Koray Yılmaz-Günay
Kunst

Sterben ist geil, jeder sollte es tun. Eine Phänomenologie der ewigen Fragen und ihres Endes

Marmeladenbrote, Gott

Ich finde es nicht prinzipiell verwerflich, dass Menschen an höhere Gewalten glauben. Marmeladenbrote fallen ja tatsächlich immer auf die Seite, die den größeren Reinigungsaufwand verursacht. Warum nicht glauben, dass es da etwas Übermenschliches gibt, das die Dinge so sein lässt, wie sie nun einmal sind… Nennen wir es ruhig beim Namen: Die erste ewige Frage ist immer die nach «Gott».

Würde uns nicht von Kleinauf erzählt, dass es Gott gibt, würde vermutlich kaum jemand auf die Idee kommen, Gott zu erfinden. Also reicht Gott allein nicht aus. Es muss noch etwas geben, das sicherstellt, dass die meisten neuen Menschen, möglichst bald nach der Geburt, mit Problemen konfrontiert werden, die sie sonst nicht hätten: Steuern, schlechtes Gewissen, Schuldgefühle, soziale Kontrolle und vieles mehr. Gemeinhin wird dieser Komplex «Religion» genannt.

Drogen, Marx

Karl Marx wünschte sich bekanntlich, dass Religion zu einer Art Droge werde, damit das Volk beständig breit sein kann. Leider war Karl Marx nicht «Gott», er konnte weder Wasser in Wein noch Religion in Opium verwandeln. (Dies allein zu seinen praktischen Fähigkeiten. Sein theoretisches Vermögen steht hier nicht zur Debatte.) Religion ist ganz gut, weil sich ewig drüber reden lässt. Besser als Klimawandel.

Supermärkte, Bachmann

Religion ist aber auch um einiges besser als Anderes. Die Realität zum Beispiel. Welche Normalsichtigen wünschen sich nicht manchmal, eine Brille tragen zu dürfen, die sie immer abnehmen können, wenn die Wirklichkeit zu belastend wird. Es ist ihnen nicht vergönnt.

Kontaktlinsen vs. Brille ist dahingegen keine ewige Frage. Linsen lassen sich nicht so einfach abnehmen, und außerdem hat Ingeborg Bachmann nichts drüber geschrieben.

Religion ist da anders. Sie steht erst einmal jedem Menschen offen. Wie Supermärkte, die immer auch Fertigsuppen im Angebot haben. Fertigsuppen, die erst genießbar werden, wenn man sie durch irgendeine persönliche Note verfeinert. Manche rühren sie auf, womöglich noch in warmem Wasser, damit es besser klumpt, ohne etwas Eigenes dazu zu tun. Wie langweilig. Kein Wunder, dass solche Leute in der Regel SPD wählen. (Ihr kennt diesen Reim aus der Weimarer Republik? Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten! Scheint zumindest bald in die Kategorie ewiger Fragen aufnehmbar zu sein.)

BVG, Kommunisten

Besser als gar nicht wählen gehen, denken jetzt sicher einige. Aber es sind ja nicht alle aus der DDR oder haben aktive Erinnerungen an die nationalsozialistische Epoche. Ich gehe jedenfalls nicht wählen. «Die Revolutionären Kommunisten (BRD)» in Gestalt eines Mitgliedes ihrer selbst hatten mir einst ein Flugblatt in die Hand gedrückt, das die folgende These unter der BVG-Klientel verbreiten wollte: «Wenn Wahlen etwas verändern könnten, wären sie längst verboten!» Auch so eine ewige Frage. Jedenfalls hatte sie mich als überzeugten U-Bahn-Benutzer und politisch interessierten Jugendlichen sehr beeindruckt. Ich war damals aber Staatsbürger eines anderen Landes und hätte sowieso nicht Helmut Kohl wiederwählen dürfen, deswegen legte ich das Flugblatt da ab, wo ein Mensch mit Wahlrecht sich die Augen an der viel zu kleinen Schrift verderben konnte. So bin ich.

Aber ich bin kein Öko. Ich wollte definitiv nicht das Blatt recyclen. Der Revolutionäre Kommunist (BRD) hatte da einfach zu lange gestanden – es war wohl Winter – und ich hatte durch die Abnahme eines Flugblattes seine Mission verkürzt. Die Lessing-Lektüren waren entweder gerade abgeschlossen oder lagen noch nicht all zu lang zurück. Ich hatte Mitleid bewiesen. (Nächste ewige Frage:)

Mitleid, Rumbärbeln

Ich verliere ja eigentlich den Respekt vor Leuten, die (vor allem: mein) Mitleid erheischen wollen. Sie sind Opfer. Ich glaube nicht, dass ich ihnen helfe, wenn ich «nachempfinde», wie scheiße es ihnen geht. Ich kann es gar nicht, und könnte ich es, wäre es mir trotzdem egal. Leute die leiden, sind unerträglich. Sie sollten zu Hause leiden, bis sie sich selbst töten oder es ihnen besser geht. Oder einfach mal sagen: «Hilf mir mal, indem du das und das tust – oder lässt.» Dieses Rumgeweine indes erinnert mich so sehr an Bärbel Bohley, dass es weder schön noch gut, geschweige denn wahr sein kann.

Lösungen, Losungen

Weil ich das Flugblatt nur aus Mitleid mitgenommen hatte, habe ich dann vermutlich auch nie Versammlungen der Revolutionären Kommunisten (BRD) beigewohnt. Vielleicht verteilen sie deswegen heute keine Flugblätter mehr. Wahrscheinlich ist ihr einziges Basismitglied erfroren.

Na ja, und der Tod ist natürlich eine ganz eigene Frage unter den ewigen. Vielleicht die ewigste. (Wenn es das denn gibt. Das Rechtschreibprogramm meines Computers kennt diesen Superlativ jedenfalls nicht.)

Warum wollen Menschen länger leben? Damit sie nach 40 Jahren Nachgesetzt-Sein bei Vorgesetzten und 20 Jahren Erwachsenenwindeln die Gewissheit haben, jetzt werde es «nur noch» 120 Jahre so weitergehen? Super. Es sind doch die hässlichsten Monate und Jahre, die einem erspart bleiben, wenn man viel raucht, trinkt, auf der Überholspur (sowieso) schneller fährt und nicht Bio-Brot isst…

Ewige Fragen hören genau dann auf uns zu quälen, wenn unsere Endlichkeit erlischt. Wer keinen Bock hat auf Metaphysik, kann sich zurückziehen. Sterben ist geil, jeder sollte es tun.

Aber bis dahin gilt: weitermachen!

[Erschienen in PHALANX 2001, Schwerpunkt: «Ewige Fragen».]

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