Koray Yılmaz-Günay
Tugendterror

Würde die Polizei die Sonderkommission heute immer noch «Halbmond» nennen?

Für die migrantische Bevölkerung erzeugten die Fehler der Sicherheitsbehörden das eigentliche Gefühl von Unsicherheit. Mehr noch als die Enttarnung des NSU.

Berlin – Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) konnte über Jahre hinweg in der gesamten Bundesrepublik ohne polizeiliche Aufklärung morden. Zehn Menschen fielen ihm zum Opfer. Erst am 4. November 2011 flogen die bekanntesten drei Gesichter durch die sogenannte Selbstenttarnung auf. Erst dann wurden etliche Fehler innerhalb der Sicherheitsbehörden öffentlich, rassistische Ermittlungen wurden bekannt. Hat sich die Bundesrepublik seitdem verändert? Die → Berliner Zeitung am Wochenende [30./31. Oktober 2021] nimmt diesen zehnten Jahrestag zum Anlass, um in einer zehnteiligen Serie Betroffene und Verantwortliche sprechen zu lassen. Wie sehen sie die Vergangenheit? Was hoffen sie für die Zukunft? Hier schreiben Koray Yılmaz-Günay und Nadiye Ünsal vom Migrationsrat Berlin über die Effekte von Rassismus auf die migrantische Bevölkerung.

Als der NSU einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde, herrschten in Politik, Medien, Behörden, aber auch in einem großen Teil der antirassistischen und antifaschistischen Zivilgesellschaft Schockstarre und ehrliches Erstaunen. Morde, Banküberfälle, Bombenanschläge, von denen – zumindest in dieser Tragweite – niemand etwas wusste, war das möglich? Natürlich nicht.

«Aktenzeichen XY… ungelöst» hatte mehrfach darüber berichtet, 2001 zum Beispiel (über den Mord an Enver Şimşek), 2007 zum Beispiel (über die Banküberfall-Serie), 2008 zum Beispiel (über den Mord an Michèle Kiesewetter). Am 6. April 2006 hatten Angehörige und der Freundeskreis des in Kassel ermordeten Halit Yozgat eine Demonstration organisiert, deren zentrale Forderung lautete: «Kein 10. Opfer!» Tausende Menschen, vor allem aus migrantischen Communitys, nahmen teil. Angehörige anderer Opfer, wie Familie Şimşek, waren schon zu diesem Zeitpunkt dabei. Eine weitere Demonstration wurde zwei Monate später von Angehörigen des ermordeten Dortmunders Mehmet Kubaşık organisiert.

Bis heute gilt die Trio-These

Übereinstimmend forderten sie die Aufklärung der Mordserie, brachten einen neonazistischen Hintergrund ins Gespräch. Die Ermittlungsbehörden fischten aber weitere fünf Jahre im Trüben und beschuldigten das Umfeld der Opfer. Bis zu dem Tag, an dem der NSU «aufflog», sich «selbst enttarnte». Die Namen der Ermittlungskommissionen «Halbmond» und «Bosporus» stehen sinnbildlich für eine fortgesetzte Stigmatisierung und Wieder-Traumatisierung von Menschen. Es kann ja, so anscheinend die Haltung der Ermittelnden, wenn es sich bei solchen Taten um migrantische Kleingewerbetreibende handelt, nur die Herkunftskultur sein – die tatsächliche oder die vermeintliche –, die den Schaden verursacht hat.

Die  Mordserie des NSU zielte auch darauf, ein Gefühl der Unsicherheit in migrantischen Communitys zu erzeugen. Die Rede von «Dönermorden» in Medien und von Behörden verhinderte dies in weiten Teilen allerdings, weil der Eindruck verfestigt wurde, es handele sich um ein Problem der ethnisch gefassten Organisierten Kriminalität. Zynischerweise erzeugten erst die vielen staatlichen «Pannen» dieses Gefühl.

Sie sind es, was nach Bekanntwerden des NSU tatsächlich aufflog. Behörden hatten Angehörige schikaniert und belogen, sie schredderten Akten, was das Zeug hielt, auch ihre eigenen Verstrickungen in die Neonaziszene, so auch in ein Netzwerk, das unmöglich aus drei Personen bestand. Trotzdem gilt bis heute die «Trio»-These. Kein Innenminister trat zurück, obwohl kaum ein Rücktrittsgrund in Nachkriegsdeutschland gewichtiger war. Volker Bouffier wurde später sogar Ministerpräsident. Die Komplizenschaft von Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden und die gesellschaftliche Stimmung, in der vor allem gefragt wurde, ob «Deutschland sich abschafft» oder das «Abendland islamisiert» werde, vertieften eine Kluft zwischen Behörden und (Teilen) der migrantischen Bevölkerung, wie es kein neonazistischer Mord hätte schaffen können.

Den NSU-Prozess begleiteten dieselben Debatten, die seit eh und je das «Wir» von den «Anderen» trennen, von denen mit dem «Integrationsproblem». Der sogenannten Mitte der Gesellschaft – und selbst progressiveren Spektren – sind Debatten um besonders sexistische, homophobe oder antisemitische Migrantinnen oder Migranten nicht fremder als rechtspopulistischen Parteien, die das «christlich-jüdische Abendland» vor seinem «Untergang» bewahren wollen.

Die Idee eines aufgeklärten Deutschlands, in das vor allem muslimische Einwanderinnen und Einwanderer überkommene Vorstellungen importieren, wird von pseudo-schwulenfreundlichen Plakaten der AfD genauso in die Öffentlichkeit getragen wie von Alice Schwarzer und ihrem häufig geäußerten «Unbehagen» mit «dem Islam». Vor diesem Hintergrund werden Fragen von Identität und Zugehörigkeit hierzulande verhandelt.

180 Todesfälle seit der Wiedervereinigung sind keine Einzelfälle

Die Abwesenheit einer sinnvollen Rassismus-Definition führt zu Stilblüten wie der, dass «Deutschenfeindlichkeit» Straftatbestand wird. Neben der völkischen Ideologie ist auch das ein Nährboden neonazistischer Morde – und auch der Grund großer Verunsicherung bei Menschen, für die solche Morde nicht der Beginn, sondern das Ende von Rassismus sind.

In solchen Hallräumen kann der Polizeimord an einem Schwarzen Mann in Dessau weiterhin als Selbstmord erscheinen, obwohl – das haben die zivilgesellschaftlich ausgeführten Ermittlungen der  Initiative in Gedenken an Oury Jalloh gezeigt – wirklich alles dagegenspricht. Nur so lässt sich über die 180 Todesfälle in staatlichem Gewahrsam seit der Wiedervereinigung, die die Kampagne Death in Custody recherchiert hat, als «Einzelfall» sprechen.

Die Widerstände, die das Landesantidiskriminierungsgesetz im Sommer 2020 innerhalb der Berliner Polizei verursacht hat, lassen sich besser verstehen, wenn man deren Praxis betrachtet. Razzien in Shishabars finden nicht nur in Hanau statt, wo am 19. Februar 2020 neun Menschen mit Migrationsgeschichte von einem Rassisten auch deswegen ermordet werden konnten, weil der Notausgang auf Anordnung von Sicherheitsbehörden verschlossen war. Gäste sollten nicht fliehen können, wenn die Polizei wieder einmal Personalien aufnimmt.

Anschlag in Halle: Verfahrensfehler wurden nicht wiederholt

Razzien in Shishabars finden in vielen Berliner Bezirken regelmäßig statt, besonders viele in Neukölln. Der Leiter des zuständigen Polizeiabschnitts legitimiert die sogenannten Schwerpunkteinsätze, bei denen zum Teil mehrere Hundert Polizeikräfte eingesetzt werden und zu denen gezielt auch Boulevardmedien eingeladen werden, mit der Absicht, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu stärken. Es ist zwar nicht klar, was die manchmal festgestellte Kohlenmonoxid-Belastung an solchen Orten mit «Organisierter Kriminalität» zu tun hat, es ist aber logisch, dass durch die pauschale Verurteilung und mediale Zurschaustellung gesellschaftliche Spaltung zementiert wird.

Die Frage, wie die Schäden rassistischer Diskurse und Gewalttaten wirksam aufgewogen werden können, beschäftigt uns in Deutschland viel zu selten. So wenig der NSU-Komplex im Münchener Verfahren gegen Beate Zschäpe und einen Teil ihrer Komplizen annähernd ausreichend entwirrt werden konnte, so wenig werden die Schädigungen durch den NSU 2.0, neonazistische Chatgruppen, Cliquen und Taten in Polizeibehörden und bei der Bundeswehr in ihren Auswirkungen auf Einzelpersonen und Communitys analysiert.

Aus zivilgesellschaftlicher Perspektive scheint es sinnvoll, dass Gerichtsverfahren anders geführt werden. Das Verfahren gegen den Täter des Anschlags am 9. Oktober 2019 in Halle ist in diesem Sinn ein ermutigendes Beispiel. Offenbar hatte die Magdeburger Richterin auch aus dem NSU-Prozess gelernt und einen Teil der Fehler nicht wiederholt. Die Angehörigen der Ermordeten und die Überlebenden bekamen im Verfahren ausgiebig Zeit und Raum, ihre Erfahrungen, Analysen und Forderungen einzubringen. Und dennoch wurden auch hier Hierarchisierungen zwischen Opfergruppen wiederholt, auch hier konnte nur ein «Einzeltäter» vor Gericht stehen, weil es bei den Ermittlungsbehörden kaum Kompetenzen gibt, was die neonazistische Vernetzung im virtuellen Raum angeht.

Rassismus beginnt im Kleinkindalter

Was aber tun, wenn – wie in Hanau – kein Gerichtsverfahren stattfinden kann, weil der Täter selbst tot ist? Wir müssen alle miteinander lernen, wie wir die Perspektiven der Überlebenden und Angehörigen von Ermordeten in den Mittelpunkt rücken und in konkrete politische Maßnahmen übersetzen. Das «migrantisch situierte Wissen» (Ayşe Güleç) existiert lange vor jedem Anschlag. Es wird nur kaum zur Kenntnis genommen. Auch und gerade in der medialen Berichterstattung, die allzu oft auf Täterinnen oder Täter schaut und die Sensation sucht. Für diejenigen, die Rassismus als Alltag erleben, steht der «Einzelfall», der vor Gericht verhandelt werden kann, aber nie allein.

Rassismus beginnt für viele schon im Kleinkindalter, er zieht sich durch die Schulzeit, das Arbeitsleben und viele weitere Orte der gesellschaftlichen Teilhabe, er setzt sich auch fort bei den Behörden unseres Staates. Das Gefühl, jederzeit in Habachtstellung sein zu müssen, gestattet es nicht, diese Erfahrungen einzeln zu bearbeiten.

Wie der rassistische Blick am individuellen Opfer nur das Exemplar erkennt, erkennen wir im einzelnen Vorfall die in unserer Gesellschaft strukturelle Dimension des Rassismus. Es reicht längst nicht, über Neonazis zu sprechen, wenn wir uns nicht immer nur symbolisch um die Frage drehen wollen, ob «wir» genug aus der Vergangenheit gelernt haben. Was in Sonntagsreden «eine Schande für Deutschland» genannt wird, ist für andere schlicht Alltag. Das zu verstehen geht besser, wenn mit den Betroffenen gesprochen wird statt über sie.

Koray Yılmaz-Günay ist Aktivist und Verleger. Er leitet die Geschäftsstelle des Berliner Migrationsrates.

Nadiye Ünsal ist ehrenamtlich beim Migrationsrat Berlin tätig, sie ist aktivistische Filmemacherin und Promovendin.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung vom 30./31. Oktober 2021 erschienen. Das Spezial mit dem Titel Kein Schlussstrich findet sich in der Printausgabe auf den Seiten 23–27. Der Artikel ist dort, anders als in der Online-Version, unter dem Titel «Wir müssen mehr mit den Betroffenen sprechen» auf Seite 24 zu finden.

Die weiteren Beiträge im Spezial finden sich hier:

Seite 23 (print):

Seite 24 (print):

  • Joshi (aufgezeichnet von Paul Linke): Und wer organisiert die einzige Demo? Die Antifa (Print: Seite 24).

Seite 25

Seite 26

  • Andreas Kopietz: Die Arbeit ist jetzt grundlegend anders.
  • Fatma K. (aufgezeichnet von Antonia Groß): Wir bleiben vom Staat unabhängig.
  • Benjamin Fredrich: Die Medien haben versagt.

Seite 27

  • Peter Ritter (aufgezeichnet von Maxi Beigang): Eine Terrorserie wäre heute genauso möglich.
  • Lucia Bruns: Eine Auseinandersetzung mit den 90ern steht aus.
  • Andreas Kopietz: Es ist etwas stiller geworden um die Rechtsrockszene.
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