Koray Yılmaz-Günay
Zeitschriften/Blogs

Rosa nicht noch Himmelblau

Koray Yılmaz-Günay (2006): Rosa nicht noch Himmelblau. In: → Gigi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation # 41, (Januar/Februar), Schwerpunkt «Transidentitäten in der Türkei», Seiten 12–14.

Kennerinnen der Szene sprechen von 99 Prozent. Neunundneunzig Prozent, die dann zur Arbeit gehen, wenn die allermeisten längst Feierabend haben. Neunundneunzig Prozent, die keine andere Existenzgrundlage haben als die Sexarbeit. Neunundneunzig Prozent, die vielleicht nichts gegen Prostitution hätten, wenn es eine Alternative zu ihr gäbe. Zwischen willkürlicher Polizeigewalt inklusive Folter und Vergewaltigung auf der einen und Ignoranz auf der anderen Seite müssen nicht nur Transsexuelle ihren Weg finden und gehen, der oft in menschenunwürdige Lebensumstände und quasi immer in gesellschaftliche Isolation mündet. Über Geschlechterverhältnisse und -identitäten in der Türkei Koray Yılmaz-Günay

Wo Sex, Gewalt und Verbrechen zusammenkommen, ist die Auflage sicher – und sind die selbsterklärenden Schlagzeilen der Tageszeitungen immer schon vorher fertig gewesen: «Wieder Transen-Terror in XY». So oder ähnlich – meistens aber so – wird in den türkischen Medien über Transvestiten und Transfrauen berichtet. Zeitweise vergeht kaum ein Abend, an dem die Spätnachrichten nichts über sie zu berichten hätten. Dabei wird als «terroristisch» von Menschen gesprochen, die gegen die Verletzung ihrer elementarsten Rechte vorgehen. Kaum eine Nacht, in der nicht eine verschleppt, geschlagen oder vergewaltigt wird. Statistiken darüber, wie viele in den letzten Jahren starben, liegen nicht vor. Dabei wäre das Zählen zumindest an so prominenten Orten wie İstanbuls Autobahnstrich an der E5 leicht, wo Reporter nach Unfällen oft schneller vor Ort waren als die Ambulanz oder die Gerichtsmedizin. Es versteht sich, dass im öffentlichen Bewusstsein Gewalt dort anfängt, wo Ungleichbehandlung angeklagt wird; wer sich wehrt, muss selbst schuld sein.

Druck ablassen (un-) möglich

Die Gesellschaft in der Türkischen Republik ist nicht homogen, auch wenn seit der Staatsgründung ihre Heterogenität im Wesentlichen zerstört wurde. Es sind die «Türken», die auf Nichttürken Druck ausüben, wie es sunnitische Muslime sind, die auf nicht-sunnitische Muslime und Nichtmuslime Druck ausüben. Allzu spürbar ist immer noch der Zwang, eine homogene Gesellschaft herzustellen, die nach westeuropäischem Vorbild aus einem «Volk» mit einer Religion und einer Sprache besteht. So fortschrittlich die Reformen unter Mustafa Kemal Atatürk waren, so fremd sind sie einem großen Teil der Bevölkerung noch heute. Die Demarkationslinien in punkto Akzeptanz/Ablehnung von Laizismus, Frauenemanzipation, Demokratisierung und vieler anderer Themen verlaufen dabei nicht nur zwischen Arm und Reich oder Stadt und Land. In der Konkurrenz mit den Kurden und Armeniern, mit dem EU-Beitrittsprozess, mit der Rolle des Militärs und der allgemeinen Menschenrechtssituation scheint die Trans-Gender-Frage, wenn überhaupt, erst sehr nachrangig Platz zu finden – auch innerhalb lesbischer und schwuler Zusammenhänge. Da sind westeuropäische Medien nicht anders gepolt als Menschenrechtsorganisationen in der Türkei.

Die Konstruktion von Maskulinität ist dabei untrennbar von einer gewissen Form der Nationalität und der Religiosität. In der Moschee vergewissert Er sich seiner Virilität nicht anders als im Staat, im Café, beim Wehrdienst oder im Fußballstadion. Der türkische Mann ist Muslim. Der türkische Mann ist Sunnit. Aber vor allem liebt der türkische Mann sein Vaterland. Er hat immer eine Ehre zu verteidigen; wer mag da im Einzelfall sezieren, ob es dann gerade die maskuline ist, die muslimische oder die türkische? In sein Selbstverständnis, das kaum Platz lässt für Andere, passen dabei weder Transfrauen noch Transmänner. Denn der türkische Mann muss vor allem eines können: sich kopieren, mehr werden. Kann er nicht zeugen – oder weigert sich gar, indem er sich kastrieren lässt –, kann er gar nicht Mann sein.

Ethnizität, Religion, Geschlecht, vor allem aber Geschlechtseindeutigkeit sind neben vielen anderen Merkmalen in den Köpfen der «normalen» Menschen nicht voneinander zu trennen, das sollte man sich stets aufs Neue klarmachen. Dass sich eine Lesbe mit ihrer sexuellen Identität herumschlägt, weil sie sich damit herumschlagen muss, heißt nicht, dass eine nicht-lesbische Frau das auch tut. Dieselbe Lesbe problematisiert ja eventuell auch nicht die Konstruktionsbedingungen ihres «Frau»-Seins auf die Art, wie es Transidente tun müssen. Dieser Identitäten-Marathon, den Menschen zeitlebens absolvieren müssen, die «anders» sind, betrifft die Zuschauer nicht in dem Maße. Auf das Thema dieses Artikels bezogen bedeutet das zum Beispiel, dass es dem Patriarchen vollkommen egal sein kann, wen er penetriert. Er ist die Herrschaft. Ihm gereicht selbst noch zum Vorteil, dass er seinen Kumpels erzählen kann, er besorge es sogar Geschlechtsgenossen.

Bist du schwul – oder Mann?

Wo nach westeuropäischen Identitätskonzepten Homosexualität attestiert werden müsste, braucht der türkische Mann sich keine Sorgen zu machen. Ganz ähnlich der Situation in den katholischen Mittelmeeranrainern entscheidet hier nicht das Geschlecht der Partnerin oder des Partners über die «sexuelle Orientierung», sondern die Rolle, die der Betreffende in der Interaktion einnimmt. Insertiver Analverkehr schadet einem Mann als Mann beispielsweise nicht. Seine Geschlechtsidentität bleibt unberührt. Anders rezeptiver Analverkehr: Wer sich penetrieren lässt, kann nicht Mann sein, dann doch eher Frau, schwul oder eben – realistischer betrachtet – … Loch.

Wer langsam den Eindruck bekommt, hier gehe etwas nicht mit rechten Dingen zu, weil doch Äpfel mit Birnen verglichen werden, irrt nicht. Und hat doch auch nicht Recht. Denn auch für das beginnende 21. Jahrhundert lässt sich konstatieren, dass selbst die überwältigende Mehrheit der «Schwulen» in der Türkei sich zunächst «im falschen Körper» fühlt. Denn wer als Mann Männer begehrt, ist nicht homosexuell, sondern «Frau». Transsexualität und Homosexualität werden praktischerweise gar nicht erst begrifflich differenziert.

Rosa und himmelblaue Ausweise

Vielleicht deswegen verwundert es kaum, dass viele zum Arzt gingen, sich operieren ließen, um dann qua Gerichtsbeschluss ihre gespeicherten Daten in diesem Punkt ändern zu lassen. Daran mochte sich auch lange niemand stören. Erst das neue Zivilgesetz hat in dieser Frage eine Gedankenpause ermöglicht. Allzu unreflektiert gingen vorher zwei Generationen in diesen irreversiblen Prozess, der die dichotomische Einteilung in rosafarbene und blaue Identitäten als Ausgangsbasis hat und mehr über den unwohlen Blick der Nicht-Transfrauen sagt als über die Transfrauen. Okşan Öztok von der «Plattform für menschenwürdiges Leben» (Ankara), der einzigen expliziten Transsexuellenorganisation des Landes, spricht von einer Vielzahl von Personen, die erst nach einer genitalanpassenden Operation gemerkt hätten, dass sie gar nicht im falschen Körper, sondern einfach in der falschen Gesellschaft gelebt haben. Viele, die eigentlich als Transvestiten hätten glücklich sein können, begingen Selbstmord.

Staatlicherseits wird heute verlangt, dass Bürger oder Bürgerinnen, die sich einer genitalanpassende Operation unterziehen wollen, persönlich einen Antrag bei Gericht einzureichen haben. Sie müssen ihr achtzehntes Lebensjahr vollendet haben, dürfen nicht verheiratet, müssen aber transsexuell sein. Eine «dauerhafte Fortpflanzungsunfähigkeit» (!) muss attestiert werden. Solche Berichte stellen Lehr- und Forschungskrankenhäuser dann tatsächlich auch aus. Eine «in Zweck und medizinischer Hinsicht entsprechende Operation» führt schließlich dazu, dass neben den geschlechtsspezifisch farbigen Personalausweisen auch alle anderen staatlichen, halbstaatlichen sowie privaten Dokumente umgetauscht werden können.

Dass dies nur der offizielle Teil der Prozedur ist, soll hier nicht verschwiegen werden. Denn wie bei Schwulen und Lesben ist der staatliche Umgang mit dem Thema sehr viel harmloser als der gesellschaftliche. Expertinnen schätzen die Zahl der wegen ihrer Geschlechtsidentität Verstoßenen auf weit über 90 Prozent der Fälle. Zum innerfamiliären Druck kommt noch die Umgebung hinzu. Was werden die Nachbarn und der weitere Familienkreis sagen? Kann es sich die Familie leisten, wegen der Geschlechtsidentität der Tochter oder des Sohnes isoliert zu werden? In einer armen Gesellschaft sind die Solidarität der Menschen und der Zusammenhalt untereinander wichtig – das bedeutet allzu oft jedoch auch Einmischungsrecht und gegenseitige Kontrolle.

Eigene Strukturen

Analoge Nachbarschafts- und Solidaritätsstrukturen wurden Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre teils auch unter Transvestiten und Transfrauen aufgebaut. Hatten die einzelnen Aktionen seit 1986/87 kein Kollektiv geschaffen, das politisch gegen die Anfeindungen und die Gewalt vorgehen konnte, gab es nun einen informellen Zusammenschluss: In der kleinen İstanbuler Ülkerstraße wohnten und arbeiteten siebzig Transfrauen und Transvestiten zusammen in einer Art Groß-Kommune. Die Beziehungen zur Nachbarschaft waren keineswegs ideal, aber auch nicht außergewöhnlich schlecht. Die Kleinunternehmer verdienten gut an den neuen Bewohnerinnen und die Kundschaft wusste, wohin sie gehen musste. Vor allem für Leute, die neu in die Szene kamen, war die Infrastruktur in der Ülkerstraße ein Paradies. Während damals außerhalb İstanbuls kaum eine oder gar keine Perspektive sichtbar war, gab es hier wenigstens eine privat organisierte Wohlfahrt: Wer krank war, wurde gepflegt, wer keine Wohnung hatte, konnte unterkommen, wer kein Geld hatte, bekam trotzdem zu essen.

Schon damals gab es enormen Druck seitens der Polizei, aber verstärkt wurde er erst im Zuge der Vorbereitungen zur UN-Konferenz Habitat II, zu der in kürzester Zeit das Stadtbild gesäubert werden sollte. Diesbezüglich waren die Bewohnerinnen der Ülkerstraße zwar nur eine der betroffenen Gruppen, aber eben eine, bei der besonders perfide Methoden angewandt wurden. Türen wurden eingeschlagen, die Nachbarschaft wurde angestachelt, die Bewohnerinnen zum Teil in Provinzstädte deportiert – oder es wurden ihnen die Haare abgeschnitten, was zum einen das Selbst- an das Fremdbild anpassen, sie andererseits aber auch ihrer Arbeitsgrundlagen berauben sollte. Am 26. Mai 1996 wurde am Eingang der Straße ein Tisch aufgestellt, der mit einer Nationalflagge bedeckt war. In Richtung der zerbrochenen Fensterscheiben und der Brandspuren brüllte die umstehende Gruppe von Polizisten: «Die Nachkommen von Fatih Sultan Mehmet sind doch keine Schwuchteln!» Neben dem Bezug auf die türkische Republik zeigt vor allem der Rückgriff auf Osmanische Geschichte das Spannungsfeld, innerhalb dessen die Auseinandersetzung mit Transsexualität stattfindet. Sultan Mehmet II. hatte Byzanz belagern lassen und die Stadt 1453 eingenommen. Dafür bekam er den Beinamen Fatih – «der Eroberer». Neben Militarismus und Heldentum stehen Verweise auf das Osmanische Reich in der Türkei allerdings immer auch im Verdacht, die damals unbeschadete Synthese zwischen Religion und Politik zu betrauern…

Dreizehn Transvestiten starben in jenem Jahr, nur wenige widerstanden und blieben unter erschwerten Bedingungen – der Rest zog in andere Viertel um und lebte wieder isoliert. Wenige nehmen die Kulturzentren von Lambdaistanbul und KAOS GL (Ankara) in Anspruch, denn einerseits leben die meisten Transsexuellen und Transvestiten wegen ihres Berufs nachts, und andererseits ist auch in solchen Räumen eine gewisse Transphobie nicht von der Hand zu weisen. Wo schon Schwule und Lesben Probleme haben, sich untereinander zu verstehen, obwohl sie in punkto Geschlechtseindeutigkeit wenigstens eine gemeinsame Basis haben, fällt es Schwulen wie Lesben schwer, mit Transsexuellen umzugehen, von denen sich die meisten als «heterosexuell» definieren.

Seit dem letzten Jahr erscheint in İstanbul eine Zeitschrift unter dem Namen Gacı, ein Fanzine, das von Transfrauen und Transvestiten gemacht und an Freundinnen und Verbündete weitergegeben wird. Es bleibt abzuwarten, ob sich dieses Projekt als Plattform etablieren wird, um wieder eine Transsexuellen-Bewegung zum Laufen zu bringen.

Exhibitionismus und Schamlosigkeit

Zu tun wäre neben den Bereichen Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt in erster Linie etwas gegen die Praxis der Polizei, die seit ein, zwei Jahren wahl- und ziellos Transvestiten und Transsexuelle aufgreift, wo sie möchte, egal, ob diese sich gerade in öffentlichen, halböffentlichen oder privaten Räumen aufhalten. Aufgrund eines bestimmten Paragraphen im neuen Strafgesetzbuch werden gegen die Opfer Geldstrafen zwischen 100 und 700 Neuen Türkischen Lira (etwa 60 bis 400 Euro) verhängt. Die Begründung: Sie seien «Exhibitionistinnen» und «betrieben Schamlosigkeit in der Öffentlichkeit». Der durchschnittliche tägliche Verdienst einer Sexarbeiterin liegt nach Aussage der Transsexuellen-Aktivistin Demet Demir bei etwa 60 Lira (33 Euro), wobei mit einer immens hohen Miete gerechnet werden muss (siehe dazu das ausführliche Interview mit Demet Demir auf den nachfolgenden Seiten). Dazu kommt immer auch ein täglicher Besuch beim Coiffeur. Im Endeffekt bewirken die Geldstrafen neben der Kriminalisierung also auch eine Prekarisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse – vor allem, da an dieselbe Person eine Strafe nach der anderen ausgestellt werden kann. Schließlich ist der Tatbestand in den Augen der Festnehmenden offensichtlich vollkommen irrelevant; es geht allein um die Geschlechtsidentität.

Während aufgrund des Drucks seitens der Europäischen Union die Haftbedingungen und die Behandlung in den Polizeirevieren deutlich besser geworden sind, findet auch Folter in der Türkischen Republik weiterhin systematisch statt. Nur haben sich die Orte nach draußen verlagert und gibt es andere Prozeduren. Mittlerweile müssen Menschen, die festgenommen werden, vor der Befragung ins Krankenhaus gebracht werden, um ihren Gesundheitszustand zu dokumentieren, damit später eventuelle Folterspuren besser erkannt werden können. Das hält die Behörden aber nicht davon ab, Menschen im Auto, auf der Straße, unter Brücken und auf Baustellen zu foltern – und dort ihrem Schicksal zu überlassen. Wer nicht offiziell verhaftet wurde, muss nicht ins Krankenhaus und hat es später sehr schwer, Anklage zu erheben, weil nicht einmal Aufzeichnungen einer Inhaftnahme vorliegen. Transvestiten und Transfrauen erfahren wie Cisfrauen (Cis = zugeordnetes Geschlecht und empfundenes Geschlecht sind identisch, nach: Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität) neben den «gewöhnlichen» Foltermethoden überdurchschnittlich oft sexualisierte Gewalt.

Flucht und Asyl

Vor einem Dasein unter diesen Bedingungen ins Ausland zu fliehen, ist eine der möglichen Optionen. Allerdings ist aus der Erfahrung und der Perspektive der Bundesrepublik zu sagen, dass die wenigen, die irgendwo akzeptiert werden, oft sehr enttäuscht sind, wenn sie in einem Lager wohnen müssen oder kein Bargeld erhalten. Aus dem erträumten Leben als Prinzessin wird selten etwas, denn allzu groß sind die Diskriminierungserfahrungen, die Flüchtlinge und Asylbewerber/innen in Deutschland wie in anderen westeuropäischen Staaten machen. Es sind auch schon Transvestiten nach Westeuropa geflohen, dort zu einem bärtigen Muslim geworden und entweder als Nationalisten oder als Religiöse wieder zurück in die Türkei gezogen.

Die Situation von Transidenten, die das Land nicht verlassen können oder verlassen wollen, ist in den letzten Jahren immer mehr zum Gegenstand sachlicher Debatten worden. Nicht nur die lesbisch-schwulen Organisationen in der Türkei haben damit angefangen, über das Thema zu sprechen, ohne Transvestiten und Transsexuelle von vornherein im beliebten Kürzel «LGBT» zu vereinnahmen – und damit unsichtbar zu machen. Es entwickelt sich ein Bewusstsein dafür, dass der T-Teil dieser Organisationen nie besonders ausgeprägt war, weder personell noch inhaltlich. Aus ökonomischen Zwängen, aber auch wegen interner Ausschlussmechanismen sind transidente Menschen in LGB-Strukturen wiederum zur Minderheit gemacht worden, obwohl sie es waren, die als besonders Sichtbare auch die Homosexuellen-Bewegungen ins Rollen brachten. Die neuere Entwicklung in der Türkei zeigt, dass Zusammenarbeit punktuell und langfristig möglich ist. Dass viele Transsexuelle auch in Frauenorganisationen oder in den politischen Bewegungen ethnischer Couleur mitarbeiten, zeigt zum einen, dass es längst nicht mehr so schlimm ist; es zeigt aber auch, dass die Geschlechtsidentität nicht das Einzige ist, um das herum sich Transidente organisieren möchten.

Transfrauen = Transmänner?

Transmänner scheinen zu verschwinden. Während der Recherche für diesen Artikel habe ich mit einigen Aktivistinnen der Transsexuellen-Bewegung in der Türkei gesprochen. Die Frage nach der Situation von Transmännern war Gegenstand eines jeden Gesprächs. Allerdings kam von allen Gesprächspartnerinnen der Hinweis, sie lernten immer mal wieder Transmänner kennen, diese würden aber nie Teil der Bewegung werden, sie würden sich sogar intensiv darum bemühen, ihre Spuren zu verwischen.

Transmänner wie -frauen sind konfrontiert mit einem Geschlechter-System, das anatomisch wie gesellschaftlich auf Eindeutigkeit Wert legt. Sowohl das individuelle Begehren als auch andere Ordnungen in der Gesellschaft gehen damit einher. Die Rolle der Tochter ist eine andere als die des Sohnes – jenseits der Rollen Eltern und Kind. Die Rolle des Ernährers ist eine andere als die von «Frau» und Kind. Affiziert sind aber auch unsere Ängste, Freuden und hohes beziehungsweise mangelndes Interesse an bestimmten Themen. Geschlechtsidentität ist – wie sie Teil unserer Selbstwahrnehmung ist – immer auch etwas, das unsere Wahrnehmungen vom Rest-Leben bestimmt.

Es steht zu vermuten, dass in einer solchen die Geschlechter stark trennenden Gesellschaft (samt praktischer Überbewertung des einen Geschlechts und symbolischer Aufladung des anderen) das Streben nach Maskulinität sozial akzeptierter ist als das Streben nach Femininität: Beim einen steigt man empor, beim anderen hinab auf der Machtleiter der Gesellschaft – und das freiwillig. Insofern ist das Verschwinden-Wollen von Transmännern eine nur allzu verständliche Sache.

Aus den Gesprächen im Vorfeld war allerdings auch klar herauszuhören, dass zum Beispiel das traditionelle Heiratsprozedere bei Transmännern nicht so einwandfrei funktioniert. Die Familie des Bräutigams besucht die Familie der Braut, man will um ihre Hand anhalten – und bekommt ein Nein, weil der dann ehemalige Zukünftige zeugungsunfähig ist. Es heißt, «so einer» könne keine Frau glücklich machen. Darüber hinaus ist aber aus zahlreichen mündlichen Berichten bekannt, dass Transmänner mit anderen im Café sitzen und Backgammon spielen.

Stress, Resignation und sicher zu einem guten Teil auch die Identifikation mit herkömmlichen Erwartungen und Vorstellungswelten gibt es fraglos auch bei Transfrauen. Ebenso können sie verschwinden – oder zumindest verschwinden wollen. Der Wunsch nach Rückzug in die Unsichtbarkeit traditioneller (gegengeschlechtlicher) Ehe ist vielen keineswegs fremd. Sie wollen besonders «weibliche» Mode tragen oder entscheiden sich bewusst für ein Kopftuch. Transfrauen können auch erwarten, dass häusliche Gewalt ein integraler Bestandteil von Partnerschaft sein muss. Es nimmt somit nicht Wunder, dass viele Transfrauen Partner haben, die sie missachten, schlagen oder berauben. Insofern ist das Leben zu Hause nicht wirklich anders als das auf der Straße…

Weitere Informationen zum Thema:
www.insancayasam.com (Transfrauen; Ankara)
www.lambdaistanbul.org (LGBT, İstanbul)
www.kaosgl.com (LGBT, Ankara)
www.gladt.de (LGBT, Berlin)

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