Der 27. September 2013 ist ein ganz gewöhnlicher Frühherbsttag. Vielleicht ein bisschen wärmer als zu erwarten wäre, ein wenig angenehmer im Anlauf als die Tage davor. Ich hatte mich gut auf den Tag vorbereitet, zwei wichtige Gespräche stehen auf der Arbeit an, das erste um 11:30 Uhr. Keine Eile, vielleicht sogar ein bisschen Vorfreude. Die S-Bahn ist voll, aber alle, die sitzen wollen, haben ihren Platz gefunden. Mir gegenüber auf einem der Viererplätze eine etwa Fünfundvierzigjährige, die eine populäre Zeitschrift, neben ihr ein etwas älterer Mann, der einen Fantasy-Roman liest. Eine Viertelstunde ignorieren wir uns mit gelegentlichen Blicken höflich, interessiert aber an der Lektüre der jeweils anderen Personen. Es gelingt mir in den fünfzehn Minuten trotzdem nicht, den Buchtitel oder eine Überschrift aus der Zeitschrift zu erkennen. Am Bahnhof Sonnenallee steigt eine Frau über sechzig ein. Sie hat ein markantes Gesicht, gepflegtes Haar und ist extravagant gekleidet, ein bisschen zu warm vielleicht für einen Tag, der fast zwanzig Grad verspricht. Ihr eierschalenfarbener Kunstpelz ist am auffälligsten. Ich nehme mein Buch in die eine und die Tüte zwischen meinen Beinen in die andere Hand, stehe auf und gestatte ihr dadurch, trotz weitem Pelz den letzten freien Sitz am Fenster einzunehmen. Dann setze ich mich wieder hin und stecke mein Buch in meine Umhängetasche. Ich muss in wenigen Minuten aussteigen.
Kaum dass sie sitzt, deutet die Frau auf einen anständig hohen Schornstein, aus dem es qualmt. «Wenn der Rauch in unsere Richtung wehte, mussten wir früher immer das Fenster schließen, aber es war gutes Wetter», sagt sie. Mit der rechten Hand deutet sie auf ihre ehemalige Wohnung in einer Neubausiedlung. «Wenn der Wind aus der anderen Richtung kam, war schlechtes Wetter.» Die Frau und der Mann auf der anderen Bank sind irgendwem dankbar, dass ich derjenige bin, der neben ihr sitzt, die irritierten Blicke verlieren plötzlich und beträchtlich an Höflichkeit. Weil es aus ihr raus will, sagt meine Nachbarin unvermittelt, unerwartet, für mich unpassend, weil ich mich gedanklich schon aufs Aussteigen vorbereite: «Endlich mal nur Deutsche in allen Richtungen.» Ihr Blick trifft sich mit meinem und mit denen der beiden anderen. Weil sie sich im Klaren darüber ist, dass sie das gar nicht hätte sagen sollen, hat sie so leise gesprochen, dass das Gesagte den Raum zwischen den vier Sitzen vollständig füllt. Sie ist sich des Einvernehmens sicher.
Ich wende den Blick ab. Ich erinnere mich nicht, ob ich in Richtung der anderen Vierersitzgruppe gegenüber gucke. Ist das eine Einladung? Mein Schweigen: eine Flucht, eine Weigerung, ein Aufkündigen, ein Protest? Wer entscheidet darüber? Vielleicht eine Sammlung. Sie aber spricht weiter, ungekündigt, nicht verweigert, zuhause, unbeirrt: «Sonst sitzen hier nur Ausländer.» Sie sagt noch einen anderen Satz. Warum weiß ich ihn schon jetzt nicht mehr? Es ist doch erst wenige Stunden her. Ich sehe sie an und sage: «Wenn Sie nicht sofort damit aufhören, rufe ich die Polizei und zeige Sie an. Ich fühle mich von Ihnen beleidigt.» Sie versteht schnell. Ihre Wendung ist genauso abrupt: «Aber Sie sind doch ein ganz anderer Ausländer.» Ich: «Sie wissen überhaupt nicht, ob ich Ausländer bin.» Sie hebt an, irgendetwas zu sagen, aber ich fahre ihr über den Mund. Ich werde laut: «Hören Sie jetzt damit auf!» Sie schweigt und sieht die Frau gegenüber an. Frau im Spiegel liest sie. Das dauert keine Sekunde. Ich sehe sie an. Ich sehe sie an. Ich sehe sie an. Wie viele Sekunden? Sollte sie zurück-gucken? Erwarte ich das? Was erwarte ich? Was ich erwarte, ist gleichgültig. Ich bin kein ganz anderer Ausländer, das hat die Frau im Spiegel-Leserin in der Zwischenzeit ganz recht erkannt. Seit ich eingestiegen bin, habe ich ein nicht-deutschsprachiges Buch gelesen. «Machen Sie sich nichts daraus», sagt sie zu der Pelzigen, «türkische Männer sind so.»
Türkische Männer werden schnell laut, vor allem gegenüber Frauen. Das ist nun einmal so. In der Sonnenallee steigen sonst nur Schwarze und arabische Menschen in die Bahn, was ist so verwerflich daran, das zu sagen? Bleibe ich in der S-Bahn? Rufe ich die Polizei? Stelle ich meine Sitznachbarin zur Rede? Bin ich schon in Ostkreuz? Sie sehen gar nicht so aus. Wo ist mein Körpergefühl hin? Wer war der kleine Junge («Türkenbengel»), den der Mann in Spandau kurz vor Silvester geohrfeigt hat, weil er seinen Knaller schon am 27. Dezember, einen oder zwei Tage zu früh, in die Rabatte geworfen hatte? Sie sprechen unsere Sprache besser als die meisten Deutschen, bravo! Warum bin ich wieder der Neunjährige, der sich nicht traut, den Betrunkenen vom Fahrrad zu stoßen, der seine Mutter beleidigt? Leben Sie schon lange hier?
Ich nehme meine Tüte, die ich wieder zwischen meinen Beinen abgestellt hatte, und gehe zur Tür. Es sind längst keine Sitzplätze mehr frei. Warum fällt mir das auf? Wohin mit den Gedanken? Der Kopf explodiert. Haben die stehenden Leute an der Tür eben gehört, dass die Kunstpelzträgerin jetzt aufhören soll? Womit soll sie aufhören? Wie ist das Wort fürs Damit? Schauen sie mich deswegen nicht an? Würde ich denn wollen, dass sie mich anschauen? Wie lang dauern dreißig Sekunden bis zum nächsten Bahnhof, wenn ich doch weiß, dass Aussteigen nichts ändern wird?
Die Halle des Bahnhofs Ostkreuz ist groß. Zu groß vielleicht für die Umgebung, zu groß für die Stadt. Ein Bau, einer der Bauten, die nicht nur Gästen der Stadt ein körperliches Gefühl vermitteln sollen. Du bist jetzt in der Großstadt, kleiner Mensch. Die Höhe der Decke, die Breite des Bahnsteigs, die niedrigen Kioske machen es einfacher zu verschwinden. Kleinsein zu akzeptieren. Erst auf dem unteren Bahnsteig, an dessen Ende, ganz hinten, da, wo ich nachher wieder aussteigen werde, um näher am Ausgang zu sein, nach einem Gang von einhundertfünfzig Metern oder mehr, merke ich, dass mir die Hände zittern. Mit dem dummen Stolz eines Mannes halte ich Tränen zurück. Ich schäme mich. Nicht wegen des Zitterns. Nicht wegen meiner Hände, die ich nicht mehr kontrollieren kann. Ich schäme mich für mich. Ich schäme mich dafür, ich zu sein. Die Frau im Kunstpelz hat gewonnen. Ich muss ein- und ausatmen. Sie muss sich nicht schämen. Sie ist im Recht. Ich bin das Gastarbeiterkind von 1978, 1981, 1982, 1987, 1987, 1987, 1990, 1991, 1992, 1992, 1993. 1997, 1998, 2000, 2001, 2002, 2003. 2004, 2005, 2006, 2007, 2008. 2011. Für sie, an sich. Für mich. Für immer. Eins zu null für Deutschland.