Koray Yılmaz-Günay
Rezensionen

Unter dem Schleier

Rezension zu Murathan Mungan (2008): → Tschador. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. München: → Blumenbar.
128 Seiten, gebunden
ISBN: 393–6–738–416 (vergriffen)

Die Rezension ist erschienen in: → Siegessäule 10/2008, Oktober 2008, Seite 28.

Nach einem Krieg kehrt der junge Akhbar in sein verwüstetes Land zurück. Die Rückkehr, die ihn mit der Familie und der Freundin versöhnen soll, desillusioniert ihn allerdings; er erlebt eine unbekannte Resignation und verfällt selbst in die Müdigkeit, die mittlerweile alle beherrscht. Wir erfahren weder den Namen des Landes noch der meisten Figuren und wissen am Ende nicht, warum der Krieg ausgebrochen ist. Vor allem die Geschlechterverhältnisse und ihre äußeren Erkennungsmerkmale stehen für eine Gegenwart, in der nicht einmal mehr der Himmel Antworten zu geben weiß. Neben uniformen Turbanen und Bärten bei den Männern steht in der Öffentlichkeit vor allem der Tschador der Frauen, die immer weiter zurückgedrängt werden, symbolhaft für die Orientierungslosigkeit, die mit der vermeintlichen Ordnung der Dinge verbunden ist: Was beschützen soll, ist immer auch Verhängnis. Nie waren Frauen weniger sicht- und hörbar als nach diesem Krieg. In der vorherrschenden Enge und Ausweglosigkeit wünscht sich Akhbar trotzdem, er möge selber einen Schleier tragen, um in der Allgegenwart von Unfreiheit einen Hauch von Freiheit zu erheischen, Teil der leeren Inszenierung dieses Gefängnisses zu sein, obwohl er nicht einmal ahnen kann, wie die «Unsichtbaren» die Welt sehen, «die ihnen verbot, gesehen zu werden».

«Tschador» ist ein beklemmender Roman, in dem metaphernreich Resignation und Entmutigung einer invaliden Gesellschaft geschildert werden. Die verhüllten «Geister» stehen als Chiffre für das Schwinden von Lebendigkeit, Körpern und Sprache insgesamt. Akhbars Land ist zu einem seelenlosen Fleck Erde geworden, wo es nichts mehr hilft, an Türen zu klopfen: «Die Leute wussten nichts, erinnerten sich nicht, kümmerten sich um nichts.»

Nach den in «Palast des Ostens» gesammelten fünf Erzählungen ist «Tschador» der erste Roman aus dem Werk Mungans, der auf Deutsch erschienen ist. Bewusst wendet sich der Autor, in dessen thematisch traditionsbewusstem, stilistisch aber aufmüpfigem Werk vor allem (männliche) homoerotische Bezüge zahlreich thematisiert werden, gegen eine Klassifizierung als «schwuler Autor». Der «Starautor», wie er gelegentlich genannt wird, ist zwar offen schwul, grenzt sich aber bewusst gegen eine «Gay»-Identität ab – durchaus untypisch für die aktuelle Generation in der lesbisch-schwulen Literaturszene des Landes, wie sie etwa von Mehmet Bilâl vertreten wird. Identitätspolitische Labels seien immer auch Einengungen, für ethnische und religiöse Gruppen genauso wie für Lesben und Schwule, sagt Murathan Mungan. Am 13. Oktober um 20 Uhr liest er im Literarischen Colloquium aus «Tschador».

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