Koray Yılmaz-Günay
Tugendterror

Re: «Kommunismus»

Was spricht dagegen, «Kommunismus» zu hören und reflexartig an «Gewalt» und «Unterdrückung» zu denken? Massen-Umsiedlungen, Einkerkerungen, Prozess- und Lager-Unwesen? Morde im Namen ominöser «Säuberung»? Miefige Arbeits-, Wohn- und sonstige Lebensweisen? Verbote von Sprachen und/oder der Ausübung von Religiosität? Autoritärer Unterricht und autoritäre Unterrichtung? Ein-Mann-Shows, die mehr als ein Jahrzehnt zu lang gedauert haben? Oder die Anmaßung von Männer-Cliquen, die alles besser wussten als der Rest der Welt? Die reale Ächtung von Lebensweisen und Lebensentscheidungen, auch wenn sie formal nicht illegal waren? Die schonungslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die Sorglosigkeit gegenüber den tatsächlichen Kosten des «Fortschritts»? Die Degradierung ganzer Bevölkerungen im Globalen Süden zu Kanonenfutter, weil der Kalte Krieg im Norden nicht wärmer werden sollte? […] […] […].

Es spricht nicht so viel dagegen, finde ich. Im Gegenteil. Selbstverständlich fanden solche Sachen im Kontext akuter Kriegsdrohung oder der System-Konfrontation statt, wegen nachholender Entwicklung und/oder im Rahmen der Entkolonialisierung oder als soziale Bewegung gegen ein staatliches System, das über alle Formen und Mittel der Herrschaft verfügte. Es war nirgends ein Wünschdirwas, mit dem «Kommunismus» begann. Er musste erkämpft werden. Trotzdem war jeder Versuch, die Gesellschaft der Zukunft bereits in der Gegenwart zu verwirklichen, mit Gewalt und vielen anderen Hässlichkeiten verbunden.

Ich weiß nicht, was es wirklich bedeutet, dass #kommunismus bei Twitter «trendet» (und es interessiert mich auch nicht, um ehrlich zu sein), aber offensichtlich hat ein Interview, das Elisa Aseva gegeben hat, zu einem Shitstorm gegen sie geführt, weil jetzt Hinz und Kunz, die in der Schule gut aufgepasst, bei N24 eine Doku geguckt, beim Springer-Verlag einen Arbeitsvertrag oder bei der FDP ein Mitgliedschaftsformular unterschrieben haben, ein immenses Interesse am «Kommunismus» und seinen fürchterlichen Auswirkungen entwickelt haben.

Offenbar muss selbst in einer Zeit, in der Kommunismus bei ungefähr 0,2 Prozent der Bevölkerung im Trend liegt, bewiesen werden, dass FreiheitGleichheitGeschwisterlichkeit als Fundament des Bestehenden keinen Preis hatten und haben, der mit «Gewalt» sich beschreiben ließe. Kein legaler Zugang zu Waffen, während das Menschenrecht auf Gesundheit verzichtbar ist. Keine legale (früher) bzw. geduldete (heute) Kinderarbeit, keine Jahrhunderte lang dauernde (und bis heute anhaltende) Kolonialisierung der Welt, keine Versklavung, kein Klimawandel, keine Konzentrations- und Vernichtungslager, keine Vernichtung von Lebensmitteln, um ihren Weltmarktpreis stabil zu halten bei parallel stattfindendem Hunger von fast 200 Millionen Menschen, keine «Frei»-Handelsabkommen der EU, die systematisch zur Vernichtung von Lebensgrundlagen im im Globalen Süden und zum billigen Export bei «uns» führen, während Leute, die deswegen flüchten, im Mittelmeer ersaufen oder im LKW ersticken. Keine obsessive Suche nach Menschen, die in einer Pandemie und während Kontakt- und Reisebeschränkungen aus dem Ausland geholt werden müssen, weil ohne Spargel es sich nicht leben lässt (und nur für ganz wenige: wegen Spargel). Keine De-facto-Aushebelung des Anwerbestopps für Gastarbeit, damit die viel billigere häusliche Pflege durch Menschen (meist Frauen) aus dem Ausland überhaupt möglich ist. Keine verweigerte Anerkennung von Genoziden. Keine Auslassung ganzer Bevölkerungsgruppen im Zensus, weil die Betreffenden – «leider» oder egal – gar nicht als Menschen «zählen», keine Auslöschung indigener Bevölkerungen. Keine Friedrich-Naumann-Stiftung, die den Staatsstreich in Honduras organisiert und finanziert und diplomatisch absichert. Keine Geschäfte mit Apartheid-Südafrika, obwohl sich so hervorragend billig dort hätte produzieren lassen. Keine Regime Changes in (ehemaligen) Kolonien, die sich von der entkolonialisierten, aber weiterhin sehr realen Abhängigkeit von Frankreich lösen wollen. Keine Aufregung über Ahmadinejads Aussage: «Es gibt keine Homosexuellen im Iran» (stattfindend in einem Land, in dem parallel «Es gibt keine Folter in den Lagern, die wir im Ausland eigens fürs Foltern einrichten» zum Wesen von FreiheitGleichheitGeschwisterlichkeit gehörte und deswegen schon irgendwie okay war). Keine Schwangerschaftsabbrüche, wenn beim Kind allzu große Abweichungen von der Norm «befürchtet» werden, wo sonst Schwangerschaftsabbrüche bäh sind und sonst gar nicht oder nur nach Rücksprache mit einer kirchlichen Beratungsstelle stattfinden sollen. Keine «Arbeitsbedingungen» in Bangladesch, die zur Normalität von Schlüppern für 50 Cent bei «uns» führen, kein Racial Profiling, keine Folter, keine Gewalt gegen antifaschistische Demonstrierende durch die Polizeibehörden, während alte und neue Nazis die Freiheit von MeinungKunstWissenschaft verteidigen, weil das, was die tun, offenbar wirklich nur MeinungKunstWissenschaft ist. Keine seit Jahrhunderten andauernde Ausbeutung von Nicht-«Arbeit» (vor allem von Frauen, die «Tätigkeiten» im Haushalt, in der Erzeugung und bei der Erziehung des Nachwuchses, in der Pflege und sonst in der Reproduktion leisten). Keine Duldung von informalisierter Arbeit, die von Millionen geleistet wird – weil sie geleistet werden muss –, nur ohne KrankenRentenPflegeVersicherung, eine Garantie auf Bezahlung, Urlaubsanspruch oder Lohnfortzahlung im Fall von Krankheit. Keine Überwachung, gar keine Repressionen, alles total laissez-faire bei uns. Gar keine Brechmitteleinsätze, Isolationshaft, Abschiebungen in den sicheren Tod. Keine Steuerschlupflöcher, Steuervermeidung, Steuererlasse für multinationale Konzerne. Keine Exporte von Waffen, auch von Massenvernichtungswaffen. Keine […] […] […].

Der Kapitalismus, der das Gegenteil vom «Kommunismus» sein soll (was an sich schon ein «interessantes» Fehlurteil ist), hat einen Preis. Viele Preise. Sie waren sehr hoch, sie sind sehr hoch. Sie werden sowohl von Menschen in anderen Gegenden der Welt als auch von Menschen hierzulande bezahlt. Nicht als Ausnahme, nicht als «Panne» oder aus «Gier» von einzelnen, sondern weil Kapitalismus etwas ist, das solche Dinge notwendig macht. Jede Definition von «Gewalt» (wirklich jede, die ich kenne) passt auf eine Vielzahl der Merkmale und Auswirkungen von «Kapitalismus».

Ich wünschte, das würde mal trenden.

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