Koray Yılmaz-Günay
Tugendterror

Unhaltbare Politik – The Show Must Not Go on

Jennifer Petzen, Christopher Sweetapple, Koray Yılmaz-Günay

Das Problem der Linken: Unsere Perspektive

Wir bewerten die Krise linker Bewegungen und der Partei DIE LINKE aus rassismuskritischer Perspektive und artikulieren eine Kritik am linken Status-quo in Deutschland. Das wiederholte Versagen linker Politik geht unseres Erachtens auf die Unfähigkeit zurück, Haltungen und Strategien gegen weiß-deutsch-christliche Vorherrschaft gefunden zu haben. Unsere Kritik konzentriert sich auf das, was wir als entscheidendes, ja fatales Merkmal der Linken in ganz Europa sehen: ihr hegemoniales Weißsein als Strukturmerkmal – und ihren Widerwillen, etwas daran zu ändern.

Weiße Vorherrschaft ist ein halbkohärentes System. Es besteht unter anderem aus strukturellen, diskursiven, juristischen, ideologischen und kulturellen Praxen. Weiße Vorherrschaft schränkt per Definition die Lebenschancen und das Leben rassistisch marginalisierter Gruppen ein, von nicht-weißen Einwander_innen und/oder Muslim_innen, aber auch von Gruppen, die schon hier lebten, als es noch gar kein Deutschland gab, wie etwa Sinti_zze und Rom_nja, Schwarzen und Jüd_innen. Das ist hierzulande nicht anders als in den meisten europäischen Ländern. Unserer Ansicht nach ist die implizite und explizite Vorherrschaft der Weißen, die in linken Parteien, NGOs, Gewerkschaften und vielen sozialen Bewegungen einen sicheren Hafen findet, das Haupthindernis, das die von der Linken angestrebten Errungenschaften blockiert.

Der weit verbreitete Zustand weißer Dominanz – als materielle wie auch als ideologische, also strukturelle Phänomene –, ist über alle Maßen aufschlussreich. In Bezug auf die tatsächlich existierende Linke in ihren unzähligen Komponenten ist die weiße Herrschaft der Ruhezustand, quasi die Werkseinstellung der Gegenwartsform. Linke Organisationen wurden und werden im Rahmen liberaler Verfahrens- und Herrschaftsprinzipien gebildet. Sie haben die reproduktive Wirksamkeit weißer Vorherrschaft nicht «korrigiert» – und wir würden sagen, sie wollten und wollen es bis heute nicht. Sie können und werden den Wald nicht von den Bäumen unterscheiden können, also in der Lage sein, die kulturelle und politische Vielfalt in den eigenen Reihen zu nutzen. Weiße Prinzipien führen, wenig erstaunlich, zu weißen Prinzipien.

«Antirassistische» Politik ist in ihren unterschiedlichen Spielarten und Geschichten fest in der Linken verwurzelt, leider meist nur instrumentell, nicht rassismuskritisch. Die weiße Dominanz in der Linken wurde als eigenständiges Problem europaweit immer wieder überschattet von neuauflebenden Ethno-Nationalismen und autoritären, rassistischen und pro-sicherheitspolitischen Parteien, die weiter anwachsen. Diese Kräfte erzielen seit geraumer Zeit einen Wahlsieg nach dem anderen. Währenddessen verlieren linke Organisationen wie Gewerkschaften ihre Mobilisierungs-, Bindungs- und Tarifmacht, linke Parteien verlieren an Mitgliedschaft. Und der liberal-demokratische Leitstern, der sogenannte Rechtsstaat, wird, wenn überhaupt, regelmäßig zum Nachteil von rassisierten und zum Vorteil der angeblich autochthonen Gruppen gebeugt. Dies hat zu einem deutlichen Meinungswandel bei Schwarzen und anderen Bevölkerungsgruppen of Color geführt, die in progressiven und linken sozialen Bewegungen arbeite(te)n. In Reaktion darauf haben Progressive, die über Sensibilität für rassistische Ungerechtigkeiten verfügen, zunehmend auf Selbstorganisation außerhalb traditionell linker Strukturen gesetzt, manchmal sogar bewusst gegen linke Parteien, Gewerkschaften und NGOs.

Innerhalb linker Strukturen scheinen die Vorderen oft ratlos zu sein, wenn es darum geht, fortschrittliche Politik durchzusetzen, wie man es von ihnen erwarten würde. Aber die Haltung von Rehen im Scheinwerferlicht ist doch ziemlich vorhersehbar. Alle, die an einem Kurs, Workshop oder einer Podiumsdiskussion zum Thema Intersektionalität teilgenommen haben, werden miterlebt haben, wie dieser Diskurs, der rassistische und andere diskriminierende Praktiken durchbrechen soll, durch die vermeintlich naive Frage: «Aber was ist mit der Klasse?» entschärft wird. In solchen Fällen konsolidieren Linke weiße Vorherrschaft. Und zwar in reflexiver Haltung gegenüber ihren angeblichen Ursprüngen: der nord- und westeuropäischen Arbeiter_innenbewegung und ihrer spezifischen Verdinglichung als kulturellem Wert unter Ausschluss anderer Geschichten von Unterdrückung und Herrschaft, einschließlich geschlechtsspezifischer, affektiver und reproduktiver Arbeit sowie die anhaltende koloniale Ausbeutung, die so extraktiv und entmenschlichend ist wie eh und je.

Es gibt zahlreiche Beispiele von weiß dominierten Organisationen, die spektakuläre Kampagnen durchführen, nur um immer wieder Fehler zu machen, mit dem Effekt, Schwarze Wähler_innen und Wähler_innen of Color zu entfremden, während die Klientel der AfD umworben wird, wenn es um populistische Politikgestaltung geht. Politik-Inszenierungen und -Umsetzungen dieser Art werfen Fragen bei rassismuskritisch Organisierten und Organisierenden auf. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Ressourcen in «eigene» Kampagnen gesteckt werden, wenn so viele von Schwarzen und Menschen of Color organisierte lokale, regionale und bundesweite Initiativen überhaupt kein Budget haben.

Die Mainstream-Linke neigt dazu, notwendige lautstarke Aktionen zu organisieren, wenn Menschen of Color bei Pogromen, Terroranschlägen oder in Lagern Gewalt, Totschlag oder Mord erleben. Aber bei Berichten über strukturellen Rassismus in Schulen werden sie von der liberalen Demokratie begraben. Struktureller Rassismus, zugegebenermaßen nicht leicht zu dekonstruieren, bringt Linke selten auf die Straße, noch trifft er in Bundesländern mit progressiven Regierungen auf nennenswerte rassismuskritische Beschlüsse oder Gesetze. Diese stark verknappte Vorstellungskraft in Bezug auf Gesellschaft entspricht der Blutleere, was Beschäftigung von Menschen of Color, Schwarzen und anderen Marginalisieten in den «eigenen» Strukturen angeht. Bei einem Viertel der Bevölkerung in der Bundesrepublik kommen Menschen, die Rassismus erfahren, in der real existierenden Linken, ihren politischen Parteien und unzähligen NGOs und Institutionen der Sozialen Arbeit kaum vor. Schließlich ist die Kooptation antirassistischer Initiativen durch «farbenblinde» weiße Linke ein seit langem bestehendes Problem. Zig Workshops zu kritischem Weißsein konnten es offenbar nicht aus der Welt schaffen.

Die «Color Line» kann allerdings auch in linken Argumenten verwendet werden, um eine für Wahlen nützliche Anti-Einwanderungsstimmung zu untermauern, während vorgegeben wird, «arbeiter_innenfreundlich» zu sein. Mitten in der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 beispielsweise vertrat die damalige Fraktionsvorsitzende der LINKEN einen Hardliner-Ansatz gegenüber Migration und behauptete als Alibi, dass sie ausländische Arbeitskräfte nicht ausbeuten und erkämpfte Rechte nicht schwächen wolle. Damit vergiftete sie Jahre der Bottom-up-Organisierung und Solidarität unter Arbeiter_innen aus dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Selbstverständlich hat ihre harte Haltung gegenüber Migration, die eher Trend als Ausnahme unter linksgerichteten Parteien in ganz Europa ist, keine rechten Wähler_innen aus der Mitte oder von rechtspopulistischen Gruppierungen zurückgewonnen, wie sie es prognostiziert hatte. Stattdessen verlor ihre Partei massenhaft Wähler_innen und Parteimitglieder, die wissen, was Rassismus ist. Es war ganz maßgeblich die Fraktionsspitze im Bundestag, die die Partei spaltete, zerstreute und schwächte.

Identitätspolitik und die Linke

Unsere jahrzehntelange Erfahrung in der Arbeit mit linken Institutionen und Organisationen bestätigt die umfangreiche Forschung über das Konzept des «Racial Capitalism» von Cedric Robinson und dessen Hauptachsen, insbesondere «Rasse», Klasse, Geschlecht und Ability, die sich nachweislich auf komplexe Weise überlappen und überschneiden. Für einige (weiß, männlich, Mittelschicht, keine Behinderung) bringt das mehr Inklusion, für die meisten (nicht-weiß, weiblich oder nicht-binär, arm, «behindert») mehr Ausschlusse aus ganz und gar liberalen demokratischen Verfahren. Daher halten wir es für unerlässlich, uns vor allem auf diese komplexen Schnittmengen von Klassen- und Geschlechterverhältnissen, Rassismus und Ableismus als grundlegende Dynamiken des «Racial Capitalism» zu konzentrieren, mit deutlichen Lehren aus der Art und Weise, wie soziale Bewegungen diese Dynamiken als Widersprüche zu den Versprechen der liberalen Demokratie, auch von linken Parteien, kritisieren. Da fast alle Ausprägungen der kontinentaleuropäischen Linken unbekümmert weiß dominiert bleiben, müssen sie sich nicht nur mit der neuen Weltordnung abfinden, auch wenn sie jetzt direkt mit ihrer atavistischen kolonialen Haltung konfrontiert werden. Der Globale Süden, den Europa schon immer als sein «Anderes» benötigte, formuliert die Kritik daran seit geraumer Zeit, auch aus dem Herzen Europas.

In Erwartung der unvermeidlichen Zurückweisung unserer Argumentation finden wir, dass eine Zusammenfassung von Robert Stam und Ella Shohats Gedanken zur Problematik der «Color Line» in weiß dominierten linken Gruppen eine hilfreiche Stärkung sein kann. Wir beziehen uns hier vor allem auf das Buch Race in Translation. Kulturkämpfe rings um den postkolonialen Atlantik. Sie stellen fest, wie diese Linie linke Organisationen – von der Kommunistischen Partei bis zu den Gewerkschaften – markierte die trotz Gleichheitsideologien weiße gegenüber Arbeitern of Color privilegierten. Stam und Shohat geißeln die wohlfeile Angewohnheit, gerade die Identitätspolitik für reale Spaltungen in der Linken verantwortlich zu machen.

Soziale Identitäten sind weder Luxus noch Einbildung. Sie sind historisch geprägt und haben Konsequenzen dafür, wer einen Arbeitsplatz bekommt, wer ein Haus oder eine Wohnung besitzt, wer rassistischem Profiling unterworfen wird usw. Diese kausale Rolle der Identität im Bereich des Politischen wird zu schnell als «Identitätspolitik» abgetan, insbesondere von postmarxistischen Auprägungen der Linken, die es mittlerweile besser wissen sollten. Statt einer Investition in eine phantasmagorische Zugehörigkeit, die mit der verordneten Arbeiter_innen-Solidarität konkurriert, haben Identitäten tatsächlich viel mit den unterschiedlichen Machtverhältnissen zu tun, wie sie in der Welt gelebt werden, mit widersprüchlichen Erfahrungen des Rechtssystems, der Medizin, der Wirtschaft und des alltäglichen sozialen Austauschs. Natürlich sind Identitäten keine präfixierten Essenzen. Sie entstehen aus einem fließenden Satz unterschiedlicher Erfahrungen in überlappenden Zugehörigkeitskreisen. Aber es sind diese sich überschneidenden Identitäts- und Identifikationskreise, die transkommunale Koalitionen ermöglichen, die auf historisch geprägten Affinitäten beruhen, nicht auf einem zweifelhaften globalen Hang zur Proletarisierung. Identitätsängste sind asymmetrisch und tragen aufgrund der einseitigen Verteilung, die sich aus dem ungleichen Zugang zwischen Klassen ergibt, viel mehr Wärme als Licht bei, um diese Ängste auszudrücken und umzusetzen. Während die Entmachteten versuchen, ein prekär etabliertes Recht zu bekräftigen, fühlen sich die traditionell Ermächtigten relativiert und geschwächt, indem sie tatsächlich oder vermeintlich mit zuvor ungehörten, niederen Stimmen konkurrieren müssen. Das «Identität-spaltet-die-Linke»-Argument verschleiert, wie jede «Spaltung» auch eine «Ergänzung» innerhalb eines Koalitionsraums sein kann.

In unserer intersektionalen aktivistischen Arbeit sind wir es leid, die Frage nach der Klasse zu hören. Diese Frage muss obsolet gemacht werden, um Raum für eine dringend benötigte Neuformierung zu schaffen. Solange Linke diese falsche Frage nach der falschen Klasse stellen, sei es aus bösem Willen oder fundamentalistischer Gewissheit, und diese zeitgenössische Sackgasse eher wie ein lustiges Karussell behandeln, kann es keine notwendige Neuartikulation in größeren Einheiten zum Bau einer breiten, nachhaltigen und erfolgreichen Linken geben.

Es sind nicht nur regressive Kräfte, die Initiativen für Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit blockieren. Auch wenn emanzipatorische, fortschrittliche Schritte als Ziel gesetzt werden, versuchen diese Kräfte real, die Zeit zurückzudrehen. In vielen europäischen Ländern, innerhalb und außerhalb der EU, zeigt sich dies vor allem in der Ablehnung sogenannter «Identitätspolitiken» – oder, in der Sprache prominenter Linker: «skurriler Minderheiten». Hier zeigt sich die Unfähigkeit der Parteibasis, wildgewordenem Populismus in den höheren Etagen seinen Platz in der Partei zu nehmen, es zeigen sich aber auch Trägheit und Karrierismus.

Die Linke und weiße Vorherrschaft

Linke Gruppen/Organisationen/Parteien/Initiativen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht nicht vom gesellschaftlichen Mainstream. Bündnisse mit Organisationen von People of Color, Schwarzen, Migranten, Jüd_innen, Muslim_innen und anderen «Randgruppen» werden nicht als notwendig angesehen. Ihr oft allzu seltenes Vorkommen sorgt für Feigenblätter der Vielfalt. So wie die Schnittstellen zum Feminismus enttäuschend klein sind, gibt es eine zunehmende Entfremdung von Gruppen, die von verschiedenen Formen des Rassismus betroffen sind.

Es ist kein Zufall, dass die jüngste Gründung migrantischer antifaschistischer Gruppen die weiß-deutsche Linke in panische Verwirrung versetzt. Trotz der Hashtag-Solidaritätsbekundungen in sozialen Medien nach den jüngsten Anschlägen und Morden gibt es weiterhin, gelinde gesagt, viele Missverständnisse über die Bedürfnisse von Menschen, die tagtäglich Rassismus erleben, sich aber in Gesellschaft derer, die das Etikett «Antifaschismus» hüten, ausgegrenzt fühlen. Andererseits fühlt sich die junge Generation von migrantischen und nicht-migrantischen Schwarzen und Menschen of Color schmerzlich an die Nachwendezeit erinnert, in der eine riesige Welle rassistischer Gewalt sich zur illiberalen Behandlung von Asylsuchenden verhärtete, indem sie Gesetz und Politik wurde. Viele People of Color organisierten sich schon damals explizit jenseits der Linken.

Es ist sicherlich keine Überraschung, dass rassismuskritische Initiativen und soziale Bewegungen die Geduld mit Parteien und anderen politischen Gruppierungen verloren haben, die sich auf nationaler oder europäischer Ebene an Machtteilungskoalitionen ergötzen, während sie zugleich doppelzüngig eine nicht überzeugende, empörte Oppositionskraft auf regionaler oder lokaler Ebene sein wollen. Pro-migrantische Haltungen täuschen nur noch selten über den strukturellen Ausschluss von Migrant_innen, Schwarzen und Menschen of Color hinweg. Deswegen verzichten rassismuskritische soziale Bewegungen auf «linke» Zusammenarbeit und wenden sich stattdessen den nackten Tatsachen des Überlebens zu, und zwar in der als «Identitätspolitik» verschrienen Selbstorganisation.

Unsere Beobachtung, dass die Linke – einschließlich Parteien sowie Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen – selbst dort, wo sie sich explizit als Bottom-up-Bewegung versteht – der Anlage nach eine weiße Bewegung bleibt. Sie hat mehr Probleme mit «Diversity» als multinationale Konzerne und mehr Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft hat als öffentliche Verwaltungen. Man könnte dies mit der Personalpolitik linker Parteien und Institutionen vergleichen, die trotz interner Bestrebungen, strukturverändernde Maßnahmen zu forcieren, offenbar entschlossen dem Weiter-wie-Bisher verpflichtet bleiben. Das führt nicht nur in der Parteispitze, sondern auch in den Kreisverbänden oft zu Vettern- und manchmal auch Nichten-Wirtschaft, wo nur überleben kann, wer sich der Parteikarriere verschrieben hat. Die Parteilinie zu achten, bedeutet auch, sich nicht mit Beschwerden über Rassismus und sexualisierte Gewalt auseinanderzusetzen, obwohl alle auf allen Ebenen genau wissen, wer wem was antut.

Radikaler Umbau traditioneller linker Strukturen

Zum Abschluss unserer Überlegungen stellen wir fest, dass ein echtes Projekt zum Abbau strukturellen Rassismus’ unweigerlich zu einer radikalen Umstrukturierung der politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Beziehungen auf globaler Ebene führen müsste. Das wäre das Best-Case-Szenario. Realistischer – und machbarer – ist die Förderung einer erfolgreichen Politik der Rassismuskritik in der gesamten Linken. Dies ist ohnehin im Gange und hoffentlich nicht mehr aufzuhalten, selbst wenn die Linke es vorzieht, dies zu ignorieren. Das Zusammenwirken im weißen Patriarchat, das in der Logik der kapitalistischen Akkumulation auf Kosten der Ökosysteme und des Lebens von Arbeiter_innen geht – insbesondere von Menschen of Color und/oder Frauen – erscheint uns als äußerst riskante Investition sowohl in Bezug auf rassismuskritische Politik als auch für eine nachhaltige und mächtige Linke. Daher bedeutet unser Eintreten für das sehr nicht-liberaldemokratische, nicht-reformistische Ziel, strukturellen Rassismus abzubauen, die konsequente Etablierung neuer Strukturen. Es ist zu erwarten, dass selbst die Bundesregierung in ihrem «Demokratiefördergesetz» den Bezug auf die «Freiheitlich-demokratische Grundordnung» um einen Bezug auf die Menschenrechte erweitern wird. Denn der liberaldemokratische Staat, seine Gesetze und seine Institutionen stehen einer wirklichen Demokratie oft selbst im Weg.

Diese neuen Strukturen müssen die Reproduktion bestehender Klasseneliten verhindern, die diskreditierte Profitgier, Macht um der Macht willen und die Beschwichtigung konservativer und reaktionärer populistischer Vorlieben. Sie müssen Gewalt und Unterdrückung tout court ablehnen. Sie müssen transnational verbundene, intersektional formatierte, sensible Strukturen sein, die über Skalen hinweg schwingen und live über alle brauchbaren Kanäle übertragen werden. Wohltätiges (weißes) Linkssein, das Menschen in Not hilft, ist eine Haltung, die weder den anstehenden Aufgaben genügt noch sich der Sensibilität der Menschen bewusst ist, die sie regieren möchte, zumal die Menschen «in Not» weder woanders noch hypothetisch sind, sondern hier und jetzt.

Mit der zunehmenden Brutalität von Ernährungsunsicherheit, Überwachung, Inhaftierung und Polizeigewalt, Einschränkung der Bürger_innen- und Menschenrechte einschließlich des Rechts auf Mobilität, Asyl, Bildung und menschenwürdige Arbeit für Schwarze Menschen und Menschen of Color und Menschen mit Behinderungen sehen wir auch zunehmende intersektionale Allianzen und Teilhabe an Widerstandsbewegungen und Communitys der Selbstfürsorge. Linke politische Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen, die größtenteils von weißen, ableistischen Führungseliten gesteuert wurden, waren nicht in der Lage (bzw. gar nicht erst gewillt), die politische Macht von Frauen, Schwarzen und Menschen of Color und/oder Menschen mit Behinderungen dauerhaft zu verbessern. Diese von Weißen dominierten Institutionen und Organisationen werden weitere Kraft, Ideen und Energie an neue Koalitionen und Gruppen verlieren, die rassismuskritische, dekoloniale, ökologische und intersektionale Ansätze in den Vordergrund stellen.

Wir müssen zugeben, dass weder Reformen noch der Reformismus funktioniert haben. Sie werden auch nicht funktionieren. Wenn wir uns zum Beispiel die Machtstrukturen in Regierungen, politischen Parteien, Gewerkschaften, Bildungs- und Kultureinrichtungen – auch in der Linken im Globalen Norden – ansehen (und die Liste ließe sich endlos fortsetzen), sehen wir einen unglaublich heftigen Widerstand gegen die Teilung von Macht und Ressourcen mit Menschen, die traditionell nicht oder nur wenig über sie verfügen, d. h. diejenigen, die struktureller Gewalt ausgesetzt waren und sind. Aus diesem Grund werden die Versuche der «Öffnung» auch «Diversität» und nicht etwa «Machtteilung» genannt. Die Illusion und die Realität sind nicht, dass Macht geteilt wird, wenn zwei Migrant_innen Sitze in der Fraktion einer linken Partei erringen. Leider gilt dies für weiß dominierte progressive soziale Bewegungen ebenso wie für die Diversifizierungsbewegungen globaler Unternehmen. Das ist der Grund, warum wir über die nächsten Schritte in der linken Politik im Sinn einer konsequenten Abkehr von der weißen Vorherrschaft sprechen müssen. Ihre Bekämpfung und Beseitigung verspricht, der einzige Weg zur Wiederherstellung – besser: zum Aufbau – tatsächlicher linker politischer Bedeutung und Kraft zu sein. Andernfalls wird die gesamte Linke irrelevant.

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