Koray Yılmaz-Günay
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Wer bin ich – und wenn ja: wie viele? Über das Gleichzeitige und Ungleichzeitige bei ethnisierten und nicht-ethnisierten Queeren in Berlin

Koray Yılmaz-Günay (2004): Wer bin ich – und wenn ja: wie viele? Über das Gleichzeitige und Ungleichzeitige bei ethnisierten und nicht-ethnisierten Queeren in Berlin. In: In: → Antidiskriminierungsnetzwerk des → Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (Hg.): → QueerBerlin. Mehrfachzugehörigkeit als Bürde oder als Chance. – Die Gesichter des QueerSeins & MigrantIn/SchwarzSeins, Seiten 16–20.

Nach den eher allgemein gehaltenen Referaten von Claus Nachtwey und Judy Gummich möchte ich etwas konkreter werden und Ihnen ein wenig vom Leben auf der Straße erzählen. Ich hoffe, dass im Lauf des Vortrages klar wird, dass es hier nicht besonders – oder nicht nur – um mich als Person geht. Ich bin ein sehr hellhäutiges Exemplar dieser Spezies und ein Mann, und nicht alles, was ich sagen werde, passt wirklich auf mich. Und doch passt es gleichzeitig ausgezeichnet.

Um wen es hier nicht gehen wird

«Queer-» und «MigrantIn-» bzw. «Schwarz-Sein» sind sehr umfassende Begriffe, die sehr viele Menschen lapidar zusammenfassen, die doch in gravierend unterschiedlichen Situationen sich befinden. Die Komplexität dieser Lebensrealitäten, die Konkurrenzen und Widersprüche ließen sich wahrscheinlich nicht einmal in einem Ganztagsseminar erfassen, geschweige denn in einem Referat, das maximal 20 Minuten dauern soll. Und dennoch ist der Punkt der internen Diversität und der internen Hierarchien – einschließlich der dazugehörigen Ausschlussmechanismen – vielleicht einer der wichtigsten, die es an einem solchen Tag abzuhandeln gälte. Ich möchte hier nur einige Möglichkeiten aufzeigen, damit der Eindruck nicht sich verfestigt, queere Ethnisierte würden sich besonders oft akademisch mit ihrer Situation auseinandersetzen und/oder seien in entsprechenden Organisationen engagiert. Die meisten queeren Ethnisierten leben ganz herkömmlich «normal», indem sie sich über ihre individuelle Situation Gedanken machen, zu ihrer Arbeit gehen und ihre/n Partner/in haben, weil auch ihr Existenzkampf Anderes nicht erlaubt. Dass sie im Vergleich zu Mehrheitsdeutschen psychisch einem enormen zusätzlichen Druck ausgesetzt sind, können und wollen viele nicht jeden Tag aufs Neue reflektieren: Allzu verletzend sind Erfahrungen von alltäglicher/permanenter Diskriminierung aufgrund der Herkunft, des Geschlechts und/oder der Geschlechtsidentität, die Hand in Hand gehen. Niederlagen, Müdigkeit und Resignation sind keine Pole der Ruhe und Kraft. Sie sind vielmehr Produkte vieler kleiner, erschöpfender Kämpfe, die alle allein, irgendwo da draußen austragen müssen.

Queere Ethnisierte

  • sitzen in Haft, weil sie abgeschoben werden sollen;
  • sind heterosexuell verheiratet und leben ihr gleichgeschlechtliches Begehren im Geheimen aus;
  • sind HIV-positiv oder aidskrank;
  • sind illegalisiert und haben sehr eingeschränkten Zugang zur Prävention, Gesundheitsvorsorge oder -versorgung;
  • praktizieren SM – oder lehnen SM ab;
  • sind bisexuell, haben ein entspanntes Verhältnis zu Bisexuellen – oder auch nicht;
  • sind Frauen und Männer und/oder vieles dazwischen;
  • sind Intersexuelle oder Transsexuelle;
  • sind behindert – oder nicht behindert;
  • kommen aus EU-Mitgliedsländern oder leben als Geduldete in prekären Situationen;
  • sind mit mehrfachen Traumatisierungen aus Kriegs- und Krisenregionen in die BRD gekommen;
  • werden besonders stark unter den «Reformen am Arbeitsmarkt» (HARTZ IV) zu leiden haben;
  • sind in der BRD geboren und besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft;
  • sind «ganze Männer», die ihre Partner/innen schlagen;
  • haben Kinder aus bestehenden oder vergangenen Beziehungen;
  • wurden zwangsweise mit einer Person verheiratet, damit der Schein gewahrt bleibt;
  • sind alte und junge Menschen – mit den dazugehörigen Besonderheiten;
  • haben einen eingeschränkten oder privilegierten Zugang zum Arbeitsmarkt;
  • gehören keiner «anerkannten Minderheit» an; ihre Existenz wird deswegen doppelt und dreifach geleugnet – deswegen sind sie besonders «unsichtbar»;
  • sind aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechts oder ihrer Geschlechts(un)eindeutigkeit privilegiert oder unterprivilegiert

Wer ist «ethnisiert»?

Ich benutze den Begriff «ethnische Minderheit» hier nicht, weil er ganz gewichtige Dinge nicht deutlich genug zeigt: Zum einen existiert keine «ethnische Mehrheit», die ihm entgegengesetzt werden könnte: Wie wir von Judy Gummich gehört haben, ist die Kategorie «Weißsein» für viele Weiße nichts, womit sie ihr Selbst beschreiben würden. Viele Weiße, die sich als progressiv beschreiben würden, wundern sich sogar, dass race als «Rasse» in den Antidiskriminierungskanon der EU aufgenommen wurde. So ist Eisbein selbstverständlich nicht «ethnic food», wohingegen Hürriyet quasi natürlich zur «ethnischen Presse» gehört.

Zum anderen aber ist der Begriff der Ethnizität erst einmal neutral und nicht markierend. Oder besser: aussagelos. Entscheidend wird er erst, wenn über Zuschreibungen bestimmte Ethnizitäten mit besonderen Werten markiert und – in der Regel – abgewertet werden. Die Hierarchisierung erst innerhalb der Kategorie Ethnizität gibt ihr den Wert, den sie zur Zeit genießt. In diesem Sinn sind people of colour, aber auch Jüdinnen und Juden «ethnisiert», selbst wenn sie hellhäutig und nicht auf den ersten Blick als solche erkennbar sind. Die Zweiheit «Juden und Deutsche» etwa wird, über jede Erfahrung erhaben, wahrscheinlich in alle Zukunft bestehen, obwohl die wenigsten Mehrheitsdeutschen sagen würden, dass «deutsch» und «christlich» ursächlich miteinander verbunden sind.

Ansonsten ist es aber ohnehin nicht sehr entscheidend, ob sich eine Gruppe tatsächlich und zahlenmäßig in der Minderheitenposition befindet. Wie das Beispiel Südafrika zeigt, das Judy Gummich erwähnte, oder auch die grundsätzlich marginalisierte Gruppe «Frauen», muss hier eher von gesellschaftlicher Macht-Verteilung gesprochen werden.

Wer ist «queer»?

Queer sind alle, die in die heterosexistische Norm des Begehrens und den Zwang zur Reproduktion mit all ihren alltagsprägenden Auswirkungen nicht passen. Dazu gehört sicher auch die Vorgabe Geschlechtseindeutigkeit (und damit verbunden: die Abwertung des einen Geschlechts). Traditionell haben die Begriffe «lesbisch» und «schwul» dabei als ebenfalls monosexuelle Gegenspieler von «heterosexuell» hergehalten – und haben auf dem Gebiet der «sexuellen Orientierung» das nachvollzogen, was im Geschlechterverhältnis angelegt ist: Wer dazwischen liegt, wird nicht geduldet; Trans- und Intersexuelle sind den traditionellen («authentischen») «Frauen» und «Männern» das, was den «Lesben» und «Schwulen» Bisexuelle sind – eine Gefahr.

In dem Maß, wie sich «Heterosexualität» nun aufzulösen beginnt, verwischen auch zunehmend die Grenzen «lesbischer» und «schwuler» Identitäten. Während heute «Heterosexuelle» viel weniger «Frauen» bzw. «Männer» sind als etwa vor 30 Jahren, scheint es «Homosexuellen» schwerer zu fallen, Abschied von dieser Stütze der Identität zu nehmen. «Queer» eröffnet hier eine Perspektive.

Unter Umständen können auch heterosexuelle Praktiken und Heterosexuelle queer sein. Leider ist heute aber nicht das Thema, was wir als «queer» definieren, deswegen kann ich aus Gründen der Zeit-Effizienz nichts zu diesem Thema sagen.

«Queer» ist nicht so gefährlich wie «schwul» und «lesbisch»!?

Viele, die nach der hier gewählten Terminologie «queer» wären, würden diesen Begriff nicht als Selbstbezeichnung wählen, weil sie der Meinung wären, dass «queer» eine Flucht darstellt. Wie beim in vielen Sprachen ebenfalls angeeigneten «gay» und «lesbian» ist «queer» in gewisser Hinsicht eine «ungefährliche» Selbstbezeichnung – niemand wird deswegen zusammengeschlagen, weil sie/er «queer» ist. Andere Selbstbezeichnungen, die aus den eigenen kulturellen Kontexten stammen und nicht so klinisch rein klingen, sind da riskanter (etwa «Schwuchtel» im Deutschen oder «dönme» [abwertend, «Transe»] im Türkischen).

In diesem Sinn kann ich niemandem einen Vorwurf machen, die sich «lesbisch» nennt oder «schwul». Aus meiner Arbeit bei Gays & Lesbians aus der Türkei weiß ich zu gut, dass bereits ein «homosexuelles» Coming Out und das folgende Leben schwer genug sind.

Queer ist aber auch leichter als «schwul»

Andererseits weiß ich aus eigener Erfahrung und Anschauung, dass «schwul» auch eine Menge Nachteile bringt. Ich bin in Berlin aufgewachsen und hatte irgendwann ein Coming Out als Schwuler; ich hatte schwule Freunde, nicht-schwule Freundinnen und Freunde, die mein Schwul-Sein akzeptierten, im Fernsehen kamen Schwule und die Zeitschriften, die ich las, waren von und für Schwule.

Was lag da näher als ein eigenes Schwulsein? Allerdings gab es weder in meiner Muttersprache noch in meiner Familie noch in meinem türkischen und kurdischen Freundeskreis etwas, das einem Schwul-Sein entsprach. – Ich war etwas, das stand fest, und ich hatte nun ein Wort dafür gefunden, ein Wort allerdings, das für mich in meinem Türkisch-Sein nicht existierte. Je mehr ich schwul wurde, desto weniger blieb ich türkisch. Meine Homosexualität war quasi das Entrebillet in die deutsche Gesellschaft. Diese Erfahrung – so bin ich überzeugt –, machen sicher alle kurdischen und türkischen Frauen und Männer in der BRD. Ich maße mir sogar an zu sagen, dass dies ebenfalls für Jüdinnen und Juden und Schwarze gilt.

Dass dies dauerhaft nicht haltbar war, wurde mir im Lauf meiner Politisierung klar. In mehrheitsdeutschen Vereinen, Gruppen, Zusammenhängen und selbst in der Nachbarschaft war ich «einer von uns» – etwas, das in meinem Selbstverständnis keine Entsprechung hatte. Denn für mich war ich weiterhin der kleine Junge, der mit 13 gesiezt wurde, weil er so gut Deutsch sprach, während sein Vater noch mit 50 geduzt wird. Ich war der 18–Jährige, der am Ostbahnhof zusammengeschlagen wurde, weil er Türkisch sprach. Ich war der 18–, 19–, 22– und 25–Jährige, dessen Kumpels nicht ins Irish Pub oder in die Disko kamen, ich war der 29–Jährige, der die «Privatparty» in Tom’s Bar nicht besuchen konnte, obwohl alle (!) anderen hineinkamen. Ich stand am Pariser Flughafen und konnte nicht einreisen, weil ich nicht wusste, dass Frankreich das Schengener Abkommen ausgesetzt hatte. Und, und, und…

Es ist sehr schwierig, solche Dinge im eigenen Kopf austragen zu müssen, obwohl das sicher kleinere Traumata sind im Vergleich zu so vielen anderen Menschen. Wir alle tragen eine Vielzahl von Verletzungen, Empfindlichkeiten und Ängsten mit uns herum, die nicht nur Haarspaltereien sind. Jedes Mal, wenn jemand «entschuldigend» sagt: «Wir müssen doch nicht soo p.c. sein, oder?», höre ich: «Lass mich in Ruhe mit deinem unbedeutenden Scheiß!» Besonders wohl gesonnen wirkt das nicht, wo doch aber allenthalben die Rede ist von «Integration», «Interkulturalität» und «Diversität».

Auf der anderen Seite ist es nicht einfacher: Die türkische und kurdische Gesellschaft ist nicht gerade willig, Tabus um Gender, Gewalt und Sexualität zu lüften. Zwangsverheiratung, Pass- und Geldentzug, Mord und Selbstmord, Isolation oder das Gerede von Krankheit und/oder Sünde fördern nicht das Zugehörigkeitsgefühl.

So banal es klingt, so wenig banal ist es: Unser Selbst ist Vielheit, (Selbst-) Widerspruch, und Fluss. So bin ich weder «schwul» wie Claus Nachtwey, der vor mir gesprochen hat, noch bin ich «Türke» wie Kenan Kolat, der vor mir sitzt. Aber ich bin auch nicht die Kombination aus beidem und beiden – die starre Identität «Türke» und die starre Identität «schwul» schließen einander aus, oder scheinen zumindest unversöhnlich. «Schwuler Türke», das ist eine Phantasie von schwulen Mehrheitsdeutschen, die denken, dass bei uns alles so funktioniert wie bei ihnen, wenn sie vom Dorf in die Großstadt ziehen, oder von heterosexuellen Türken, die (auf eine andere Art) meinen, eigentlich sei man so wie sie. In Wahrheit fordert unsere Existenz diese Essentialismen heraus.

Allein durch den Glauben an eine Möglichkeit des Dazugehörens unterdrücken wir uns vielfach schon selbst. Das resultiert sicher aus einer großen Portion internalisierter Homophobie und einer mindestens genau so großen Portion von internalisiertem Rassismus.

Eine nicht-essentialistische Herangehensweise an meine Person gibt mir die Möglichkeit, mich anders zu beschreiben als es mit den notwendig unvollständigen Identitäten («Türke», «schwul»). Der Begriff «queer» erlaubt es mir (mir – und nicht einem oder mehreren Teilen von mir), «ich» zu mir zu sagen. Denn ich bin nicht nur Türke und schwuler Mann, ich habe mich immer aufs Neue als Mittelschichtangehöriger zu reflektieren, der in einer sehr komplexen Situation lebt. Als sozial relativ gut abgesicherter «Abitur-Türke» habe ich es da um einiges leichter – und doch ist es schwierig genug zu verstehen, was alles so passiert in meinem Denken und Fühlen und Begehren.

Was ist denn so kompliziert?

Ein Umstand, den eigentlich auf Mehrheitsdeutsche sehr gut verstehen könnten, der quasi offen-sichtlich ist und doch über das assimilierende Denken in der Dominanzkultur immer wieder verschwindet, ist die Bedingtheit unseres Selbst. Wir bewegen uns immer an den Schnittpunkten ganz unterschiedlicher Faktoren, die uns je spezifisch prägen. Ich bin nicht nur «Mann» und «schwul» und «türkisch» und «Mittelschicht», nicht «behindert» und in der Phase meines Lebens, in der ich für die werbende Industrie besonders interessant bin, sondern ich bin alles zusammen. Meine Ethnizität ist sexualisiert, wie meine Sexualität ethnisiert ist; meine Hautfarbe hat Auswirkungen auf meine Schichtzugehörigkeit, mein Alter auf mein Geschlecht usw. Ich stelle mir mich als komplexes Verweisungssystem vor, das ich maximal mit beeinflusse, das aber hauptsächlich schon Vorkehrungen für «mich» getroffen hat. Für den Fall, dass ich mich über dieses ungeschriebene Gesetz hinwegsetzte (z.B. Anatomie Frau, Geschlecht Mann), weicht mein Bild von mir so weit vom gesellschaftlichen Blick ab, dass ich garantiert Schwierigkeiten bekomme.

Friede, Freude, Queer?

In diesem eben erwähnten Sinn ist Schwul-Sein eine Form von ethnisierter gleichgeschlechtlicher Sexualität oder sexualisierter Ethnizität, es eine legitime, beileibe aber nicht die für alle verbindliche sexuelle Identität – und vor allem ist es nicht meine. Es gibt eine Vielzahl von Namen, die sich aus den jeweils spezifischen Bedingtheiten ergeben, und «queer» ist der Begriff, der im Gegensatz zu «lesbisch und schwul» – oder «LSBTT» all das umfasst. In «queer» sind Bedingungen, Geschlecht/Geschlechtsidentität, Geschichte, Ökonomie, Ethnizität, Behinderung, Uneindeutigkeiten und vieles mehr drin. Potentiell ist es also etwas, in dem Ausschlüsse und Hierarchien nicht von Anfang an gesetzt sind.

Ich sagte «potentiell», denn natürlich gibt es auch in queeren Zusammenhängen Ausschlüsse und Hierarchien. Frauen und «Minderheiten» sind grundsätzlich unterrepräsentiert, auch wenn sich die Zusammenhänge explizit als «antisexistisch» und «antirassistisch» verstehen. Oft genug ist ja auch zu hören, dass es gar nicht so viele «Ethnoqueers» (İpek İpekçioğlu) gebe oder dass sie sich alle versteckten. Eine zwar nicht belegbare aber nichtsdestotrotz wunderbare Antwort, um die selbst praktizierte Unterdrückung nicht thematisieren zu müssen.

Im Gegensatz zu den starren und essentialistischen Begriffen «lesbisch» und «schwul», die in der Regel das gesamte Spektrum abdecken sollen, bietet aber «queer» immerhin die Möglichkeit, das Selbst in seiner Gänze (mit allen Überschneidungen, Widersprüchen, historischen und ökonomischen Bedingungen, Herkünften, Geschlechtsidentitäten, Bisexualitäten…) beim Namen zu nennen. Und das Wichtigste an der ganzen Sache ist, dass nicht nur die selbst «Betroffenen» davon profitieren: Es ist zwar kein entscheidender Punkt, aber ein weiterer Vorteil, dass die Erfahrungen von ethnisierten Queers für alle (Nicht-Ethnisierte, Nicht-Queere, Ethnisierte, Queere) nützlich sein können, weil sie ihnen zwanghafte Illusionen nehmen und neue reale Möglichkeiten bieten.

Parallelgesellschaften und Koalitionen

Es ist kein hübsches Wort, wenn man dem gängigen Sprachgebrauch folgt: Wie seit jeher «der Staat im Staate» gegeißelt wurde, wenn es um Jüdinnen und Juden ging, spricht man seit einiger Zeit von Parallelgesellschaften so, als ob dort der Untergang des Landes vorbereitet werde. Dabei sind Parallelgesellschaften sehr nützliche Sachen. Zum Beispiel halfen sie der Frauenbewegung und der lesbisch-schwulen Emanzipationsbewegung, zu sich zu finden, um nicht allein gegen Unterdrückung kämpfen zu müssen. Sie helfen einer Vielzahl Ethnisierter, mal vom alltäglichen Rassismus «Urlaub» zu nehmen. Einer ganzen Reihe von Gruppen wäre es zu wünschen, gut funktionierende Parallelgesellschaften zu haben, die ihnen die psychologische, materielle oder schlicht emotionale Versorgung bieten, die ihnen andernorts verweigert wird.

Sehr groß ist in der Bundesrepublik der Druck, im Ganzen aufgehen zu müssen, um gute Lebensbedingungen zu haben. Selbst wenn es dafür reale Möglichkeiten gäbe, wäre die Frage, warum das notwendig sein soll, dringend zu stellen. Schwule Soldaten und lesbische Soldatinnen und die «Homo-Ehe» sind eher abschreckende Beispiele für ein Ankommen in der Mitte der Gesellschaft: Statt Zwangsdienste abzuschaffen oder unsinnigerweise bestehende Privilegien abzubauen, zielten die Bemühungen vor allem von Schwulen darauf, endlich so zu sein wie alle.

Mein Politisierungsprozess wäre nicht so weit geschritten, wäre ich «wie alle» geworden und hätte nicht andere Menschen kennengelernt, die mir ähnlich sind. Das sind nicht die Leute, die ihre Herkunft, Religion, ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht und ihre Geschlechtseindeutigkeit ausblenden, obwohl sie sie haben. Es sind die Menschen, die sagen, ich bin eine albanische Frau, die behindert ist und von ALG II lebt, weil sie nie und nimmer eine Arbeit finden wird. Es sind die Menschen, die sagen, ich bin eine Transe, ein Kanake, ein Afrodeutscher, eine Schwuchtel, ein Asylant, ich bin hier nur «geduldet», auch wenn das nicht mehr so heißt.

Aber wo sind die denn alle?

Da viele ethnisierte Queers ähnliche und zusätzliche Ausschluss-Erfahrungen machen, ziehen sich oft selbst diejenigen zurück, die einmal kämpfen wollten, um so sein zu können, wie sie es nun einmal sind und wollen. Viele, die nicht vollkommen resigniert sind, arbeiten in queeren, andere in herkunftsorientierten Zusammenhängen und verzichten dann darauf, ihre Ethnizität oder ihr Queersein zu thematisieren. Andere gründen und unterhalten Gruppen und Organisationen von «lesbischen Migrantinnen und schwarzen Lesben», ex-jugoslawischen LSBTT, türkeistämmigen Lesben und Schwulen, jüdischen Lesben und Schwulen usw.

Diesen Gruppen von Queeren und Ethnisierten kommt eine enorme Bedeutung zu, denn hier ist ein Forum, in dem sie – in dem wir – zur Sprache kommen. Und zwar nicht als hilfsbedürftige Objekte für mehrheitsdeutsche Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, sondern als Subjekte. Es ist schwer genug, in dieser Gesellschaft zu Wort zu kommen, aber quasi unmöglich, wenn man nicht wenigstens mehrheitsdeutsch oder heterosexuell «ethnisch» ist. In unseren eigenen Gruppen, Vereinen, Zirkeln – zumal wenn sie einen eigenen Ort haben –, gibt es keine Bevormundung durch Eltern oder Mehrheitsgesellschaft; Rassismus, Antisemitismus, Homo-, Trans- oder Biphobie müssen draußen bleiben – zumindest dann, wenn wir unseren Blick auf interne Ausschlussmechanismen richten.

In diesem Sinn ist eine essentialistische Identitätspolitik notwendig. In diesem Sinn muss ich, je nach Kontext, «natürlich» in mehrheitsdeutschen Kreisen auf mein Türkischsein bestehen und in nicht-queeren türkischen Zusammenhängen auf mein Queersein. Nur so gerät die Starrheit dieser eingebildeten, konstruierten Identitäten in Fluss und nur so wird man gemeinsam für und gemeinsam gegen einander etwas auf die Beine stellen können.

Wir müssen lernen, Identität als etwas Strategisches zu benutzen. In sinnvollen Koalitionen – auch mit Mehrheitsdeutschen, um nicht missverstanden zu werden, aber nicht nur mit Mehrheitsdeutschen. Es ist beispielsweise zwecklos, mich in einem gemischten Raum mit Mehrheitsdeutschen über Rassismus zu unterhalten, es kann aber Sinn haben, gemeinsam mit Mehrheitsdeutschen für die Umsetzung eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes zu kämpfen.

Um in diesen Koalitionen bestehen und auf Augenhöhe miteinander reden zu können, wenn das überhaupt möglich ist, brauchen wir neben unseren Partys und Freundschaften auch funktionierende Infrastrukturen und Zeit und Kraft und Muße, um uns, unter uns, zu verständigen. Dabei müssen wir neben der Unterdrückung durch diejenigen, die uns marginalisieren oder in die Position von Minderheiten drücken, sprechen, vor allem aber auch über unsere eigenen Unterdrückungs- und Ausschlussmechanismen. Ansonsten machen wir nichts besser, sondern vieles schlechter.

Anregungen, Kritiken, Ergänzungen, Meinungen: k.yilmaz-gunay@web.de.

P.S.: Obwohl es selbstverständlich ist, möchte ich trotzdem noch einmal ganz explizit darauf hinweisen, dass das hier Gesagte eine sehr subjektive Sicht auf eine sehr komplexe und komplizierte Situation wirft. Ich möchte deswegen weder allgemeine Gültigkeit behaupten noch wissenschaftliche Objektivität vortäuschen. Es gibt – das liegt in der Natur der Dinge – sehr wenig Literatur zum Thema.

P.P.S.: Jinthana Haritaworn hat mir im Vorfeld unendlich viele Anregungen und viel Stoff zum Nachdenken gegeben. (Dies ist für mich eine Art Zwischenbericht.) Der Vortrag von Jason Ferguson auf der Queer & Ethnizität-Konferenz (QEKON) vom April 2003, der demnächst unter dem Titel «An Oppressive Desire to Whiteness: Some Thoughts» in der Dokumentation der Veranstaltung erscheinen wird, ist eine riesige Quelle der Inspiration gewesen. Jennifer Petzen hat mir durch ihre Fragen und Antworten sehr geholfen. Ich danke den dreien von Herzen.

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