Koray Yılmaz-Günay

«Si Deus pro nobis, quis contra nos?»

Ein paar Gedanken zu Doris Akraps Artikel → «Wer weiß ist, bestimme ich. Der Protest gegen kulturelle Aneignung macht Menschen zu Opfern und beleidigten Exoten. Selten geht es um Rassismus, viel öfter um Respektlosigkeit.»

Es erstaunt mich seltsamerweise immer wieder (bzw. immer noch), dass Anekdoten, die so klingen wie besonders schlechte Witze, als Aufhänger für das grundsätzliche Abfertigen von «Critical Whiteness» herhalten sollen. Ich gehe davon aus, dass das, was hierzulande unter diesem Begriff zusammengefasst wird, unmittelbar im Zusammenhang steht mit der Critical Race Theory in den Vereinigten Staaten – und gerade deswegen frage ich mich, warum das Bashing eines vermeintlichen US-Campus-Quatschs sich nicht an den großartigen Leistungen Schwarzer Denker_innen und Macher_innen abarbeitet, sondern an irgendwelchen (weißen) Bratzen, die als ulkiges Pars pro toto helfen sollen, eine «Theorie» bzw. «Bewegung» zu entwerten, die über Jahrzehnte in (ehemaligen) Kolonien bzw. von Menschen aus (ehemaligen) Kolonien entwickelt wurde, unabhängig davon, ob sie als Subalternalitätsstudien, Interdependenztheorien, Cultural Studies, Poststrukturalismus, Postkolonialismus oder meinetwegen auch als «Multikulturalismus» rubriziert wurden.

Das Konglomerat verschiedenster Denk- und Aktionsweisen, die von einer Verwobenheit von «Modernität» und «Kolonialität» ausgehen (Race, Class, Gender – Sie erinnern sich?) und sich dem Empowerment und kollektiven Formen des Widerstands gegen Gewalt und Vernichtung verschrieben haben, mag gelegentlich Ausprägungen finden, die – haha! – wegen eines Pickels auf der Stirn außer sich geraten. Schrecklich! Da echauffiert sich jemand wegen eines Bindis, der Frisur, der Kleidung oder eines Ohrrings! Wie lächerlich! Haha! Gleichzeitig narzistische Nabelschau und puritanisches Diktat – wie krass!

Dabei ist doch der wirklich wichtige Gegenstand – Achtung: voll links – nicht der Haarschnitt von jemandem oder ein gelungenes/verpfuschtes Kochrezept, sondern eine Pipeline durchs Reservat. Das Problem ist, dass solche Kritiken nicht links sind, sondern im besten Fall liberalistisch. Weder lassen sich Rassismus und Klassenverhältnisse in wichtigeres und nachrangiges Problem einteilen (wegen Verwobenheit, siehe Kimberlé Crenshaw, Angela Davis und zig andere seit über dreißig Jahren), noch bedeutet «Identität» für alle Menschen dasselbe. Es mag sein, dass manche ganz genau wissen, welche Identitäten «authentisch» sind und welche nur in der Vorstellungswelt von ganz Doofen existieren (vermutlich auch ganz links: Ideologiekritik). Das Problem ist, dass sich aus manchen (tatsächlichen oder zugeschriebenen) Identitäten, die als rückständig, unzivilisiert und/oder barbarisch gelten, reale Schwierigkeiten ergeben, wenn sie nicht bloß als temporäres Kostüm, Perücke oder kulinarische Präferenz zu einer Person zählen. Darauf weisen, darüber hinaus, auch Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen aus der Bundesrepublik hin – mit ein bisschen Recherche ließe sich einfachstens belegen, dass es sich bei «Critical Whitness» mitnichten allein um ein «US-amerikanisches» Phänomen handelt. Vielleicht ließe sich dann auch gleich mit analysieren, warum diese Menschen, wenn sie mehr als Bildungs- oder Sozialarbeiter_in sein wollen, oft in andere Länder gehen. Anfangsvermutung: weil die deutschen Akademien und Organisationen voll mit Weißen sind, die («kritisch» oder nicht) zu «Migration» arbeiten. Weil das Problem ja die Einwanderung ist – und nicht der Rassismus.

Ich habe, obwohl ich ganz viele von den Bösen kenne («Moralapostel», «PC- und Tugend-Wächter_innen», «Sprachpolizei» und so) noch nie gehört oder gelesen, dass eine «Identität» gott- oder naturgegeben (also schon immer so und für alle Zukunft unveränderbar) sei. Außer vielleicht bei gläubigen Menschen, die meinen, in eine Religionsgemeinschaft nur hineingeboren werden zu können (z.B. Angehörige mancher alevitischer, muslimischer und jüdischer Strömungen). Es gibt eine Menge Fragen, die ich an manche dieser Menschen habe, und eine Menge Ablehnung, die ich intuitiv oder nach langem Nachdenken über ihre Voraus-Annahmen, Meinungen oder Äußerungen hege. Ich sehe sie dennoch als unverzichtbare Partner_innen in der Auseinandersetzung nicht für eine andere, sondern für eine bessere Gesellschaft.

Menschen und Menschengruppen, deren Existenz geleugnet und/oder deren Lebensgrundlagen (Wirtschafts-, Wohn- und Lebensweisen, Sprache…) systematisch vernichtet werden, mit dem Trost abzufertigen, es sei ohnehin ganz okay (wegen Zivilisation), dass alle in einem Land dieselbe Sprache sprechen, T-Shirts und Jeans tragen oder dieselbe normative Vorstellung von der Rolle der Religion haben, ist mir dagegen wohl vertraut aus Funk und Fernsehen, aus der Zeitung, aus der Praxis von einzelnen Menschen und Organisationen. Weil nämlich das Tragen von T-Shirts und Jeans total normal und in Ordnung sein soll (nicht als «Identität», sondern weil’s halt – bisschen im Kreis argumentiert – «normal» ist), weil Genozide-Verüben und dann vom bösen Kolonialismus Englands, Frankreichs oder Belgiens Sprechen normal ist, aber die Millionen Toten, die aufs Konto des eigenen Landes gehen, nicht so wichtig sind wie die von der Polizei in den USA erschossenen Schwarzen. Weil Pogrome und Genozide zwar unabweisbar Teil der Entstehungsgeschichte und -bedingung der eigenen Nation und des «jüdisch-christlichen Abendlandes» sind, das wirklich wichtige Problem aber die Frage bleibt, ob jüdische Männer mit Kippa durch «Neukölln» laufen können, wo doch dort so viele «Migrant_innen» wohnen. Weil zwar weiße «(M)Ärsche für das Leben» und «besorgte Eltern» zu Tausenden gegen Schwangerschaftsabbrüche und «Frühsexualisierung» von Kindern auf die Straße gehen, die Sorge über die Tugend als Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung aber bei «den Muslim_innen» angesiedelt wird.

Egal, ob sich diese Form der Kritik an «Critical Whiteness» als links, liberal oder rechts versteht, sie blendet systematisch aus, dass die eigene Identität nicht bloß Ausdruck der persönlichen Subjektivität ist, sondern zu einem gesellschaftlich gewordenen, spezifischen Standpunkt gehört, der nur als über-zeitlicher und über-individueller Standpunkt verstanden werden kann.

Die aktive Weigerung, zwischen einem kolonisierten, mit Ausbeutung und systematischem Mord überzogenen Vietnam und einem ausbeutenden und systematisch mordenden Frankreich zu unterscheiden:

Das Bánh mì also könnte als astreine kulturelle Aneignung des französischen Baguette gelten,

ist die bewusste Absage an eine gewachsene und über das eine Ereignis hinausweisende Unterscheidung zwischen «oben» und «unten». Die Ausblendung von militärischer, politischer, finanzieller, diskursiver und damit also – nicht nur im Zweifelsfall – über Leben und Tod entscheidender Macht reduziert die Asymmetrien zwischen «Identitäten» auf ein liberalistisches Spiel, in dem alle von allen irgendetwas übernehmen. Und dagegen kann doch wirklich niemand etwas haben. Weder die geschichtlichen noch die aktuellen Interaktionen zwischen Frankreich und Vietnam sind aber ein liberales Spiel an einem Markt, an dem beide Länder sowohl kaufen als auch verkaufen – und an dem sich am Ende die bessre Ware durchsetzt. Sonst hätte Frankreich nicht 2005 ein Gesetz erlassen müssen, um in seinen staatlichen Schulen nur die Wohltaten des Kolonialismus dargestellt und den Rest vergessen zu wissen.

Auch dass die ehemaligen französischen Kolonien in Afrika bis heute auf 85 % ihrer Währungsreserven keinen direkten Zugriff haben, deutet auf etwas anderes hin als ein Spiel. Die Agence France Trésor ist substantiell etwas anderes als die Bank beim Monopoly. Sie zahlt auch dann nicht aus, wenn Guinea-Bissau oder Burkina Faso über Los gehen. Interessanterweise fanden die über drei Dutzend Opérations Exceptionnelles (Militärinterventionen zum Machterhalt oder zur Wiederherstellung von Regierungen, die Frankreich wohlgesonnen sind) in ehemaligen französischen Kolonien in Afrika statt und nicht etwa in Belgien (Aneignung der künstlerischen Leistungen von Jacques Brel) oder Polen (Aneignung der wissenschaftlichen Leistungen von Marie Skłodowska Curie). → Aamer Rahman beschreibt hervorragend, warum das bedenkenlose «Das machen doch alle» so haarsträubend ist.

So wie die dumme Kritik an kapitalistischer Entfremdung im Deutschland sich nicht an der Naturromantik durch die stereotype Darstellung von Liechtensteins oder Dänemarks Geographie, Alltagskultur und Bevölkerung orientierte, sondern eben an «Winnetou» und dem «wilden Kurdistan». So wie die weißen «Aussteiger_innen», «Entwicklungshelfer_innen» und/oder Hipster distinktive Kleidung, Schmuckstücke und Frisuren nicht aus der ehemaligen Sowjetunion, dem heutigen Schweden oder der mittelalterlichen königlichen Landvogtei Oberschwaben entlehnen. Es ist kein Zufall, welches Reservoir von wem wann und wo (wieder) verfügbar gemacht wird. Die → Costa-fast-gar-nix-Reklame hätte vor der «Krise» – also der deutschen Zurechtstutzung griechischer Souveränität und dem Wiederaufleben des Klischees vom faulen Südländer – nicht funktioniert. Jetzt ist sie nicht nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort, sondern auch (für manche) lustig und zugleich (für manche andere) unlustig. Weil der Costa zwar nix hat, aber auch wenn nichts mehr da ist und die antiken Säulenreste als Ablagefläche für den Elektroschrott der Zukunft dienen, reicht es doch allemal für Ethno-Tänze mit blonden Frauen. Der Südländer schnackselt halt gern, auch wenn es nichts zu fressen gibt. Es können eben immer nur mache friends sein, werden oder bleiben. Und zwar genau dann, wenn sie die gerade benötigten benefits einbringen und ja nicht als Spaßbremse fungieren. Zweifelhaft, ob diese Form des kulturellen Austauschs ohne die stereotype Darstellung der Herkunftsländer zur Zeit auch mit Danuša aus der Slowakei oder Brad aus Australien funktionieren würde.

Es mag sein, dass die guten und schlechten Witze und Anekdoten, die als Folie für die nicht-analytische und substanzlose Kritik an «Critical Whiteness» herhalten sollen, Begriffen wie «Respekt» beinhalten. Ich habe nicht den Eindruck, dass der Streit für Social Justice in meinem Umfeld vor dem Hintergrund ethischer Erwartungen oder mit moralischem Vokabular operiert. Ein guter Teil meiner Freund_innen engagiert sich aus zutiefst existenziellen Gründen gegen Blackfacing und/oder die rassistische Benennung von Menschen, Straßen und Plätzen, Lebensmitteln und Gerichten, die durchgehend als Instrument zur «Exotisierung» dienen.

Immer.

Ausnahmslos.

Es gibt, anders als manche sorglosen Mitmenschen links und rechts und in der alten und der neuen Mitte meinen, kein Racial Profiling und keinen ungleichen Zugang zu Fitnessstudio, Ausbildung und Arbeit, Gesundheit und Wohnen, zu verantwortungsvollen Positionen in Akademie, Staat, Politik, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen oder Unternehmen, die ohne die lustigen Faschingskostüme, harmlosen Kinderlieder, objektiven Talkshows und Fernsehwerbungen, ohne die Trommelkurse für die Begleitung von Karneval, Fußball oder CSD, ohne wissenschaftliche Sach- und Fachbücher, die so schön bunten Urlaubskataloge, bequemen «Harems-Hosen» bei Lidl und auf Toleranz und Verständigung zielenden «African Villages» im Zoo von Augsburg und anderswo funktionieren. Sie funktionieren nur, weil sie zusammen wirken.

Es ist so (und bleibt auch noch eine Weile so, wie es scheint), dass nicht ein pikiertes Ich of Color «bestimmt, wer weiß ist». Das entscheiden die Weißen nach wie vor ganz gern allein. Wessen Puppen, Klamotten/Accessoires und Catering sie dabei hinzuziehen wollen, auch. Bevor später dann, quasi als Kollateral-Vorteil, die Rohstoffe und landwirtschaftlichen Erzeugnisse, das Humankapital oder eben das ganze Bruttoinlandsprodukt nachkommen.

Anmerkung: Die Überschrift «Si Deus pro nobis, quis contra nos?» («Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?») stammt aus Römer 8:31.

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