Und: Welches Blut haben Sie? Dürfen Sie überhaupt hier sein?
Vor zehn Jahren, Abdullah Gül war gerade Präsident der Türkischen Republik geworden, wurde er aus Reihen der «oppositionellen» CHP angegriffen. Er hatte einen Aufruf zur Entschuldigung für den Genozid an der armenischen und assyrischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches nicht verurteilt. Insbesondere die damalige CHP-Abgeordnete Canan Arıtman sah dies darin begründet, dass Adviye Gül (die Mutter des Präsidenten) in Wahrheit Armenierin gewesen sei. Dies sollte bedeuten: Abdullah Gül ist für das Amt des Staatspräsidenten nicht geeignet. Gül verklagte sie und bekam Recht. Die einen meinten «Armenischsein» sei beleidigend, die anderen ließen gerichtlich feststellen, dass es sich dabei um eine strafbewehrte «Verleumdung» handele.
Kurz vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten wurde Recep Tayyip Erdoğan im August 2014 gefragt, warum er im Wahlkampf immer wieder darauf hingewiesen habe, dass sein Konkurrent – Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP – alevitisch ist. Erdoğan rechtfertigte sich:
Was haben die Leute nicht alles über mich gesagt! […] Sie haben mich Georgier genannt. Und, was viel schlimmer ist, manche waren sich nicht zu schade, mich – verzeihen Sie den Ausdruck – Armenier zu nennen.
Schon seit gefühlten Ewigkeiten gibt es immer wieder «Debatten», ob (die ehemalige Ministerpräsidentin) Tansu Çiller oder Rahşan Ecevit (die Ehefrau des ehemaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit und vermeintlich graue Eminenz) oder Kemal Derviş (ehemaliger Staatsminister für Neoliberalismus) u.v.a. in Wahrheit nicht jüdisch seien und aus Familien stammten, die nur zum Schein zum Islam konvertiert sind.
Ganz zu schweigen von dem Generalverdacht, der alle kurdischen Menschen innerhalb der Türkei und in den Nachbarländern seit Jahrzehnten in die Nähe von «Terrorismus» rückt und damit im Zweifelsfall zur Ermordung durch Militär, Polizei oder «besorgten Bürgern» freigibt.
Um die wirklich wichtige Frage ein für alle Mal zu klären, wer «türkisch» und «muslimisch» ist, muss die Regierung keine Kosten und Mühen gescheut haben. Seit letzter Woche ist auf der e-Government-Seite des Staates eine Anwendung zu finden, die es Staatsangehörigen gestattet, bis in die 1800er Jahre mütter- und väterlicherseits alle Namen und Nachnamen, Geburtsorte, Geburts-, Heirats- und Sterbedaten, zuständige Meldestellen etc. ihrer Vorfahren herauszufinden. Nachdem das System wegen des immensen Ansturms sehr schnell tagelange down war, wurden gestern, am ersten Tag der Wiederinbetriebnahme, über acht Millionen Anfragen bearbeitet (Gesamtbevölkerung inklusive Menschen im nichtinternetfähigen Alter ca. 81 Millionen).