für Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen Wertegemeinschaft geworden, die trotz des fehlenden «Ostens» weiterhin «der Westen» genannt wird – so sehr, dass die Frage, ob jemand «integriert» ist in dieses neue «Wir», sich heute auch darüber entscheidet, was sie/er von Homosexuellen hält. Gerade in der Konkurrenz zu «den Muslimen» haben die sogenannten Homo-Rechte eine bemerkenswerte Karriere gemacht. Wie ist das zu erklären?

1. «Kampf der Kulturen»?

Neben dem wirtschaftlichen Erstarken der Volksrepublik China geht Samuel P. Huntington bereits in den beginnenden 1990er Jahren davon aus, dass es zu einem Wiedererstarken «des Islams» kommen wird und dass die Beziehungen «des Westens» sich insbesondere mit diesen beiden «Kulturkreisen» als schwierig erweisen werden (Huntington 2002). In dem maßgeblich von ihm entwickelten Bedrohungs-Szenario ersetzt ein stark identitär verstandener, aber kaum definierter Kultur-Begriff politische, militärische, ideologische Auseinandersetzungen, die zuvor als Ordnungsschemata benutzt worden sind.

Wurden Huntingtons Thesen bis Ende der 1990er Jahre noch heftig abgelehnt, scheint ihm die gesellschaftliche Wirklichkeit seit dem 11. September uneingeschränkt Recht zu geben. Aus dem Drehbuch ist ein Bühnenbild geworden. Identitätsstiftung funktioniert nach dem Ende des West-Ost-Konflikts für große Teile der Gesellschaft vor allem über einen (Rück-) Bezug auf Herkunft, traditionelle Werte und Religion. Ob in «interreligiösen Dialogen», in der Deutschen Islam-Konferenz oder beim x-ten Integrationsgipfel: Überall sprechen Menschen und Organisationen, die «Kulturen» oder «Religionen» repräsentieren sollen, über die Verhältnisse in einer Gesellschaft, die vermeintlich keine Widersprüche mehr kennt außer ethnischer und religiöser Verschiedenheit. Transnationale Identitäten («der Westen», «Europa», «das Abendland») haben dabei wieder an Bedeutung gewonnen. Machtgefälle und Konflikte innerhalb der sogenannten Kulturblöcke wie etwa zwischen den USA und der EU im Fall der «westlichen Christenheit» oder zwischen Iran und Saudi Arabien in der «islamischen Welt» trüben diese konstruierten Formationen so wenig wie die Frage, ob es denn wirklich ein umfassendes Zusammengehen und eine Identität von geographischem Raum und – wie auch immer verstandener – Kultur gibt.

Mit der territorialen Abgrenzung nach außen geht auch eine Neuformation nach innen einher. Ähnlich wie es Huntington für die USA beschrieben hat (Huntington 2004), war auch in Europa und in Deutschland eine Neu-Prägung der nationalen Identität von Nöten. Was weder die Einheit 1990 noch die Globalisierung oder die EU-Integration geschafft haben, wurde nach dem 11. September zum Gebot der Stunde. Die Einwanderung aus der Türkei, aus arabischen Ländern und Gebieten, dem Balkan, dem Iran und anderen Staaten im Mittleren Osten – bis dahin vor allem als «türkisch», «bosnisch», «palästinensisch» etc. beschrieben – wurde quasi über Nacht zu einer Einwanderung von «Muslimen». Politische Flüchtlinge, ehemalige «Gastarbeiter_innen» sowie ihre Nachkommen, Bürgerkriegsflüchtlinge, aber auch die neueinwandernden Hochqualifizierten wurden zusammengefasst, Geschlecht, Klasse und andere Analyse-Kriterien und Einflüsse hatten kaum mehr Geltung. Vom Verfassungsschutz bis hin zur lokalen Initiative gegen Rechts erhielten der Koran, die Prophetenüberlieferungen und die Aussagen von Imamen einen Stellenwert, den sie weder für die meisten Migrant_innen aus mehrheitlich muslimischen Ländern noch für deren politische Organisationen je hatten.

Antisemitismus, Sexismus und Homophobie waren, zeitlich zwar leicht versetzt, aber doch alle quasi von Anfang an, elementare Elemente in der Auseinandersetzung um die in dieser Zeit von Nicht-Muslimen konstruierte Gruppe der «Muslime». Während innermuslimisch weiterhin ethnische, sprachliche, konfessionelle und andere Trennungen die Szenerie bestimmten, war es für die Mainstream-Medien, den Staat und andere Quellen der herrschenden Meinung nur eine Frage der Zeit, bis die Identität sehr heterodoxer Vereine und Gemeinden in Deutschland hergestellt war. Die Verbindungen dieser Gruppe, die doch faktisch sehr unterschiedliche Menschen und Glaubensgemeinschaften homogenisierte, zu «den Muslimen» im Rest der Welt erfolgte entsprechend ohne jede Abwägung gesellschaftlicher Positioniertheiten: Die mit realer Macht ausgestatteten Regime und Bevölkerungsmehrheiten in einem Land wurden ohne Scheu mit nicht- und unterprivilegierten Bevölkerungsminderheiten in einem anderen Land verglichen, zusammengefasst und in eine Schublade gesteckt (vgl. zur Konstruktion «der Muslime» auch Spielhaus 2011). Jeder neue Anschlag, der auf das Konto des politischen Islam ging, jede antisemitische Verlautbarung, aber auch die Debatten um die Verschleierung von Frauen, Zwangsverheiratungen, sogenannte Ehrenmorde und andere Erscheinungsweisen des Patriarchats befeuerten die Debatten über «die Muslime», an der jenseits einiger «Kronzeug_innen» vor allem Nicht-Muslim_innen beteiligt waren (zu (ex-) muslimischen Frauenrechtler_innen, die zur Legitimation antimuslimischer Diskurse bemüht werden vgl. Shooman 2011). Ob es sich um eine im Zweifelsfall mit Staatsgewalt durchsetzbare Mitteilung, die Veröffentlichung einer innermuslimisch isolierten Sekte oder die Meinung von kaum qualifiziertem Personal einer deutschen Hinterhof-Moschee handelte, spielte keine Rolle. Eine Erwiderung aus muslimischer Perspektive ließ in Deutschland auch deswegen lange auf sich warten, weil es zwar eine Vielzahl von (Dach-) Verbänden, aber keine allseits akzeptierte Autorität gab, die im Namen «der» Muslime hätte sprechen können.

(Es sind, jenseits von Gedenktagen und einzelnen skandalisierten Aussagen von Politiker_innen, gerade im pädagogischen Bereich, heute vor allem auch «Muslime» – wo nicht explizit auf «Palästinenser_innen» und «ihren» Nahost-Konflikt Bezug genommen wird –, die als Hauptquelle aktueller Feindschaft gegenüber jüdischen Menschen, Orten, Institutionen und dem jüdischem Leben allgemein gelten. Antisemitismus ist – wie Sexismus und Homophobie – in großem Maße externalisiert worden, wer ihn heute besprechen will, muss wenigstens über grundlegende Kenntnisse koranischer Texte und/oder der Prophetenüberlieferungen sowie der Geschichte des Territorialkonflikts in Israel/Palästina verfügen. Angesichts der gesellschaftlichen Dimension des Antisemitismus, die ganz ähnlich wie Sexismus und Homophobie keine ethnischen, religiösen oder politischen Grenzen kennt, kommt der Fokus auf einzelne Bevölkerungsgruppen einer Verharmlosung gleich.)

So wie die faktische Heterogenität der muslimischen Organisationen-Landschaft im öffentlichen Bild des Islam nicht auftaucht, gehen auch Widersprüche in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft verloren. So wie der rassistische Ausschluss von jeher gleichzeitig die Funktion hat zu regulieren, wer dazugehört, besorgte die Erfindung einer Quasi-Ethnie der «Muslime» auch den Kitt, der die unteren und mittleren Schichten an die Herrschaft binden soll – eine Herrschaft, die diesen Schichten doch mit immer neuen Kürzungen, Streichungen und Flexibilisierungen sehr reale Sorgen und Nöte aufbürdet; schon weit vor den Schulden-, Finanz- und Euro-Krisen im Übergang zum zweiten Jahrzehnt galt es, Reallohn-Kürzungen, (Lebens-) Arbeitszeitverlängerungen, Spitzensteuersatz-Senkungen und viele andere Einschnitte zu verkaufen. Vielleicht nicht ganz zufällig debattierten die für die Nation Zuständigen gerade zu dem Zeitpunkt über ein «Deutschland», das sich vermeintlich «abschafft», als in kurzer Frequenz nicht nur immer neue Milliarden zur Rettung von Banken und Konzernen fällig wurden, sondern auch ganz reale Errungenschaften ganz real vernichtet wurden. Der «Kampf der Kulturen» ist vor allem einer, der der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu ihren für sie profitablen Einschnitten verhilft und dem Imperialismus neuerliche Legitimität verschafft.

2. Warum ist es wichtig, was der Islam zum Thema Homosexualität sagt?

Vor dem Hintergrund eines Islam-Bildes, das an christlichen Großkirchen geprägt war (eine einheitliche Lehrmeinung, die mit dem hierarchischen Aufbau korrespondiert), entwickelte sich auch die Debatte über die Frage, was «der Islam» zum Thema Homosexualität sage. Ausgehend von einem Identitätsmodell, das sich vor allem in Schwulen-Szenen in den Großstädten Nordamerikas und Westeuropas entwickelt hatte, erschien die Frage vollkommen legitim. Eine soziale Bewegung, die sich seit den 1990er Jahren zunehmend selbst als quasi-ethnische Gruppe verstand und sich dabei von ihren systemüberwindenden Forderungen verabschiedet hatte, konnte ein «Wir» ausprägen, zu dem sich andere «Wirs» so oder anders verhielten (vgl. zur Übernahme des (ethnischen) «Community»-Konzepts Wolter 2011). Es waren abnehmend Kapitalismus und Patriarchat, die es zu überwinden, und zunehmend «Migrant_innen» und bald «Muslime», die es durch «Fördern und Fordern» [!] (zu dieser aus dem Zusammenhang der «Hartz-Reformen» vertrauten Vokabel vgl. z.B. LSVD 2006) zum Respekt und zur Anerkennung gegenüber «uns» zu erziehen galt. Ungeachtet der Erfahrungen der zweiten Frauenbewegung und auch der durchaus rassismuskritischen Tendenzen in der Lesbenbewegung setzte sich hier die eine Strömung in der Schwulenbewegung durch, die heute zu feierlichen Anlässen auch schon einmal vor der «Überfremdung» deutscher Städte warnt (vgl. Ruder 2010).

Es war ein Leichtes, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Das gesellschaftliche Interesse an «den Muslimen» musste nur um einen Punkt erweitert werden – neben Terrorismus, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit musste die Gewalt gegenüber schwulen Männern gleichberechtigt werden. Angesichts des günstigen gesellschaftlichen Klimas ist diese Erweiterung nicht schwergefallen: Die rot-grüne Bundesregierung hatte im Jahr 2001 mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz das erste Rechtsinstitut zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare eingeführt – nach der Aufhebung des anti-schwulen § 175 im Strafgesetzbuch in den Augen vieler ein Meilenstein der Emanzipationsbewegung. (§ 175 StGB wurde im Zuge der Rechtsangleichung mit der DDR 1994 aufgehoben und 1998 ganz gestrichen. Die DDR hatte bereits 1988 einen entsprechenden Paragraphen ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.) Dass es sich dabei trotz des schnell gefundenen Namens «Homo-Ehe» nur um ein Zweite-Klasse-Modell handelte – und um ein Sondergesetz, das die «Andersartigkeit» gleichgeschlechtlicher Partnerschaften eher herausstellte als verminderte – störte die zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen Teile der Schwulenbewegung schon nicht mehr. Auf dem Weg in den Mainstream war die Entsolidarisierung von der Frauen- und Lesbenbewegungen schon vollzogen, aber auch der Verzicht auf alles vermeintlich Nicht-Respektable (Arme, Sexarbeiter_innen, Trans-Personen etc.).

Die Frage, was «der Islam» zum Thema Homosexualität, zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, zur Liebe zwischen Personen desselben Geschlechts etc. sage, beschäftigt vor allem schwule Organisationen, Zeitschriften, Diskussionsveranstaltungen und Gastwirtschaften in der Umgebung von migrantischem Kleingewerbe seit Ende des Jahres 2001 immens. Dirk Ruder weist in seinem Beitrag «Bombenstimmung in Köln» (Ruder 2003) nach, wie tief die Identifikation mit dem Staat, der einen schon schützen werde, und die Konstruktion «muslimisch = terroristisch» im Jahr 2003 bereits in die Szene eingesickert waren. Dass vor allem mit der Skandalisierung von Gewaltvorkommen, bei denen (männliche) Jugendliche mit Migrationshintergrund als Täter in Frage kamen, die Opposition zu «den Muslimen» bewusst forciert wurde, kann folglich als konsequenter Schritt zum Mainstream hin gelesen werden. Das ehrliche wie das vorgeschobene Interesse an zentralen Texten und Überlieferungen der islamischen Theologie und Religionspraxis funktioniert nur deswegen so gut, weil es eine gesellschaftlich konstruierte Gruppe vorfindet, der die unwandelbare Gleichheit über Jahrhunderte, Kontinente und Gesellschaftssysteme bereits mit der Schaffung eingeschrieben wird. Ansonsten wäre die Frage zu stellen, was eine atheistische Akademikerin in Indien, wo mehr Muslim_innen leben als in der Türkei, mit einem Diktator in Vorderasien, einem erschossenen Demonstranten in Tunesien oder einer jungen Kopftuchträgerin verbinden könnte, die keinen Ausbildungsplatz in einer Parfümerie in einer westdeutschen Stadt findet. Klasse, Alter, Geschlecht, Hautfarbe, sozialer Status und viele andere Dinge, die nicht nur die Religiosität determinieren, geraten dort aus dem Blick, wo nach theologischen Quellen für Einstellungen oder Verhaltensweisen gefragt wird – genauso wie dadurch die ethnische, religiöse und weltanschauliche Vielfalt in mehrheitlich muslimischen Ländern (und den entsprechenden Migrant_innen-Gruppen) geleugnet wird. Die Lüge vom «Kampf der Kulturen» wird bereitwillig zur Grundlage der eigenen Emanzipationsbewegung erkoren – auch um der eigenen «Kultur» die tatsächlich oder vermeintlich subversive Sexualität als respektabel unterjubeln zu können. Die Frage nach der islamischen Haltung zur Homosexualität erhält ihren Sinn dadurch, dass es Homosexuellen «bei uns» selbstverständlich besser geht.

3. «Muslime gegen Schwule?»

Es sind zweifelsohne der öffentliche Raum in den Innenstädten und die Sphäre der Öffentlichkeit im Weiteren, um die es bei dem konstruierten Gegensatz zwischen Schwulen und Muslim_innen geht. Es ist das gesellschaftliche Bild von «den Schwulen», die von «den Muslimen» bedroht werden. Das Verhältnis dieser bei näherer Betrachtung sehr unterschiedlich verfassten «Communitys» beschäftigt ein Publikum, das sich bei wenigen Randthemen in dieser Breite zusammenfindet. Die Frage, wie Homophobie (und Sexismus) bei «Muslimen» abgebaut werden können – und wie ein Gemeinwesen auf diese Phänomene zu reagieren habe – beschäftigt nicht nur Pädagog_innen und Bündnisse für Demokratie, sondern hat auch Eingang gefunden in Verwaltungshandeln und in die Wahlprogramme politischer Parteien. «Kultur» und «Religion», so viel steht überall fest, müssen integraler Teil der Bearbeitung sein. Dass eine Analyse, die von der (Herkunfts-) Kultur (der Eltern oder Großeltern) ausgeht, nur zu kulturalistischen Lösungen kommen kann, die sowohl Individualität als auch Gesellschaftlichkeit spotten, erscheint – und das ist bei einem Teil der Akteure wirklich seltsam – den wenigsten als Problem. (Zum «Prüfstein Frauenfrage» in den Auseinandersetzung mit «dem» Islam und der Gleichberechtigung von Frauen als Voraussetzung für seine «Integration» in Deutschland vgl. Rommelspacher 2010). Dabei wäre es umso wichtiger zu erfassen, welche sozialen Rahmenbedingungen es für bestimmte Menschen (vor allem männliche Jugendliche) durchaus funktional machen, die eigene Identität auf der auch gewalttätigen Unterdrückung von vermeintlich «anderen» aufzubauen. Es wird nicht erst auf den zweiten Blick sichtbar werden, dass die normengerechte Sozialisation zum «Mann» unabhängig von Herkunft und Religiosität sehr viel häufiger zu körperlicher Gewalt gegen Personen und Sachen führt als die Sozialisation zur «Frau». Und es wird in der Folge nicht verwundern, dass die Klassenzugehörigkeit (und andere Faktoren) voneinander unterscheidbare Männlichkeiten produziert. Auch für die «höheren» Söhne gehört es zum guten Ton, Homosexualität abzulehnen, nur beherrschen sie sozial erwünschtere Verhaltens- und Redeweisen, um ihrer Einstellung Ausdruck zu verleihen.

Besonderes Aufsehen erlangte 2005/2006 der als «Muslim-Test» berühmt gewordene Gesprächsleitfaden in Baden-Württemberg. Staatsangehörige von Mitgliedsstaaten der Organisation für islamische Zusammenarbeit (vormals Islamische Konferenz) und Muslim_innen aus anderen Staaten werden seitdem, wenn sie sich einbürgern lassen wollen, nicht nur Fragen zu Terrorismus, Antisemitismus und religiösen Auffassungen gestellt, sondern auch zu ihren Vorstellungen zu Weiblichkeit/Männlichkeit sowie zur Akzeptanz von Homosexuellen. Pikant ist, dass der Gesprächsleitfaden in einem Bundesland entstanden ist, dessen besonders konservative Regierung sich nicht gerade verdient gemacht hat um die Emanzipation von Frauen und darüber hinaus auch stets bemüht war, die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu verhindern bzw. zu verschleppen. Noch pikanter vielleicht ist aber die Forderung des Lesben- und Schwulenverbandes in Berlin-Brandenburg, der die Einführung eines solchen Tests auch in der Hauptstadt forderte.

Es muss verwundern, dass Diskriminierung und Gewalt immer weniger als soziale Phänomene gedeutet werden. Da sich die Debatte um Homophobie – jenseits weniger Thematisierungen von rechter Gewalt und katholischer/christlich-fundamentalistischer Diskriminierung – vor allem auf die Vorkommen schwulenfeindlicher körperlicher Gewalt im öffentlichen Raum beschränkt, verschwinden die strukturellen und institutionellen Dimensionen von Homophobie. Es soll reichen, dass Angela Merkel Bundeskanzlerin und Klaus Wowereit Regierender Bürgermeister von Berlin werden kann, um zu belegen, dass in «unserem» Land die Geschlechter gleichberechtigt und alle sexuellen Orientierungen anerkannt sind. Die Trägerschicht einer so verstandenen Homophobie müssen vor allem (männliche) Jugendliche mit Migrationshintergrund sein, die außerhalb des «Wir» stehen – und damit ein ums andere Mal wieder dorthin gestellt werden. Wo die wirkmächtigen Gesetze, Verwaltungspraxen, Einstellungs- oder Kündigungspolitiken, die Lehrplan-Erstellungen etc. bleiben, wenn es nur noch um vermeintlich «mitgebrachte» Feindschaften geht, muss nicht mehr beantwortet werden.

Es gibt, nicht nur in Bezug auf Geschlecht und sexuelle Orientierung, eine Menge Diskriminierung und Gewalt in Deutschland. Insbesondere dort, wo Rassismus, Behindertenfeindlichkeit oder andere Formen der Diskriminierung verstärkend hinzukommen. So wie es keinen Anlass gibt zu glauben, dass praktizierende Muslim_innen frei sind von Homophobie, gibt es auch keinen Anlass zu glauben, dass sie auf eine besondere Weise oder in besonderem Maße anfällig dafür seien. Jenseits einzelner sozialräumlicher Dominanzen in den Innenstädten lässt sich demgegenüber aber sehr wohl sagen, dass es in Deutschland quasi keine praktizierenden Muslim_innen in Machtpositionen gibt. Es sind in aller Regel weiße, deutsche, heterosexuelle, nicht-«behinderte» christliche (bzw. post-christlich sozialisierte) Politiker_innen, Gewerkschafter_innen, Journalist_innen, Lehrer_innen, Manager_innen, Verwaltungsangestellte, Fernseh- und Kulturschaffende etc., die das Bewusstsein und die realen Lebensbedingungen aller in dieser Gesellschaft prägen. Hierzu gehört auch die Geschlechtsidentität. Je höher die Position ist, um die es geht, desto eher ist die Person männlich – ganz zu schweigen von tatsächlichen oder vermeintlichen Geschlechtsuneindeutigkeiten, die sowohl juristisch als auch sozial mit immensen Diskriminierungserfahrungen der betreffenden Menschen einhergehen. Eine Analyse von Diskriminierung und Gewalt in der Gesellschaft sowie die Konzeption von Gegenmaßnahmen können deswegen gar nicht ohne ein Verständnis von ihrer Einbettung in Macht- und Herrschaftsstrukturen auskommen. Die Zeiten von Ein-Punkt-Bewegungen («Bürgerrechte für Homosexuelle») ist längst vorbei.

Es fehlt – nicht nur in diesem Bereich – allerdings nach wie vor an belastbaren Bündnissen, die gemeinsam gegen unterschiedliche Diskriminierungsformen nicht hierarchisieren, sondern in ihren Überlappungen und Überschneidungen kämpfen. Organisationen von lesbischen und schwulen Migrant_innen können hier ein Motor sein. Aber auch ein Blick in die Geschichte mag katalysierend wirken: Es bringt nichts, benachteiligte Gruppen gegeneinander in Stellung zu bringen. Es mag sein, dass kleine Zugeständnisse an einzelne durch die zusätzliche Belastung von anderen zu erkaufen sind – auf mittlere und lange Sicht sorgen sie aber doch nur dafür, dass das Ganze so bleibt, wie es ist.

4. Alte Bekannte

Die tatsächliche Verzahnung von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht und Sexualität sind kein neues Phänomen. Krieg, Landnahme und Rassismus stehen in ihren heutigen Ausprägungen mindestens seit dem historischen Kolonialismus in einem organischen Zusammenhang. (Nicht-) akzeptable Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten dienten, ganz im Sinne viktorianischer Sexualethik und Geschlechter-Segregation, als Begründungszusammenhänge für Imperialismus. Den respektablen Vorstellungen von weißen Frauen und weißen Männern standen die «unzivilisierten» Lebensweisen in den Kolonien gegenüber. Es wurde zur noblen «Bürde des weißen Mannes», erziehend zu wirken. Die Umdeutung von Unterdrückung zur «Zivilisierungsmission» findet sich ungebrochen auch im hier besprochenen Kontext. In Bezug auf den Abbau von Homophobie unter (männlichen) Jugendlichen mit Migrationshintergrund sieht etwa Jan Feddersen in der Zusammenarbeit verschiedener Schwulen-Organisationen das beste Rezept, um «mit der Zivilisierung des Vormodernen weiterzumachen» (Feddersen 2003) Der Krieg (im Ausland) und der Kampf um kulturelle Hegemonie («Leitkultur») sind also von jeher stark vergeschlechtlicht und sexualisiert. Die Proklamation von Werten ist aber nur dann erfolgreich, wenn die eigene Herrschaft diese auch verkörpert und sich mit einer wirklich weißen Weste im Ausland wie im Inland an der Besserung der Welt beteiligt. Es spricht viel dafür, dass die Zeit reif war für einzelne (heterosexuelle) Frauen und Schwule, dass bis Ende der 1990er Jahren aber die Schicht noch fehlte, die diese neue Modernität verantwortlich vertreten konnte. So fällt die Militarisierung der Außenpolitik in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung; es war ihr Außenminister Fischer, der die eigene Basis beschwor: «Ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz […]. Beides gehört bei mir zusammen. Deswegen bin ich in die Grüne Partei gegangen» (Spiegel 1999) Der «Verhinderung eines neuen Ausschwitz» folgte der Wunsch nach der Durchsetzung von Frauenrechten in Afghanistan. Der dann zuständige «Verteidigungs»-Minister verortete die Zuständigkeit seines Ressorts Ende 2002 auch am Hindukusch: «Wir verteidigen am Hindukusch in Afghanistan im Kampf gegen den Terrorismus auch Deutschland und unsere Freiheit. Diesen Satz habe ich niemals in Frage stellen müssen» (Struck 2004), sein Parteikollege Otto-Schily hatte im Wahlkampf 2002 mit dem Satz auf sich aufmerksam gemacht: «Ich sage Ihnen ganz offen: Die beste Form der Integration ist die Assimilierung.

Wie bei der Einführung von Hartz IV, dem Aufweichen von gewerkschaftlich erkämpften Rechten, der Senkung von Steuersätzen und einer ganzen Reihe anderer sozialer Einschnitte konnte es offenbar nur diese Regierung sein, die Staat, Wirtschaft und Gesellschaft für die neuen Gegebenheiten zurichtete. Die Rechte von Frauen und Homosexuellen haben ihre bemerkenswerte Konjunktur auch diesem Zusammenhang zu verdanken. Sie sind zum Gradmesser von «Modernität» und «Aufklärung» geworden – ungeachtet der Tatsache, dass die «Schwestern» gar nicht vorgesehen waren, etwa in der Losung «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» (Rommelspacher 2010:8). Aus dem Selbstbild «unseres Landes» bzw. «des Westens» in Gänze werden nach wie vor bestehende rechtliche und soziale Ungleichbehandlungen komfortabel ausgeblendet, seitdem die Exportnation auch wieder Immaterielles ausführen kann. Gerade die sogenannte Homo-Ehe hat Fragen nach dem Umgang mit Lebensweisen und Partnerschaftsmodellen, die von der Hetero-Norm abweichen (Zweigeschlechtlichkeit, Monogamie, Fortpflanzung), beantwortet, ohne dass im Mainstream je die Frage danach aufkommen musste – eine General-Amnes(t)ie in Bezug auf die unwirtliche Vergangenheit und eine weitgehende Ignoranz gegenüber Diskriminierung und Gewalt heute. Es reicht vielleicht, daran zu erinnern, dass die christlichen Großkirchen nicht im Widerspruch zum, sondern in Übereinstimmung mit dem Antidiskriminierungsgesetz als zweitgrößte Arbeitgeberinnen im Land nach wie vor nach Belieben einstellen und kündigen können, wen sie wollen. Oder dass Frauen nach wie vor für die gleiche Arbeit 25 % weniger verdienen – wenn sie denn überhaupt in Arbeit sind…

Den sehr unterschiedlich gezeichneten Figuren «der Muslimin» und «des Muslims» kommt hier als «abschreckenden Beispielen» eine unentbehrliche Funktion zu. Erhängte Schwule im Iran, gesteinigte Frauen in Afghanistan, Zwangsverheiratete in Kurdistan, ein Schwuler, der in İstanbul einem «Ehrenmord» zum Opfer fällt, Schwule, die von (männlichen) Jugendlichen mit Migrationshintergrund verprügelt werden: Es kann nicht gut bestellt sein um die sexuelle Selbstbestimmung bei «den Muslimen»… Es ist der hypermaskuline, gewalttätige und auch sonst zu Kriminalität neigende «muslimische» Mann, der heterosexuelle Frauen, Schwule und Lesben bedrängt, ihre Lebensäußerungen gefährdet, ja geradezu unmöglich macht. Ihm stehen als «Opfer» nicht nur die Frauen und Homosexuellen aus der «eigenen» Gruppe gegenüber, sondern auch «unsere europäischen Werte», zu deren alltäglicher Erscheinung neuerdings neben Alice Schwarzer in der Bild-Zeitung eben auch die schwule Welt in der Berliner Motzstraße, in Hamburg-St. Georg oder in der Kölner Innenstadt gehört.

Ein Blick in die Geschichte und in andere Länder der Welt könnte erhellend wirken. In einigen mehrheitlich muslimischen Ländern, aber auch in Indien und Israel gab es wesentlich früher Ministerpräsidentinnen als in Deutschland. In den Jahrzehnten der sogenannten Gastarbeit waren es Migrantinnen, die das piefige Frauenbild in Westdeutschland in Frage stellten (Erwerbstätigkeit, Kleidungs- und Schminkstile etc.). Allerdings: Was als Gegenargument daher kommt, kann keines sein. Denn weder die Benazir Bhuttos, Indira Gandhis, Tansu Çillers oder Golda Meirs noch die Migrantinnen der 1960er und 70er Jahre sagen etwas über «die Frauen» aus. Der Bezug auf die Freiheit einzelner Frauen (und heute auch: Homosexueller) beraubt die Patriarchats-Analyse ihrer Kontexte. Die allermeisten Frauen haben nicht die Karriere-Wahl zwischen Regierungsoberhaupt, Job an der Supermarktkasse und drohender Abschiebung. Die liberalistische Behauptung, dass alle das Recht haben zu tun, was sie wollen, verpackt die Freiheiten Einzelner in Glitzerpapier, um die systematische Ungleichbehandlung zu kaschieren und benachteiligte Gruppen in Gegensatz zueinander zu bringen (vgl. zur selektiven Wahrnehmung von Verbesserungen der Lebensbedingungen von «den Frauen» in Afghanistan King 2011).

5. Wer darf dazugehören?

Wo das Wahlprogramm der CDU für den Berliner Wahlkampf 2011 – an einer einzigen Stelle – Bezug auf sexuelle Vielfalt nimmt, konstatiert es, dass die Anzahl «gezielter gewalttätiger Übergriffe gegen sexuelle Minderheiten […] seit Jahren auf hohem Niveau» sei. Damit übernimmt die Partei Aussagen schwuler Antigewalt-Projekte, verschweigt aber gleichzeitig, dass sie überall, wo sie Regierungsverantwortung trägt, die Erstellung repräsentativer Studien zu diesem Thema verhindert. Die Aussage ist hier deswegen funktional, weil sich fußend auf diese Festsetzung flugs Forderungen aufstellen lassen – «mehr Sicherheit», «null Toleranz» und die Erfassung von «Herkunft» und «kulturellem Hintergrund» der Täter, damit Prävention «zielgerichtet» erfolgen könne (CDU 2011). Dass «sexuelle Minderheiten» hier «schwule Männer» heißt, ist genauso implizit wie die Zuschreibungen bezüglich der Täterschaft. Alle Anschlussstellen, die im Namen der Emanzipation von Schwulen zur Verfügung gestellt wurden, sind im Dienst rassistischer Rückschritte immer bereitwillig aufgegriffen worden, während etwa die Gleichstellung im Steuerrecht oder das Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Partner_innen mit dem Hinweis auf den besonderen Schutz der Ehe (zwischen Frau und Mann) auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben oder nur durch den Druck von Gerichtsurteilen umgesetzt wurde.

Besonders aufschlussreich war in diesem Zusammenhang die Debatte um die Ergänzung des Antidiskriminierungsartikels im Grundgesetz im Jahr 2010. Artikel 3, so wollte es ein breites gesellschaftliches Bündnis, sollte um das Merkmal «sexuelle Identität» erweitert werden. Die Regierungsfraktionen lehnten dies u.a. mit dem Hinweis ab, dass dies «den Muslimen» die «Integration» erschweren würde. Die innewohnende Aussage, dass Muslim_innen stärker als andere und in einer besonderen Weise homophob seien, wurde damit einmal mehr zur immer und überall gültigen Konstante erhoben. Ein Argument, das selbst Teile des rechtspopulistischen Spektrums ihr Herz für die (weißen, deutschen, männlichen) Homosexuellen entdecken ließ: So schreibt die Partei Die Freiheit in ihrem «Berliner Programm» unter dem Punkt «Minderheiten schützen»: «Wir werden dafür sorgen, dass das Schüren von Hass und Erzeugen pogromartiger Stimmungen, etwa gegen Juden oder Homosexuelle, auf die Tagesordnung der Berliner Politik und in das Bewusstsein der Bürger gebracht wird. Ein umfassendes Programm, das die Zusammenarbeit der Bezirksverwaltungen, Aufklärungsarbeit an den Schulen und Maßnahmen zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit beinhaltet, wird dazu beitragen, die Verfolgung religiöser, ethnischer und sexueller Minderheiten in Berlin zu beenden» (Die Freiheit 2011).

Praktizierende Muslim_innen waren bis zu diesem Zeitpunkt vor allem Gegenstand der Auseinandersetzungen. Es wurde über sie gesprochen, nicht mit ihnen, die «Diskursblockaden» wurden dabei lediglich ihnen zugeschrieben und wahlweise als «Integrationsunwilligkeit» oder als «Integrationsunfähigkeit» gedeutet. Sätze, die auch mit «Man wird doch wohl noch sagen dürfen…» hätten anfangen können, galten in diesem Zusammenhang als Manifestationen der Meinungsfreiheit, die Abwesenheit von Muslim_innenin den Debatten hingegen als Desinteresse, Verweigerung oder Rückzug in «Parallelgesellschaften». Fragen danach, wer wem wann und unter welchen Bedingungen die Themen für «notwendige» Debatten diktiert und wer welche Zugangsmöglichkeiten zu diesen Debatten hat, mussten angesichts der vollkommen ausgeblendeten Macht-Asymmetrien gar nicht erst gestellt werden. Der Betrieb hielt sich auch ohne sie am Laufen.

Im Gegensatz dazu verlautbarte der damalige Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, in der Sache Diskriminierungsschutz im Grundgesetz im Mai 2010 aber:

«Die Verfolgung und Diskriminierung von Homosexuellen findet keine islamische Rechtfertigung. Ein umfassender Diskriminierungsschutz in der Verfassung für alle Menschen ist für das friedliche Zusammenleben in Deutschland notwendig» (Zentralrat der Muslime 2010).

Und im Juni desselben Jahres passierte eine weitere kleine Sensation: Die international renommierte Philosophin und Gender- und Queer-Theoretikerin Judith Butler lehnte auf großer Bühne den Zivilcourage-Preis ab, den ihr der Berliner CSD verleihen wollte, vor allem mit dem Hinweis, sie verwahre sich gegen die Komplizenschaft von Teilen der Szene mit der Militarisierung von Außenpolitik und Rassismus im Inland. Auch wenn viele Debattenbeiträge, die folgten, sich an der Kommerzialisierungskritik festhielten, war damit innerhalb der Szenen ein Wendepunkt erreicht, der es von da schwieriger werden ließ, ignorant gegenüber den Überlappungen von Sexismus, Homophobie, Rassismus und Klassengesellschaft zu sein – das, worauf seit Jahren rassismuskritische Aktivist_innen und Akademiker_innen aus Schwarzen und migrantischen Kontexten hingewiesen hatten, wurde damit am 19. Juni 2010 zu etwas, das auch achtbare Persönlichkeiten sagen können.

In Blogs, Szene-Zeitschriften, aber auch in den großen Tageszeitungen in Deutschland und darüber hinaus ist das abseitige Thema der Überlappungen verschiedener Unterdrückungsformen ein wenig mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Die üblichen Artikel über «bunte Paraden» griffen auf, was noch vor zehn Jahren ureigenstes Interesse der Christopher-Street-Day-Demonstrationen war: gesellschaftlicher Wandel jenseits kleiner Zugeständnisse durch den herrschenden Mainstream.

Die Dienstbarmachung von Frauen- und Homosexuellenrechten bei der rassistischen Neuformierung von Staat, Nation und Gesellschaft wird aber weiterhin energisch in Frage gestellt werden müssen. Es besteht ein fundamentaler Zusammenhang zwischen diesen Debatten und einem Deutschland, das sich nicht ab-, sondern neu erschafft, diesmal mit einem ideologisch breiteren «Wir». Real werden die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben aber immer weiter eingeschränkt; mit den Transformationen von Staat und Wirtschaft werden immer größere Teile der Bevölkerung abgehängt. Ohne die Analyse von Strukturen und machtförmigen Beziehungen, die immer mehrdimensional sind, wird es keine Handlungsstrategien geben, die tatsächlichen Fortschritt hin zu einer solidarischen Gesellschaft befördern.

Literatur

CDU (2011): → 100 Lösungen, damit sich was ändert für Berlin [10.03.2012].

Feddersen, Jan (2003): → «Was guckst du? Bist du schwul?». In: taz (08.11.2003) [10.03.2012].

Die Freiheit (2011): → Berliner Programm [10.03.2012].

Huntington, Samuel Phillips (2002): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Siedler.

Huntington, Samuel Phillips (2004): Who Are We – Die Krise der amerikanischen Identität. Hamburg: Europa.

King, Alexander (2011): Internationale Solidarität. Wer erkämpft das Menschenrecht? In: Yılmaz-Günay, Koray (Hrsg.): Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre «Muslime versus Schwule». Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001, Berlin, Seiten 15–24.

LSVD (Lesben- und Schwulenverband in Deutschland) (2006): → Migrationspolitisches Papier des LSVD (beschlossen auf dem 18. LSVD Verbandstag am 25.03.2006 in Köln) [10.03.2012].

Rommelspacher, Birgit (2010): → Emanzipation als Konversion. Das Bild von der Muslima im christlich-säkularen Diskurs. In: ethik und gesellschaft. ökumenische zeitschrift für sozialethik (2/2010) [09.03.2012].

Ruder, Dirk (2003): Bombenstimmung in Köln. In: → Gigi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation 25 (Mai/Juni).

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DER SPIEGEL (1999): Wortlaut: Auszüge aus der Fischer-Rede. (13.05.1999): →  https://www.spiegel.de/politik/deutschland/wortlaut-auszuege-aus-der-fischer-rede-a-22143.html [09.03.2012].

Spielhaus, Riem (2011): Wer ist hier Muslim? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung, Würzburg.

Struck, Peter (2004): Peter Struck im Interview. In: BILD am Sonntag (11.01.2004).

Wolter, Salih Alexander (2011): Ist Krieg oder was? Queer Nation Building in Berlin-Schöneberg. In: Yılmaz-Günay, Koray (Hrsg.): Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre «Muslime versus Schwule». Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001, Berlin, Seiten 15–24.

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