Rezension zu Tunay Önder, Imad Mustafa (März 2016): → Migrantenstadl. (= Insurrection Notes 7). Münster: → Unrast.
256 Seiten, Broschur
ISBN-13: 978–3–89771–607–0 (lieferbar)
Die Rezension ist zuerst erschienen in: → Das Argument 319, Heft 4/2016, Seiten 760–762.
Der kritische Teil der Sozialwissenschaften hat seit einiger Zeit ein Steckenpferd. Er möchte in gewichtigen, aus angelsächsischen Debatten übernommenen Begriffen (»Intersektionalität«, »Interdependenz«) beschreiben, wie Herrschaftsverhältnisse – insbesondere Klassenunterdrückung, Rassismus und Sexismus – zusammenwirken. Dass sozialistische Frauenbewegungen seit bald einhundert Jahren zumindest auf die Verschränkungen von Klassen- und Geschlechterverhältnissen hinweisen, dass von Schwarzen, Romnja, Jüdinnen, ‹Behinderten› und Migrantinnen spätestens in den 1980er Jahren das Philiströse des bürgerlichen Feminismus kritisiert wurde, der zwar für alle sprechen wollte, dafür aber manche zum Schweigen bringen musste, ist irgendwann in den 1990er Jahren vergessen worden. Eine neue Generation in der Gender- und Queer-Theorie konnte so um die Jahrtausendwende mit ehrlichem Erstaunen entdecken, dass es da offenbar einen grundlegenden Zusammenhang gibt. Dass die Welt sich nicht so einfach in «Wir» und «Die» sortieren lässt.
Es ist das größte Verdienst des Migrantenstadl, beharrlich sowohl auf das gesellschaftliche Geworden-Sein als auch auf die aktuelle Relevanz von «Ein-» und von «Mehrheimischkeit» hinzuweisen, und zwar nicht nur in Bezug auf tatsächliche oder unterstellte «Herkunft», sondern auch auf deren vielfältige Verstrickungen mit gesellschaftlichen Männlichkeiten und Weiblichkeiten. Und damit auch auf die je unterschiedlichen Chancen, «etwas» zu werden: «Wer nicht zufällig eine türkische Mutter oder osteuropäische Verwandtschaft hat, dem erscheint das Putzen wohl als eine Art Zauberei: Warum sonst sprechen diese seltsamen Leute in den Suchanzeigen von ihrer ‹Putzfee›?! Auch wenn der Putzwedel ihrer Putzfrau manchmal so aussieht wie ein Zauberstab, sei darauf hingewiesen, dass die […] ‹Putzperlen› […] den Dreck […] mittels körperlicher Arbeit entfernen» (89). Intersektionalität nicht als importiertes theoretisches Paradigma, sondern als deutscher Sachstand seit Jahrzehnten.
Die Schnittpunkte von race relations, Geschlechter- und Klassenverhältnissen ziehen sich – ganz so, wie sie den gesellschaftlichen und politischen Alltag im Land durchdringen – durch die ersten fünf Jahre des Blogs der Soziologin Tunay Önder und des Soziologen Imad Mustafa, der 2013 für den Grimme Online Award nominiert war und hier zum Buch kompiliert wurde. Eine ebenso plastische wie bestürzende Erkenntnis betrifft die – nicht nur in Zeiten der «Flüchtlingskrise» – von offizieller Seite geforderte Solidarisierung und Hilfeleistung, die sich eben nicht als grundsätzlich andere gesellschaftlich-politische Praxis, sondern als geordnete Privatisierung ehemals staatlicher Aufgaben äußern soll: «Die gesellschaftlichen Autoritäten [fordern] nicht nur Solidarität von uns, sondern schreiben uns auch noch vor, wie diese auszusehen hat: Sie soll sauber, sicher und sachlich sein. […] Unpolitisch, aber perfekt organisiert. […] Ganz sicher aber darf Solidarität nicht in echtem und hitzigem Zusammenhalt sichtbar werden. Wehe, wir stehen wirklich füreinander ein und gehen auf die Straßen.» (20f) Die Teile-und-Herrsche-Strategie wirkt als Ausschluss. Sie lähmt zugleich aber auch die Entwicklung emanzipatorischer Bewegungen, die von der Bevölkerung selbst ausgehen: «Die [wirklich gefickten dieser gesellschaft] gehen nicht vor der ezb campen. warum auch? ham sie doch keine zeit für so’n firlefanz.» (47)
Die Sorgen derjenigen, die bei Occupy tatsächlich unterrepräsentiert sind, kreisen, wie die Serie der immer neuen Aufdeckungen im NSU-Komplex eindrücklich belegt, um existenziellere Fragen. Die Information, dass zur Tatzeit eines der Morde ein V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes am Tatort anwesend war und vermeintlich auf einer Dating-Seite surfte, mobilisiert außerhalb der «betroffenen» Gruppen keine Massen. Die Kenntnis über die tiefen Verstrickungen von staatlichen Stellen mit Neonazi-Netzwerken lähmt die «Einheimischen» geradezu. So waren auf den Demonstrationen in Kassel und Dortmund, die 2006 unmittelbar nach dem neunten Mord unter dem Motto «Kein 10. Opfer» stattfanden, die Angehörigen der Opfer und ihre «Communities» weitgehend unter sich. Jahre vor dem Aufliegen des vermeintlichen «Terror-Trios», als der Staat noch mit exotisch benannten Ermittlungskommissionen («Halbmond», «Bosporus») auf der Suche nach organisierter Kriminalität im ethnisch konstruierten «Milieu» war und antifaschistische Gruppen sich nicht scherten, war der rassistische Hintergrund der Mordserie den «Mehrheimischen» bereits evident.
Der Zynismus hinter diesen Ereignissen äußert sich im Migrantenstadl im derb bildhaft überzeichneten Kommentar: «Die Ermittlungen haben ergeben, dass der Verfassungsschutzbeamte sich im Internetcafé [dem Tatort in Kassel] vermutlich nur einen runtergeholt hat.» (71) Die «wirklichen» interkulturellen Konflikte, die eine gesellschaftliche und mediale Öffentlichkeit «verdienen», scheinen sich demgegenüber in der Fast-Food-Branche abzuspielen. Ein Zeitungsausriss bringt die Absurdität dessen, was zur Nachricht gereicht, zur vollen Geltung: «Fladenbrot geworfen. Erfurt – Nach einem Streit mit einer Kundin hat ein 40-jähriger Döner-Verkäufer die Frau mit Döner-Broten beworfen und sie dabei verletzt. Sie musste ärztlich behandelt werden (dpa).» (84)
Die namentlich nicht gekennzeichneten Alltagsbeobachtungen von Önder und Mustafa spüren, wie die eingestreuten Gastbeiträge, im kleinen Alltags-Wahn den großen Sinn auf: dass alles so bleibe wie es ist. In Form, Länge und Duktus stark verschieden, sind nachdenklich stimmende Texte darunter, auch regelrechte Schläge in die Magengrube; Wortspiele und kurzweilige Text-Bild-Kombinationen, darunter so bestechende wie ein in den Text tränendes ain’tegration (17); Interviews, Buch- und Musikkritiken. Die meisten Beiträge stellen den ominösen «Migrationshintergrund» in den Vordergrund des Textgeschehens. Es gibt Reflexionen über den Genozid am tscherkessischen Volk und über die Olympischen Winterspiele, die Russland auf demselben Boden ausgerichtet hat, über Gastarbeit und Sprache, die Frage, was das «Politische» am «politischen Islam» sei, und die Antwort darauf – nichts: «Bewegungen wie al-Qaida oder ISIS, bei denen die Gewaltanwendung das überragende Merkmal ist und die sich praktisch gar nicht auf einen politischen Aushandlungsprozess einlassen, würde ich aber als regelrecht antipolitisch einstufen.» (Mustafa, 160)
Auch wenn die meisten Themen um das Ausland kreisen, ist das Migrantenstadl vor allem eine Standortbestimmung im Deutschenstadl und zum Inland. Dessen liebgewonnene Gewissheiten werden hier – mal subtiler, mal drastischer, immer aber aus Notwendigkeit – ins Wanken gebracht, weil sie in eine Zeit gehören, die zwar vergangen, längst aber nicht begraben ist. Es gelingt den Institutionen – noch –, den gesellschaftlichen Wandel außen vor zu halten, weil Medien, Schulen, Ämter und Behörden, aber auch der Wohnungs- und der Arbeitsmarkt den Deutschen, die mit «Wörterayntoff» (102f, 214f) aufgewachsen sind, den gleichberechtigten Zugang verwehren. Mit Rancière analysieren Önder/Mustafa den état (Staat und Zustand) der Stockung, die es für ein «richtiges Leben trotz falscher Politik» (184) zu verflüssigen gilt, und plädieren für ein anderes Verständnis von Politik, eines, das «vom Rand her» (33) gedacht wird: Es entstehe dort, «wo sich Sklav_innen, Proletarier_innen, ‹Papierlose›, Asylbewerber_innen zu Wort melden und ihre Ansprüche und Forderungen einklagen. Dieser Ort des Politischen, des genuin demokratischen Streits um die Gestaltung des öffentlichen Lebens, weicht in den gegenwärtigen Demokratien der Logik des Konsenses. Demokratien sind aufgrund ihres konsensuellen Prinzips zu Orten der Entpolitisierung geworden. Es ist treffender, die sogenannten liberalen Demokratien, in denen wir leben, ‹Post-Demokratien› zu nennen. […] Post-Demokratie impliziert ebenso wenig, dass alle Hoffnungen aufgegeben wären. Sie ist primär als entpolitisierte Form der Politik zu verstehen, in der es nur um die Kanalisierung und also staatliche Disziplinierung politischer Energien geht. Post-Demokratie ist also Post-Politik.» (Ebd.)
Dass sich Mustafa/Önder konsequent einer essenzialisierenden Identitätspolitik genauso verweigern wie dem allzu jovialen «Wir sind alle links und also antirassistisch», ist deshalb so erfreulich, weil sie vorschnell hergestellte Interessenidentitäten nicht zulassen. Eine intersektionale Praxis, die Kapitalismus-, Sexismus- und Rassismuskritik nicht hierarchisch, sondern zusammendenkt, braucht genau solche Impulse, wenn sie die Lähmungen unseres «postdemokratischen» Zeitalters überwinden will.