Koray Yılmaz-Günay
Kunst

Beim Betrachten von Max Liebermanns «Simson und Delila» (1902)

Die Vorgeschichte kommt mir aus vielen Filmen des 20. Jahrhunderts bekannt vor: Shimshon, der einerseits sehr stark ist, andererseits aber durchaus als hyper-modern widersprüchlicher Charakter dargestellt wird, verliebt sich in Dlila. Dass das der Anfang von seinem Ende sein könnte, weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Denn Dlila lässt sich leider Gottes dazu überreden, Shimshon den Kopf zu verdrehen, um im Dienst der Herrschenden herauszufinden, woher seine immense Stärke und die Unverletzlichkeit kommen. Dlila ist V-Frau des Philister-Verfassungsschutzes!

Dann geht die Geschichte Schlag auf Schlag weiter. Dlila:

Vermelde mir doch, wodurch ist deine Kraft so groß?

Shimshon hat natürlich schon den einen oder anderen Spionage-Film gesehen (oder zumindest vorausgeahnt) und belügt sie erst einmal. Sie kennen sich noch nicht so lange – und seine Todessehnsucht hält sich in Grenzen. Dlila, die der VP-Führung beim Verfassungsschutz eine falsche Meldung überbringt, ist persönlich enttäuscht, als sie von der Lüge erfährt. (Obwohl sie sich ja moralisch auch nicht astrein verhalten hat…) Sie hatte jedenfalls gedacht, Shimshon würde ihr mehr vertrauen. Sie ist aber sehr professionell und lässt sich nichts anmerken:

Du hast mich ja genarrt, mir Lügen vorgeredet, jetzt vermelde mir doch: womit kann man dich binden?

Shimshon argwöhnt immer noch und lügt sie wieder an. Als es rauskommt, weil er nach wie vor lebt, denkt Dlila:

What the fuck???

Er hatte sie wieder belogen! Es droht ihr gänzlicher Gesichtsverlust beim Amt! Und dann passiert dasselbe gleich noch einmal. Sie fragt. Er lügt. Sie wird trotzdem weiter beschäftigt (vermutlich der Rechtsschutz der V-Leute-Gewerkschaft). Er lebt weiter (Gottes Gnade). Allerdings hat Dlila auch schon den einen oder anderen Film (vorher-) gesehen. Sie appelliert an Shimshons logisches Denken:

Wie kannst du sprechen: Ich liebe dich, und dein Herz ist nicht mit mir! Nun dreimal hast du mich genarrt, hast mir nicht gemeldet, wodurch deine Kraft so groß ist!

Na ja, und um ehrlich zu sein, ist sie auch ein bisschen penetrant:

Es geschah, als sie ihn mit ihren Reden bedrängte alle Tage und marterte ihn, dass seine Seele sich zum Sterben krampfte: er ermeldete ihr all sein Herz, er sprach zu ihr: Ein Messer ist über mein Haupt nicht gefahren, denn ein Geweihter Gottes bin ich vom Mutterleib an: würde ich geschoren, meine Kraft wiche von mir.

Das ist es also! Weil sie im Rahmen ihres Betriebswirtschaftsstudiums (Fern-Uni Gomorra) u.a. eine Hausarbeit über Compliance geschrieben hatte und überhaupt mit beiden Beinen auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stand, schickt Dlila schnell eine SMS ans Amt:

Er hat all sein Herz mir ermeldet.

Dann, in Shimshons Schlaf: Hausdurchsuchung ohne Gerichtsbeschluss, silberne Schere, schnipp-schnapp: Haupthaar ab – Shimshons Stärke weg!

Shimshon, der noch nicht wusste

dass ER [i.e.: Gott] von ihm gewichen war,

wacht auf, kämpft noch ein bisschen rum, aber die Freunde und Helfer überwältigen ihn.

Sie stachen ihm die Augen aus, sie brachten ihn hinab nach Gasa und banden ihn gefangen mit Doppelerz, er musste mahlen im Gefangenenhaus,

was damals als besonders entwürdigend galt, obwohl es noch keine Walzenstühle und auch keine Hammermühlen gab und also das Mahlen von Getreide selbst dem Mainstream als gesellschaftlich notwendig gelten musste.

Die Philister, ganz überzeugt von ihrem Erfolg, beachteten in der Folge Folgendes nicht: Shimshons Haar wächst weiter (durchschnittlich einen bis anderthalb Zentimeter im Monat). Während sie eines Tages arglos feiern, dass ihnen ihr Feind in die Hände gefallen ist, der so viele der ihren getötet und beachtliche Teile des Landes verwüstet hatte, betet Shimshon:

Mein Herr, DU, merk auf mich doch und stärke mich doch diesmal nur, o Gott, ich will Rache nehmen.

Gott, offenbar ein bisschen gelangweilt von der lame-en Party und auch sonst nicht so ein großer Freund der Philister, tut, worum er gebeten ward. Woraufhin Shimshon zwei tragende Säulen umschlingt, auf denen die Party-Location lastet. Das ganze Haus stürzt ein. Bilanz: Mit den Herrschaften drin und den einfachen Leuten auf dem Dach immerhin um die dreitausend Personen sterben –

der Toten, die er tötete bei seinem Tod, waren mehr, als die er bei seinem Leben getötet hatte.

Abspann: Schimschons Grab liegt zwischen Zora und Eschtaol, da wo sein Vater Manoach bereits beerdigt war. Dlilas weiterer Werdegang ist nicht überliefert. Vielleicht war sie, wie die meisten anderen, bei der Party, vielleicht nicht.

Moral von der Geschichte: erst mal keine. Aktualität: an den Haaren herbeigezogen.

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