Koray Yılmaz-Günay, Salih Alexander (2010): → Wer darf Deutscher sein? In: → Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft, Heft 22 vom 13. November 2010, Seiten 860–862.
Ob es den Deutschen nicht auffalle, dass keine andere Nation «so häufig sich darauf beruft, eine zu sein», fragte sich Karl Kraus nach 1933. In «Die dritte Walpurgisnacht» mokierte er sich über «immer neue Begriffsbestimmungen» der NS-Propaganda: «‹Der deutsche Mensch›, ‹der deutsche Arbeitsmensch›, das Staatsvolk, der Reichsbürger, der dem Reichsvolk zugehört, und dergleichen mehr, womit sich der Armut keine Stulle belegt.» Gegenwärtig macht zwar die «Nation», von der es hierzulande nie eine breit akzeptierte vernünftige Idee gab, noch immer etwas zurückhaltender von sich reden als damals, und schon gar nicht bekennt sie sich offen zu der «Volksgemeinschaft», als die sie sich unter dem deutschen Faschismus definierte. Aber die Vorstellung davon sitzt tief, und die «Lautsprecher von Natur», denen wir uns nach Kraus ausgeliefert haben, rufen sie unter anderem Titel nicht zufällig jetzt wach, da der von oben aufgekündigte «Sozialstaatskompromiss» niemanden mehr über gesellschaftliche Verhältnisse zu täuschen vermag und Alternativen gefragt wären. Das gelang nicht erst mit dem beispiellosen Medienhype um Sarrazins rassistisches Pamphlet, sondern die alte, im einschlägigen NS-Schrifttum angestachelte Angst vor der «Entnordung des deutschen Volkes» steckt auch hinter scheinbar viel rationaleren Beiträgen zur sogenannten Integrationsdebatte. Das zeigt sich in einem neuen Zweig der Wissenschaft: der Jugendliche-mit-Migrationshintergrund-Forschung.
Dabei ist das «Deutschland», das sich laut Sarrazin abschafft, nicht die real existierende Bundesrepublik. Es ist vielmehr die Halluzination, die auch die NPD meinte, als sie dem Schwarzen Nationalspieler Asamoah bei der Weltmeisterschaft 2006 attestierte: «Nein Gerald, du bist nicht Deutschland. Du bist BRD!» Denn äußere Grenzen, die Verfassung oder die tatsächliche Zusammensetzung der Bevölkerung spielen beim Appell an das hegemoniale «Wir» keine Rolle: Deutsch ist, wer von Deutschen abstammt, die Staatsangehörigkeit ändert daran nichts. So steht es einerseits Menschen, die niemals zu irgendeinem Deutschland gehörten, auch nach dem im Jahr 2000 reformierten Staatsbürgerschaftsrecht frei, aufgrund mythischer Blutsbande einzuwandern, während andererseits Generationen von hier geborenen Menschen im eigenen Land außen vor bleiben. Das Begriffspaar «Deutsche und Juden» bezeugt es ebenso wie die verbreitete Annahme, Schwarze oder Roma könnten keine «Deutschen» sein. Denn Deutsche sind weiß, Deutsche sind sesshaft, Deutsche sind christlich.
Dennoch lässt sich nicht mehr leugnen, dass das Land zur Migrationsgesellschaft geworden ist. In den 1980er Jahren, als prozentual mehr Menschen aus anderen Ländern nach Westdeutschland als nach Kanada oder Australien «zu»wanderten (wie es im verdrucksten CDU-Jargon heißt, der in die Amtssprache übernommen wurde), verdrängten die Bundesregierungen unter Kohl diese Realität und boten Rückkehrprämien an. Und heute, da es mehr Auswanderer aus Deutschland als Neuankömmlinge gibt und die Rhetorik vom Boot, das voll sei, nicht mehr zieht, drückt sich in der allgegenwärtigen Klage über «Integrationsdefizite» vor allem die fortgesetzte Verweigerungshaltung der maßgeblichen Institutionen von Staat und Gesellschaft aus. Doch in vielen Großstädten sind die Jugendlichen «mit Migrationshintergrund» längst die Mehrzahl in ihrer Altersgruppe – Tendenz steigend.
Wer diese jungen Menschen sind, will eine im Juni veröffentlichte Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer nicht herausfinden – sie setzt dieses Wissen voraus: ein Vor-Wissen. Beantworten sollen sie Fragen wie diese: »Wie oft wurdest du in den letzten zwölf Monaten, weil du kein Deutscher bist, unhöflich behandelt?« Weil du kein Deutscher bist. Wer durchgehend so adressiert wird und schließlich bei Frage 90 des Bogens für »Nicht-Deutsche« ankreuzt, daß er sich »Deutschland verbunden« fühlt, muß etwas begriffsstutzig sein – offenbar ein Indikator für gelingende Integration. Und immerhin 21,6 Prozent der als »muslimisch« identifizierten 14- bis 16-Jährigen unter den 45.000 Jugendlichen, die das von Pfeiffer geleitete Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen 2007/2008 bundesweit befragte, nehmen sich selbst als Deutsche wahr. Bei den »christlichen« Teenagern »nicht-deutscher« Herkunft sind es sogar 57,4 Prozent – was daran liegen mag, daß ihnen nicht tagtäglich von den Leitmedien »der Islam« als das ganz Andere gepredigt wird, zu dem sie angeblich gehören. Im Übrigen verträgt sich Pfeiffers Einschätzung, wie ernst es jemand mit dem Glauben meint, gut mit dem zeitgenössischen christlichen Selbstverständnis, dem schon als »sehr religiös« unangenehm auffällt, wer nicht bloß zu Weihnachten in die Kirche geht. Dagegen wird hier noch der laue Muslim, der nur eins der fünf täglichen Pflichtgebete seiner Religion hält, als Eiferer erfaßt.
So bestätigt, was bei dieser Erhebung über den vermuteten Zusammenhang von Religiosität und Delinquenz herauskommt, noch stets die Vorgaben, nach denen sie angestellt wurde: Unsere Gesellschaft teilt sich in Deutsche und Nicht-Deutsche, Erstere sind die Norm, Letztere das Problem. Damit man beide besser vergleichen kann, bekommen sie, je nach biologischer Abstammung, unterschiedliche Fragebögen: Ein »nicht-deutsches« leibliches Elternteil macht auch ein Kind der dritten Einwanderer-Generation zum »Ausländer«. Weil sich solche Wissenschaft für Sozialisation nicht interessiert, gibt es auch keine Ausnahme für Adoptierte. Dafür dürfen sich die jungen Probandinnen und Probanden selbst in der Zuordnung von Menschen nach phänotypischen Merkmalen üben. So werden beispielsweise Opfer von Gewalttaten aufgefordert, die vermutete Nationalität des Täters oder der Täterin anzugeben. Andererseits werden ihnen zusätzliche Kompetenzen als Mangel ausgelegt: Wer etwa perfekt Deutsch kann, aber im Familienkreis Türkisch spricht, dem fehlt es nach Pfeiffer an »kognitiver Integration«. Und erst recht nicht integriert sind »nicht-deutsche« Jugendliche, die – aus welchen Gründen auch immer – nach der Schulzeit lieber arbeiten gehen würden, statt das Abitur zu machen.
In der rechtspopulistischen Welle, die ganz Europa ergriffen hat, ist überall das antimuslimische Ressentiment wirksam. Aber im biologistischen Rassismus, wie er auch die »Pfeiffer-Studie« kennzeichnet, auf die sich Kanzlerin Merkel schon berufen hat – während sie Sarrazins Machwerk bekanntlich »nicht hilfreich« findet –, lebt die besondere deutsche Spielart des allgemeinen Wahns beängstigend wieder auf.
Dabei ist das «Deutschland», das sich laut Sarrazin abschafft, nicht die real existierende Bundesrepublik. Es ist vielmehr die Halluzination, die auch die NPD meinte, als sie dem Schwarzen Nationalspieler Asamoah bei der Weltmeisterschaft 2006 attestierte: «Nein Gerald, du bist nicht Deutschland. Du bist BRD!» Denn äußere Grenzen, die Verfassung oder die tatsächliche Zusammensetzung der Bevölkerung spielen beim Appell an das hegemoniale «Wir» keine Rolle: Deutsch ist, wer von Deutschen abstammt, die Staatsangehörigkeit ändert daran nichts. So steht es einerseits Menschen, die niemals zu irgendeinem Deutschland gehörten, auch nach dem im Jahr 2000 reformierten Staatsbürgerschaftsrecht frei, aufgrund mythischer Blutsbande einzuwandern, während andererseits Generationen von hier geborenen Menschen im eigenen Land außen vor bleiben. Das Begriffspaar «Deutsche und Juden» bezeugt es ebenso wie die verbreitete Annahme, Schwarze oder Roma könnten keine «Deutschen» sein. Denn Deutsche sind weiß, Deutsche sind sesshaft, Deutsche sind christlich.
Dennoch lässt sich nicht mehr leugnen, dass das Land zur Migrationsgesellschaft geworden ist. In den 1980er Jahren, als prozentual mehr Menschen aus anderen Ländern nach Westdeutschland als nach Kanada oder Australien «zu»wanderten (wie es im verdrucksten CDU-Jargon heißt, der in die Amtssprache übernommen wurde), verdrängten die Bundesregierungen unter Kohl diese Realität und boten Rückkehrprämien an. Und heute, da es mehr Auswanderer aus Deutschland als Neuankömmlinge gibt und die Rhetorik vom Boot, das voll sei, nicht mehr zieht, drückt sich in der allgegenwärtigen Klage über «Integrationsdefizite» vor allem die fortgesetzte Verweigerungshaltung der maßgeblichen Institutionen von Staat und Gesellschaft aus. Doch in vielen Großstädten sind die Jugendlichen «mit Migrationshintergrund» längst die Mehrzahl ihrer Altersgruppe – Tendenz steigend.
Wer diese jungen Menschen sind, will eine im Juni veröffentlichte Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer nicht herausfinden – sie setzt dieses Wissen voraus: ein Vor-Wissen. Beantworten sollen sie Fragen wie diese: «Wie oft wurdest du in den letzten zwölf Monaten, weil du kein Deutscher bist, unhöflich behandelt?» Weil du kein Deutscher bist. Wer durchgehend so adressiert wird und schließlich bei Frage 90 des Bogens für «Nicht-Deutsche» ankreuzt, dass er sich «Deutschland verbunden» fühlt, muss etwas begriffsstutzig sein – offenbar ein Indikator für gelingende Integration. Und immerhin 21,6 Prozent der als «muslimisch» identifizierten 14– bis 16–Jährigen unter den 45.000 Jugendlichen, die das von Pfeiffer geleitete Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen 2007/2008 bundesweit befragte, nehmen sich selbst als Deutsche wahr. Bei den «christlichen» Teenagern «nicht-deutscher» Herkunft sind es sogar 57,4 Prozent – was daran liegen mag, dass ihnen nicht tagtäglich von den Leitmedien «der Islam» als das ganz Andere gepredigt wird, zu dem sie angeblich gehören. Im Übrigen verträgt sich Pfeiffers Einschätzung, wie ernst es jemand mit dem Glauben meint, gut mit dem zeitgenössischen christlichen Selbstverständnis, dem schon als «sehr religiös» unangenehm auffällt, wer nicht bloß zu Weihnachten in die Kirche geht. Dagegen wird hier noch der laue Muslim, der nur eins der fünf täglichen Pflichtgebete seiner Religion hält, als Eiferer erfasst.
So bestätigt, was bei dieser Erhebung über den vermuteten Zusammenhang von Religiosität und Delinquenz herauskommt, noch stets die Vorgaben, nach denen sie angestellt wurde: Unsere Gesellschaft teilt sich in Deutsche und Nicht-Deutsche, Erstere sind die Norm, Letztere das Problem. Damit man beide besser vergleichen kann, bekommen sie, je nach biologischer Abstammung, unterschiedliche Fragebögen: Ein «nicht-deutsches» leibliches Elternteil macht auch ein Kind der dritten Einwanderer-Generation zum «Ausländer». Weil sich solche Wissenschaft für Sozialisation nicht interessiert, gibt es auch keine Ausnahme für Adoptierte. Dafür dürfen sich die jungen Probandinnen und Probanden selbst in der Zuordnung von Menschen nach phänotypischen Merkmalen üben. So werden beispielsweise Opfer von Gewalttaten aufgefordert, die vermutete Nationalität des Täters oder der Täterin anzugeben. Andererseits werden ihnen zusätzliche Kompetenzen als Mangel ausgelegt: Wer etwa perfekt Deutsch kann, aber im Familienkreis Türkisch spricht, dem fehlt es nach Pfeiffer an «kognitiver Integration». Und erst recht nicht integriert sind «nicht-deutsche» Jugendliche, die – aus welchen Gründen auch immer – nach der Schulzeit lieber arbeiten gehen würden, statt das Abitur zu machen.
In der rechtspopulistischen Welle, die ganz Europa ergriffen hat, ist überall das antimuslimische Ressentiment wirksam. Aber im biologistischen Rassismus, wie er auch die «Pfeiffer-Studie» kennzeichnet, auf die sich Kanzlerin Merkel schon berufen hat – während sie Sarrazins Machwerk bekanntlich «nicht hilfreich» findet –, lebt die besondere deutsche Spielart des allgemeinen Wahns beängstigend wieder auf.