Koray Yılmaz-Günay
Buchbeiträge

«Es gibt ein Bedürfnis nach ethnospezifischem Rückzug». Ein Gespräch mit Koray Yılmaz-Günay

Markus Bernhardt (2007): «Es gibt ein Bedürfnis nach ethnospezifischem Rückzug». Ein Gespräch mit Koray Yılmaz-Günay. In: ders. (Hg.): Schwule Nazis und der Rechtsruck in Gesellschaft und schwuler Szene. Bonn: Pahl-Rugenstein, Seiten 100–110.

Koray Yılmaz-Günay ist Sprecher des Berliner Vereins «Gays & Lesbians aus der Türkei» (GLADT) und Mitarbeiter der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin (MBR).

In den letzten Jahren haben sich auch innerhalb der Schwulenszene rassistische Ressentiments verstärkt. So war vom «arabischen Mob» die Rede, Menschen maßgeblich aus dem türkischen und arabischen Raum wurde ein nahezu genetisch vorhandener Hass auf Homosexuelle unterstellt und selbst schwule Neonazis wagten sich immer öfter aus der Deckung. Was ist Ihr Eindruck?

Mein Eindruck ist, dass das gesamte gesellschaftliche Klima sich verändert. Homosexuelle, und hier vor allem schwule Männer, gehören immer mehr zum Mainstream, was ja an sich nichts Schlechtes ist; das heißt nur, dass sie nicht mehr so stark aus nichtigen Gründen diskriminiert werden. Aber der Preis, der dafür offensichtlich gezahlt werden muss – und augenscheinlich auch gern gezahlt wird – ist eine «Normalisierung» auch in Fragen von Maskulinität, Nationalismus und Rassismus. Dass schwule Männer vor allem eben auch Männer sind, zeigt sich ja schon an ihrem Verhältnis zu lesbischen und nicht-lesbischen Frauen. Warum soll da der Aspekt «Deutschsein» nicht auch vollkommen unreflektiert von der Mehrheit übernommen werden?

Es gibt allerdings – wie überall – eine gewichtige Schwierigkeit, die es auch hier zu bedenken gilt. Wer definiert denn, was einen «Neonazi» ausmacht? Ab wann dürfen wir von «Rassismus» sprechen? Ich denke da vor allem an die etablierte Politik, die aus dem geplanten Zuwanderungsgesetz ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz gemacht hat. Ich denke da an die Fälle von Abschiebungen und damit verbundene menschliche Tragödien, was auch Lesben, Schwule und Transsexuelle betrifft. Ich denke da an den alltäglichen Rassismus, der auf der Arbeit, in der Schule, in der Nachbarschaft, in der Bar, im Darkroom, im Chatprogramm, in der Illustrierten usw. praktiziert wird…

Natürlich sticht es ins Auge, wenn jemand im Chatprofil von «arabischen Filzläuse-Verbreitern» spricht und sich im Recht und auf der Seite der Guten wähnt, weil er ein Tabu bricht, das überkommen scheint. Es sind nicht die drei, vier großen dicken Dinger im Jahr, die in der Zeitung stehen. Es sind die kleinen Sticheleien, Beleidigungen, Bedrohungen, Anmachen, die es im Alltag gibt und die eben aus der so genannten Mitte der Gesellschaft kommen. Alle wissenschaftlichen Erhebungen, die rassistische Einstellungen in der Bevölkerung messen, widerlegen die Rede von einem Neonazi-Problem – die unauffälligen Menschen wie du und ich sind das wirkliche Problem, weil sie das Klima prägen, in dem auch Rechtsextreme prima zurecht kommen.

Viele Homosexuelle scheinen jedoch die Debatten um den so genannten Krieg gegen den Terror zu nutzen, um rassistische Stimmungsmache zu betreiben. Die Berliner Selbsthilfeeinrichtung «Cafe PositHIV» setzte beispielsweise Übergriffe auf ihr Ladenlokal in den Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York. Was halten Sie von derlei Vergleichen?

Derlei Vergleiche sind natürlich absurd – und andererseits eben leider allzu nachvollziehbar. Es gibt diese feindliche Stimmung gegenüber Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern, warum sollte sie an Schwulen oder HIV-Positiven vorbei gehen. Die beziehen ihre Bildung ja meistens auch nur aus den Massenmedien, die alles in allem unisono ins selbe Horn blasen. Das verwundert mich eigentlich nicht.

Fühlen sich Lesben und Schwule, die aus der Türkei stammen, in der Homoszene ausgegrenzt? Was sind Ihre Erfahrungen?

Über Lesben kann ich nicht viel sagen, und «die» Schwulen aus der Türkei gibt es ja auch nicht. Aus meinen Erfahrungen in Berlin kann ich aber klar sagen, dass es ein Bedürfnis nach ethnospezifischem Rückzug gibt. Viele sind frustriert und meiden Schwulenbars, weil sie pauschal als Stricher oder Taschendiebe abgestempelt werden, andere schreiben ihre Chatprofile auf Türkisch, weil sie keine Lust haben, von Deutschen angeschrieben zu werden. Es ist nicht mehr außergewöhnlich, mit rassistischen «Beuterastern» konfrontiert zu sein. Ich habe allerdings den Eindruck, dass Asiaten und Schwarze es noch schwerer haben als Kurden oder Türken.

Nicht nur bei Lesben und Schwulen herrschen diverse Vorurteile bezüglich anderer Kulturen. Vor allem Menschen aus dem arabischen und türkischen Raum werden oft als «kulturell rückständig» angesehen und nicht selten pauschal zu religiösen Fanatikern (v)erklärt. Was ist zu tun, um solchen populistischen Allgemeinplätzen entgegenzuwirken?

Wenn das mal so einfach zu beantworten wäre… Es ist nicht so einfach, weil es sich dabei eben um Populismus handelt, um populäre Ansichten. Dabei sind Vorurteile meines Erachtens erst einmal nichts Schlechtes. Es gibt allerdings immense Unterschiede, was Vorurteile von Mehrheitsangehörigen und Vorurteile von Minderheitenangehörigen angeht. Es gibt nicht so viele Medien, Bars, Kneipen, Parteien, Gewerkschaften usw. Aber alle, die es gibt, sind in der Hand von weißen Deutschen. Das heißt, dass die Mehrheit mit ihren Vorurteilen Politik macht, und zwar ganz real. Als Minderheitenangehöriger ist das nicht so einfach. Ich denke, das Wichtigste wäre hier ein bewusster Umgang mit den Vorausannahmen, die man so macht. Wie gut das in der Realität geht, weiß ich allerdings nicht. Neuerdings nehmen sich Mehrheitsangehörige ja sogar regelmäßig das Recht zu bestimmen, was Rassismus sei. In der Regel ist dann nichts Rassismus.

Das Berliner Homo-Magazin Siegessäule hat mit seinem Titel «Türken raus!» vom November 2003 eigenen Angaben zufolge türkische Homosexuelle ermuntern wollen, zu ihrer Sexualität zu stehen und sich in ihrem Lebensumfeld zu outen. Was halten Sie von derlei Kampagnen?

Ich fand den Artikel zu dem Titelblatt sehr gut, das muss ich sagen. Die Bezeichnung „Kebabgehege“, die sich im Artikel findet, nehme ich von meinem Lob jedoch explizit aus. Wegen des Titelblatts selber habe ich mir aber auch schon die eine oder andere Frage selbst gestellt.

Erst einmal zum «Türken raus!»: Ich bin immer etwas skeptisch, was die Übertragbarkeit deutscher homosexueller Identitäten auf Menschen aus der Türkei oder anderen Ländern angeht. Schwule Identität ist ja nicht einmal in der deutschen Provinz so einfach lebbar. Ich glaube, dass Ethnizität und Sexualität mit einander verwoben sind, dass es also eine deutsche und eine nicht-deutsche Sexualität in Deutschland gibt. Dasselbe würde ich für die Geschlechtsidentität behaupten. Diese Identitäten werden, ob man es als Individuum will oder nicht, über die Sozialisation und die politischen, sozialen, kulturellen, juristischen Rahmenbedingungen maßgeblich geprägt. Ich würde also sagen, dass «männlicher, schwuler Türke» nicht so einfach zu vergleichen ist mit einem deutschen schwulen Mann. Man kann da nicht einfach das Türkische durch das Deutsche ersetzen und der Rest bleibt gleich. Mein Türkisch-Sein prägt mein Schwul-Sein wie mein Männlich-Sein mein Türkisch-Sein prägt usw. In diesem Sinn ist das Label «schwul» in Deutschland ein sehr deutsches Label, auch wenn das den deutschen Schwulen überhaupt nicht klar ist, weil ihr Deutschsein hier nicht erklärt werden muss. Sie haben den Luxus, ihre Ethnizität als Normalität zu leben, die sie nicht benennen müssen. Dieses Label hat aber seinen Grund in einer sehr spezifischen historischen, ökonomischen und anderen Kontextbedingungen, die zum Beispiel nicht meine sind. Insofern würde ich nicht davon ausgehen, dass das Titelblatt der Siegessäule lesbischen Migrantinnen oder schwulen Migranten geholfen hat, sich in ihrem oder seinem Lebensumfeld zu outen.

Und nun zu einer anderen Sache: Weniger theoretisch und weniger harmlos als «Türken raus!» fand ich die Nationalflagge der Türkischen Republik auf dem Titel. Dadurch wurde suggeriert, dass es in dem Schwerpunktartikel um Sachen gehen wird, die zu einem Ausland gehören. Ich hätte mich beispielsweise sehr gefreut, wenn dort eine schwarz-rot-goldene Fahne mit demselben Spruch abgebildet gewesen wäre. Das wäre wirklich eine «Provokation» gewesen – und das war ja wohl – laut Selbstaussage – die Intention.

Wie glaubhaft kann diese Intention denn überhaupt sein?

Ach, ich würde der Siegessäule gar nicht unterstellen, dass das böse gemeint war. Ich glaube, da hat jemand gedacht: «Hey, ich habe eine klasse Idee, das machen wir jetzt!» Wie gesagt, ich fand den dazugehörigen Artikel eigentlich ganz gut, wenn ich mich recht erinnere. Wollte die Siegessäule wirklich «Türken raus!» haben, hätten da ganz andere Sachen gestanden. Aber da haben ja gewissermaßen ausschließlich türkische und kurdische Lesben und Schwule gesprochen. Ich fand das schon bemerkenswert. Allerdings ist der Fauxpas mit dem Titelbild trotzdem bedenklich, denn er zeigt, wie unbewusst solche Sachen zu Stande kommen und wie wenig interkulturelle Sensibilität in so einer Redaktion herrscht. Das ist so ein Phänomen der Mitte, von der vorhin die Rede war – selten ist es wirklich «böse» gemeint.

Haben deutsche Homosexuelle überhaupt das Recht, Forderungen an Flüchtlinge und Migranten zu stellen?

Warum sollen sie nicht das Recht haben. Ich denke, alle haben das Recht, Forderungen aufzustellen. Ich glaube nur, dass Forderungen der Mehrheit gegenüber Minderheiten schnell paternalistische Züge annehmen können, egal ob das beabsichtigt ist oder nicht. Und das wirkt natürlich sehr abschreckend. Am Ende dienen diese Forderungen ja auch zu nichts Anderem als der Selbstbestätigung der Fordernden. Ich würde gerne eine kurze Geschichte erzählen, wenn ich darf, die mir in diesem Zusammenhang einfällt.

Bitte.

Als beim Berliner CSD im Jahr 2003 der Wagen unseres Vereins mit harten Gegenständen beworfen wurde und sich herausstellte, dass es sich bei den Tätern um Migranten handelte, gab der Lesben- und Schwulenverband ohne Rücksprache mit uns eine sehr scharf formulierte Pressemitteilung heraus, in der es hieß: «Migranten müssen sich dem Thema Homosexualität stellen». In kolonialistischem Duktus wurden dann auch Ursachen definiert und Lösungen angeboten. In diesem Fall glaube ich tatsächlich, dass es sehr anmaßend ist, dass deutsche Homosexuelle eine so bizarre Forderung aufstellen. Ich frage mich, wie der LSVD reagieren würde, wenn eine Migranten-Organisation ihn in dieser Tonlage aufforderte, sein Verhältnis zum Rassismus zu klären? Und da gibt es nun wirklich wenig, was der LSVD erzählen könnte. Er will ja eigentlich nur «Integration» fördern und Akzeptanz für Homosexuelle bei Migrantinnen und Migranten schaffen. Damit ist seine Mission erfüllt; die Probleme der Einwanderungsgesellschaft kommen von den rückständigen Migrantinnen und Migranten, die aufgeklärten weißen Männer vom LSVD hingegen bringen die Lösungen. Einmal, kurz, unverbindlich die eigene Position zu hinterfragen tut nicht Not.

Angeblich kommt es doch aber in den schwulen Ballungsräumen wie dem Berliner Bezirk Schöneberg immer wieder zu Übergriffen von Migranten auf Schwule.

Selbstverständlich gibt es Übergriffe, hauptsächlich von Jugendlichen bis ungefähr 25 Jahren. Homophobie ist total «normal» in dieser Gesellschaft, für Eingewanderte wie für Alteingesessene. Aber es gibt keine – gar keine – sauberen Statistiken zu antischwuler Gewalt. Niemand weiß wirklich etwas über die Tatmotive, die Zahl der Fälle oder die Zusammensetzung der Täterschaft. Ich weiß nicht, ob das «Schwule Überfalltelefon» hier in Berlin das noch tut, aber früher haben sie die Opfer gefragt, was sie dächten, wo der Täter herkommt. Und wenn das Opfer dachte, der Täter sei Türke, kam in die Statistik «Türke». Anhand dieser und anderer Erhebungsmethoden kamen dann dubiose Statistiken zu Stande, die auf wenig mehr als ethnisierenden Zuschreibungen der Opfer fußten und dankbaren Absatz in den Medien fanden. Das hat, denke ich, viel mit dem Blick auf Migrantinnen und Migranten zu tun. Es hat damit zu tun, als was man die Täter identifiziert, wenn man sie sieht. Es ist sehr einfach, bei Migrantenjugendlichen die ethnische Brille aufzusetzen, aber vielleicht sind die bevorzugten Wohn- und Ausgehgegenden schwuler Männer eben auch Wohngebiete von Unterschichtangehörigen, die – im Fall Nordschönebergs und Neuköllns – eben Migranten sind?

Ich bilde mir ein, dass man viel gewinnen und wenig verlieren würde, wenn man Homophobie als soziales statt als ethnisches Problem sehen würde. Dann würden plötzlich vielleicht Bezirke, Ursachen und Erscheinungsformen antischwuler Gewalt tatsächlich vergleichbar – und wir kämen alle einer Lösung näher. Wenn man sich Heitmeyers Untersuchungen zu «Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit» über die Jahre anschaut, sieht man, wie beängstigend weit homophobe Einstellungen verbreitet sind.

Das meiste sind leider eben nur Mutmaßungen, da es wie gesagt keine seriösen Statistiken oder Forschungen zu Übergriffen und tatsächlicher Gewalt gibt.

Schwule Medien haben in den letzten Jahren viel über türkische Lesben und Schwule berichtet. Viele Forderungen sind erhoben worden, viele Erklärungsmuster für Schwierigkeiten bezüglich eines friedlichen Zusammenlebens wurden präsentiert. Hat überhaupt einmal jemand versucht, mit Ihrem Verein ins Gespräch zu kommen beziehungsweise eine Zusammenarbeit angeregt?

Selten. In der Regel sind es Journalisten, die zu uns kommen, die einen Auftrag bekommen haben und in möglichst kurzer Zeit möglichst herzzerreißende Lebensgeschichten hören und wieder gehen wollen. Deswegen werden wir immer skeptischer, wem wir zu welchem Thema auch immer Interviews geben sollen. Die Richtung ist meistens am Anfang klar: der Islam. Alle wollen sie wissen, was die Religion zur Homosexualität sagt. Und selbst wenn wir immer wieder sagen, dass nicht alle Menschen aus der Türkei muslimisch sind und dass vor allem wir keine religiöse Organisation sind, immer wieder geht es zurück zu diesem Thema – und das nervt. Wir sollen bitte schön immer Opfer sein – und die im Vorfeld schon klare «Ursachenforschung» bestätigen, wonach alles immer irgendwie mit der rückständigen Religion zu tun hat. Deswegen blocken wir oft Gespräche ab, obwohl Leute mit uns «ins Gespräch» kommen wollen. Und dann kommen auch schon mal so skurrile Sachen heraus wie: Wir würden die Menschenrechte relativieren oder die Schwulenbewegung spalten wollen…

Im Gegensatz zu anderen Homosexuellen-Gruppen, hat sich GLADT immer gegen Rassismus, Antisemitismus und Homophobie engagiert. Ist es nicht zumindest dreist von manchen Deutschen, die sich für derlei Themen keinen Pfifferling interessieren, Sie aber in puncto Menschenrechte belehren zu wollen?

Wir müssen ja gewissermaßen die Situation, in der wir uns befinden, als Ganzes betrachten und können gar nicht anders, als antirassistisch zu sein und zugleich gegen Sexismus, Homophobie und Antisemitismus oder andere Diskriminierungen. Wir sind nie nur lesbisch oder schwul. Wir sind zumindest immer auch Migrantin oder Migrant. Darüber hinaus kommen bei vielen noch Sachen wie Diskriminierung aufgrund der Religion oder einer Behinderung oder eines anderen Merkmals zum Tragen. Lesben werden ja auch als Frauen zusätzlich – und anders – noch einmal diskriminiert. Als weißer deutscher (post-) christlicher Mann muss man sich nicht so viele Gedanken machen über die Entstehung der eigenen Meinungen, man kann einfach damit hausieren gehen und hoffen, dass es einem irgendjemand abkauft. So weit ich weiß, hat der Diskurs zum Rassismus schon vor vielen Jahren in der Lesbenbewegung Fuß gefasst – bei den Schwulen müsste man vermutlich auf das Mikroskop zurückgreifen.

Homophobie ist keine Frage der Herkunft. Sie ist in der Bundesrepublik genauso verbreitet wie in allen anderen Ländern auch. Was könnten Konzepte sein, Homosexuellenfeindlichkeit in der Bundesrepublik zurückzudrängen?

Wenn die Antwort einfacher wäre, hätte bestimmt schon jemand einen Preis dafür bekommen… Ich denke, dass die Schwulenemanzipation sich verselbständigt hat, und ich bin überzeugt, dass das kein guter Weg ist. Es sollte viel mehr mit Lesben und nicht-lesbischen Frauen zusammengearbeitet werden, um bleibende Lösungen zu entwickeln. Wahrscheinlich muss man schon im Kindergarten ansetzen, die starren Mädchen- und Jungenbilder zu hinterfragen, die wieder stärker in Mode kommen. Solange nicht das Patriarchat abdankt, was neben der binären Zweiteilung in Frauen und Männer auch noch spezifische Rollen für diese Geschlechter und eine entsprechende Hierarchie zuschreibt, werden Homosexuelle nie frei sein können von Ausgrenzung und Gewalt – von Transsexuellen und Intersexuellen ganz zu schweigen.

Darüber hinaus denke ich, dass in sehr vielen Köpfen von Lesben und Schwulen eine Menge Homophobie und Transphobie steckt, die es erst einmal abzubauen gilt. Wenn selbstbewusste Homosexuelle ihre Sache vertreten, kommt sicher etwas Anderes heraus als «Wir wollen doch auch nur heiraten und Kinder kriegen, ganz normale Menschen sein; warum mögt ihr uns denn nicht?»

Wie stellt sich die Lebensrealität türkeistämmiger Lesben und Schwuler in der Bundesrepublik überhaupt dar?

Pauschal lässt sich das sicher nicht beantworten, man müsste gescheiter Weise von Homosexualitäten und Ethnizitäten sprechen, um all das zu beschreiben, was der Fall sein kann. Es gibt in der Gesellschaft der Türkei – und so auch hier – eine wahnsinnige Bandbreite, was Lebensentwürfe angeht. Gerade für Menschen, die nicht heterosexuell sind. Was aber alle eint, ist – glaube ich – die Erfahrung, mindestens doppelt in einer Minderheiten-Situation zu sein. Wenn man sexuell und ethnisch in der Minderheit ist, prägt das die Wahrnehmung von sich selbst und der Umwelt. Unser Selbst entsteht auch durch die Ablehnungen in der deutschen wie in der türkischen oder kurdischen Gesellschaft. So lernen wir, in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedliche Teile unseres Selbst zu zeigen und andere Teile zu verstecken. Wir sind quasi fleischgewordene Strategiespiele. Wenn wir mit Lesben oder Schwulen zusammen sind, kehren wir die «ethnische» Seite vor, wenn wir mit Migrantinnen und Migranten zusammen sind, die homosexuelle. Wir müssen uns permanent durchschlagen und lernen so, strategisch mit unseren Identitäten umzugehen. Quasi spielerisch lernen wir, dass es diese starren Identitäten wie beispielsweise Kurdisch-Sein, Lesbisch-Sein usw. gar nicht gibt. Es sind vielmehr die Umstände, die uns zu dem machen, was wir in dem Augenblick dann gerade sind.

Was könnten deutsche Lesben und Schwule leisten, um homosexuelle Migranten zu unterstützen?

Was ich für die Schwulenszene immens wichtig fände – nicht nur im Hinblick auf lesbische Migrantinnen und schwule Migranten – wäre eine allgemeine Diskussion über den eigenen Standort. Das würde sicher nicht ohne ideologische Verhärtungen gehen und auch über Spaltungen und neue Zusammenschlüsse, aber ich denke, einige Fragen müssen geklärt werden. Der Berliner CSD sollte im Jahr 2006 unter dem Motto «Einigkeit und Recht und Freiheit» stehen. Ich weiß nicht, ob es Eingeborenen auch so geht, aber mir schließt sich die Fortsetzung der Strophe gleich an. Wer auf dem CSD Forderungen «für das deutsche Vaterland» aufstellt, meint ganz sicher nicht mein Recht und meine Freiheit, verlangt von mir aber, seltsamer Weise, Einigkeit. Auch hier bin ich sicher, dass jemand mit bestem Wissen und Gewissen – und vor allem: bei Bewusstsein – entschieden hat. Diese «Normalität», die sich da einen weg bahnt, schwant mir als Gefahr. Es sind nicht nur die schwulen Rechtsextremen oder die rechtsextremen Schwulen – es sind die gewöhnlichen Engagierten. Wäre übrigens neben der Lesbenberatung in Berlin nicht auch die Siegessäule gegen dieses absurde CSD-Motto gewesen, wäre es nie zu «Verschiedenheit und Recht und Freiheit» abgeschwächt worden.

Darüber hinaus muss dringend mal jemand anfangen, darüber zu sprechen, wie man mit diesen so genannten Fetischen umgehen soll. Ich meine damit nicht mehr nur weiße Schnürsenkel an Springerstiefeln. Es sind mittlerweile auch verbotene und an der Grenze zum Verbot stehende Symbole und Klamotten-Marken, die Reichskriegsflagge, SS-Uniformen oder Leichenwagen aus KZs in Chat-Profilen zu sehen.

Welche Aufgaben stehen Lesben und Schwulen im Kampf gegen rassistische Ideologien in ihrer eigenen Szene bevor?

Lesben und Schwule – und vor allem die Projektelandschaft – müssen lernen, dass Diskussionen anstehen, die nur zunächst nicht selbstverständlich scheinen, aber selbstverständlich geführt werden müssen. Ein paar Themen haben wir im Gespräch ja umrissen. Darüber hinaus müssen sich staatlich bezuschusste Projekten im Sinn einer Kundenorientierung daran messen lassen, ob und wie gut sie tatsächlich andere Zielgruppen erreichen, als die gesunden, weißen, christlich sozialisierten Mittelschichtsangehörigen. Nicht zuletzt ist – wie bei anderen gesellschaftlichen Gütern und Orten auch – eine an der heutigen Bevölkerung orientierte Repräsentanz von Minderheitenangehörigen notwendig. Solange diese Öffnungsprozesse aus sich warten lassen, wird es Kampagnen «In unserem Namen» geben. Diese Kampagnen werden aber nicht wirklich in unserem Namen stattfinden…

Vielen Dank für das Gespräch.

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