Koray Yılmaz-Günay
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Institutioneller Rassismus – Bereich Bildung

Nuran Yiğit, Koray Yılmaz-Günay (2011): Institutioneller Rassismus – Bereich Bildung. In: Migrationsrat Berlin-Brandenburg (Hg.): → Institutioneller Rassismus. Ein Plädoyer für deutschlandweite Aktionspläne gegen Rassismus und ethnische Diskriminierung. Berlin: → Migrationsrat Berlin-Brandenburg, Seiten 18–19.

5. Institutioneller Rassismus in gesellschaftlich relevanten Einrichtungen
5.1 Institutioneller Rassismus – Bereich Bildung

Schlechtere Bildungsverläufe bei Kindern und Jugendlichen of Color werden häufig auf außerschulische Aspekte zurückgeführt. So wird auf ihr Einreisealter – respektive die Migrationserfahrung der Eltern oder Großeltern – geschaut, Möglichkeiten der Eltern, den Schulerfolg zu unterstützen, werden untersucht; es wird häufig darauf gezielt, Kenntnisse über die unterschiedlichen Bildungsinstitutionen zu vermitteln (etwa: Rolle der Lehrkräfte) und zur Teilnahme am Schulgeschehen zu motivieren (etwa Elternabende oder -sprechtage). Zahlreiche Projekte versuchen, die Beteiligung am Schulalltag zu erhöhen und damit eine Förderung von Kindern of Color zu verbessern.

Innerschulische Gesichtspunkte treten demgegenüber häufig in den Hintergrund. Obwohl die Schulleistungsuntersuchungen der OECD («Pisa-Studien») seit mehr als zehn Jahren auf systematische Ausschlussmechanismen in den Bildungssystemen der Bundesländer verweisen, bleiben die Organisation von Schule als Bildungsort und ihre Ausstattung, aber auch die Qualifikationen der Lehrenden und Erziehenden sowie didaktische und methodische Fragen außer Betracht: Vor allem die frühe Trennung der Bildungswege und deren starke Differenzierung begünstigt die institutionelle Schlechterbehandlung von Kindern und Jugendlichen of Color. Es sind oft wohlmeinende Schulen und Lehrkräfte, die aufgrund der Anlage der Curricula und des Bildungssystems als ganzem Entscheidungen treffen (müssen), die das Abschneiden von Kindern und Jugendlichen of Color objektiv negativ beeinflussen (Einteilung in ethnisch homogene Schulklassen, Notenvergabe, fehlende Anerkennung von Mehrsprachigkeit etc.).

Darüber hinaus kommt es aber auch vor, dass Kinder und Jugendliche of Color wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Flüchtlinge, Rom_nja, Schwarze, Muslim_innen usw.) diskriminierende Sprache und Umgangsweisen nicht nur von anderen Kindern und Jugendlichen, sondern auch von Lehrkräften erfahren. Ein Beispiel soll dies illustrieren:

An einem Oberstufenzentrum diskriminiert eine Lehrerin im Unterricht einen Schüler, durch eine Beleidigung aufgrund seiner muslimischen Herkunft: «Gehen Sie zu Ihrem Allah, Mohammed – oder wo immer Sie auch hingehören – zurück». Der Schüler und seine Klasse beschweren sich und verlangen eine Entschuldigung. Die Lehrerin lässt sich auf eine Diskussion nicht ein und sagt: «Was wollen Sie jetzt machen? Mir auflauern oder meine Reifen zerstechen?» Mündliche und schriftliche Beschwerden durch die Klassensprecher_innen beim Klassenlehrer und bei der Abteilungsleiterin bleiben ergebnislos. Nach zwei Wochen protestieren ca. zehn Schüler_innen vor dem Lehrer_innen-Zimmer. Die Polizei wird gerufen. Beim Einsatz wird ein Polizist Zeuge, wie ein Lehrer zum Klassensprecher sagt: «Du bist XY? Gut, dann sehen wir uns bei der Prüfung wieder!» Diese Aussage wird später von dem Polizeibeamten schriftlich bestätigt. Weitere Gespräche und Interventionen des → ADNB bringen keine zufriedenstellende Klärung. Die Schüler_innen empfinden keine Neutralität in den Gesprächen, sondern Parteilichkeit für die Lehrerin. Im Ergebnis ist die Klasse das Problem: Die Schüler_innen seien unruhig und aggressiv. Deswegen wird ein Experte eingeladen, um der Klasse etwas über ihre Migrationsgeschichte zu erzählen. Eine Entschuldigung bleibt aus. Die Schüler_innen ziehen sich resigniert zurück.

(Beschwerde dokumentiert durch das Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des TBB, →  ADNB)

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, einen effektiven Rechtsschutz vor Diskriminierung im Schulgesetz zu verankern, der Betroffene und Angehörige ein Beschwerderecht und Anspruch auf Beseitigung und Unterlassung zusichert. Auch müssen Beschwerdeweg, Beweislastregelung, Sanktionsmöglichkeiten, Maßregelungsverbot u.ä. festgeschrieben und für alle transparent sein, um Diskriminierungsschutz auch praktisch an den Schulen etablieren zu können.

Unter dieser Voraussetzung könnten sich Betroffene im konkreten Fall auf das Schulgesetz berufen und wirksam gegen Diskriminierung vorgehen. Der Vorgang müsste einen formalen Weg gehen und wäre nicht der Willkür oder dem Ermessen von Einzelpersonen unterstellt. Verlauf und Ergebnis können anonym dokumentiert, zentral gesammelt und veröffentlicht werden, um ein Einblick in Realitäten in Schulen zu gewinnen und evtl. weitere Maßnahmen einzuleiten (z.B. Erforschung von rassistischem Mobbing (Bullying) an Schulen, Sensibilisierungsmaßnahmen, Stärkung von Betroffenen).

Kinder und Jugendliche of Color müssen sich angstfrei beschweren können; es muss wirksame und abschreckende Sanktionen gegen Lehrkräfte und Erziehungspersonal geben, die eine gelebte Antidiskriminierungskultur an Bildungseinrichtungen entstehen lassen.

Pädagogisches Personal ist nicht mehr und nicht weniger rassistisch als andere Berufsgruppen. Und dennoch kommt ihm in bedeutsamen Sozialisationsinstanzen wie Kindertagesstätten und Schulen eine unermesslich wichtigere Funktion zu als anderen Personen, mit denen Kinder und Jugendliche zu tun haben. Unter anderem auch in den Interaktionen mit Erziehungs- und Lehrpersonal wird der Grundstein gelegt für ein rassismus- und diskriminierungsarmes Leben in unserer Gesellschaft. Daher ist es besonders wichtig, die institutionellen Voraussetzungen für ein Erziehungs- und Schulsystem zu schaffen, in dem es nicht in erster Linie vom Wohlwollen des pädagogischen Fachpersonals abhängt, welche Chancen jemand hat. Der Ebene der Lehrer_innenausbildung bzw. -weiterbildung kommt eine besondere Bedeutung und Dringlichkeit zu. Der Umgang mit Diskriminierung hängt wesentlich davon ab, dass Lehrpersonal eigene Sozialisation, gesellschaftliche Gruppenzugehörigkeiten und entsprechende Machtasymmetrien (er)kennt und in der Interaktion mit Schüler_innen und Eltern bewusst reflektiert (Kommunikation, Notenvergabe, Schulempfehlung, Mehrsprachigkeit, Mobbing). Die Ebenen der Auseinandersetzung sollten dabei über die Verflechtung von Rassismus hinausgehen und Weiß-Sein, Gender, Heterosexismus, Religion, Homophobie und Adultismus beinhalten.

Von der begrifflichen Ebene («Migrationshintergrund», «nicht-deutscher Herkunft» bzw. «nicht-deutscher Herkunftssprache») über die Zusammensetzung von Schulklassen sowie das Beschwerdemanagement und das Meldesystem bei Gewaltvorkommen bis hin zur Aus- und Weiterbildung und dem benutzen (Erziehungs-, Unterrichts-) Material und den Curricula ist eine kritische Durchsicht notwendig, die im Idealfall als integrierte Strategie mit dem politischen Rückhalt der Bildungsverwaltung auf den Weg gebracht werden kann.

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